«Basel Nazifrei»: Richter:innen geraten in Bedrängnis

Nr. 24 –

Wegen horrender Strafen sorgten die «Basel Nazifrei»-Prozesse schweizweit für Empörung. Nun sind Gerichtsprotokolle aufgetaucht, die weiter in Zweifel ziehen, dass die Verfahren fair waren.

Die zentrale Frage, die durch die aktuellen Enthüllungen rund um die «Basel Nazifrei»-Prozesse aufgeworfen wird, lautet: Ab wann gefährdet der Austausch unter Richter:innen vor einer Prozessreihe die richterliche Unabhängigkeit?

Die «Basel Nazifrei»-Prozesse gehen auf den 24. November 2018 zurück. Damals fand beim Messeturm eine Gegendemonstration zu einer Kundgebung der rechtsextremen Pnos statt. Der Protesttag war durch ein brutales Eingreifen der Polizei gekennzeichnet, die ohne erkennbaren Anlass Gummischrot auf die Gegendemonstrant:innen feuerte und nach der Eskalation zahlreiche Demoteilnehmer:innen verhaftete.

Die Strafen, die das Basler Strafgericht in rund vierzig Verfahren schliesslich aussprach, waren grotesk hoch. So wurde etwa eine Frau, der nur die passive Teilnahme an den Ausschreitungen nachgewiesen werden konnte, zu acht Monaten unbedingt verurteilt.

Ein «interner Meinungsaustausch»

Bereits vor zwei Jahren gab es Hinweise darauf, dass am Basler Strafgericht vor der Prozessreihe heikle Unterredungen stattgefunden hatten. Darüber wurde die WOZ von einem ordentlichen Richter des Strafgerichts informiert (siehe WOZ Nr. 15/21).

Nun sind Protokolle an die Öffentlichkeit gelangt, die die Unterredungen bestätigen. Am 20. August 2020 setzten sich sechs in die Prozesse involvierte Gerichtspräsident:innen zu einem von der Einzelrichterin Katharina Giovannone geleiteten «internen Meinungsaustausch» zusammen. Sie tauschten sich gemäss Protokoll darüber aus, wie einzelne Vergehen zu bewerten seien. Besprochen wurde etwa, welche durch Demonstrant:innen geworfenen Gegenstände als gefährlich einzuordnen seien – oder wann der Tatbestand der mehrfachen Drohung erfüllt sei. Einleitend werden die Fazite der Diskussionspunkte in Anführungszeichen als Beschlüsse bezeichnet.

Brisant sind die Protokolle an zwei Stellen: Man sei sich einig, dass, «wenn kein Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung mit gefährlichem Gegenstand ergeht», das Strafmass im Rahmen der Gewalt und Drohung entsprechend zu erhöhen sei, heisst es im Protokoll. Das scheint über den Versuch hinauszugehen, vergleichbare Ereignisse in den verschiedenen Fällen gleich zu bewerten. Genau wie auch die protokollierte Unterredung über die Täter:innenhinweise: Diese stammten in vielen Fällen von der berüchtigten Fachgruppe 9 des kantonalen Nachrichtendienstes. An der Sitzung tauschten sich die Richter:innen darüber aus, wie zu argumentieren sei, wenn die Anwält:innen die Verwertbarkeit dieser Hinweise angreifen würden, weil nachrichtendienstliche Hinweise nicht überprüfbar sind. Man war sich weitgehend darin einig, dass die Hinweise unproblematisch seien, solange die Angeklagten vor Gericht als die Behaupteten identifiziert werden könnten – und beriet darüber, wie dies möglichst gewährleistet werden könne. Ein Gerichtspräsident plädierte bei Nichterscheinen an der Verhandlung für «Verhaftungen, damit ein Foto erstellt werden kann».

Peter Albrecht, ehemaliger Strafgerichtspräsident und emeritierter Professor für Straf- und Strafverfahrensrecht an der Universität Basel, sagt dazu: «Da wollte man sich gegen Kritik der Verteidigung abschirmen, das geht nicht.»

Albrecht wertet den richterlichen «Meinungsaustausch» aber auch abgesehen von den besonders heiklen Punkten als «äusserst problematisch». Seiner Meinung nach müsse ein Gericht den inhaltlichen Austausch über künftige Urteile so weit wie irgendwie möglich vermeiden. «Wenn sich urteilende Gerichtspersonen austauschen, besteht die erhebliche Gefahr, dass sie innerlich nicht mehr frei entscheiden können», so Albrecht. Gerade bei politisch aufgeladenen Prozessen müsse «jeder Anflug von Befangenheit vermieden werden». Zudem werde mit den «Beschlüssen» die Unschuldsvermutung infrage gestellt. Diese gelte bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung.

Der Vorsitzende Gerichtspräsident René Ernst, der das harte Urteil gegen die erwähnte Frau zu verantworten hat, weist die Kritik an den Absprachen von sich. Dass man im Protokoll von «Beschlüssen» rede, sei eine unglückliche Formulierung, sagt er. «Wir haben uns zusammengesetzt, um Argumente auszutauschen im Sinne einer einheitlichen Rechtssprechung», erklärt Ernst. Diese zu fördern, dazu seien die Gerichtspräsident:innen schliesslich durch das Gerichtsorganisationsgesetz verpflichtet. «Bei vierzig Prozessen mit ähnlich gelagerten Anklagepunkten ist ein gewisser Austausch unabdingbar und völlig normal. Die richterliche Unabhängigkeit wird dadurch nicht gefährdet.»

Sukkurs erhält Ernst vom früheren Bundesrichter Niklaus Oberholzer. Dass Richter:innen jeglicher Austausch untersagt sei, sei zwar die Lehrbuchmeinung, sagt dieser. In der Realität sei dies aber oft nicht haltbar, gerade bei einer grossen Prozessreihe. «Zudem hat man hier ausschliesslich abstrakte Rechtsfragen besprochen, es stand nicht die beweismässige Beurteilung einzelner Ereignisse oder gar einzelner Beschuldigter zur Diskussion», sagt Oberholzer. Selbst zu den heikelsten Punkten im Protokoll meint er: «Man kann zwar kritisieren, dass es hier um gewisse Aspekte möglicher Grundhaltungen geht. Doch daraus auf eine Voreingenommenheit zu schliessen, scheint mir zu weit zu gehen.»

René Ernst argumentiert zudem: Der Grundimpuls für die Gespräche habe in der äusserst harten Anklage gelegen. «Wir hatten das Bedürfnis, uns mit den Rechtsfragen auseinanderzusetzen, und haben vieles milder bewertet als die Anklage», so der Gerichtspräsident.

Jenseits rechtsstaatlicher Vernunft

Tatsächlich kommen die Richter:innen in den Protokollen in vielen Fragen zu einer milderen Bewertung als die Anklage unter der Federführung des Hardliners Camilo Cabrera. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie sich am Ende offenbar zu wenig von diesem distanzierten.

Die «Basel Nazifrei»-Geschichte beginnt mit einem völlig unverhältnismässigen Polizeieinsatz, und sie setzt sich fort in einer notorisch mit der Polizei verbandelten Staatsanwaltschaft, die jenseits aller rechtsstaatlichen Vernunft anklagte – die Richter:innenurteile also sind nur einer von mehreren Puzzlesteinen der Unverhältnismässigkeit. Die Anwält:innen kämpfen deshalb auf allen Ebenen für eine Neuauflage der Verfahren. Sie argumentieren etwa damit, dass Staatsanwalt Cabrera den Beweis für die Eskalation durch die Polizei in einem Videozusammenschnitt nicht berücksichtigt habe.

Aktuell sind die Berufungsverhandlungen gegen die Demonstrierenden auf Eis gelegt, weil ein ausserkantonaler Staatsanwalt den Vorwurf der Beweismanipulation durch Polizei und Staatsanwaltschaft untersucht.

Die Gerichtsprotokolle wiederum sind nur aufgetaucht, weil das Bundesgericht das Basler Appellationsgericht dazu verpflichtet hat, die Ausstandsbegehren der Anwält:innen gegenüber den Richter:innen genauer zu prüfen. Diese Untersuchung läuft derzeit. Das Strafgericht hatte bislang stets behauptet, es habe keinen formalen Austausch gegeben. Nun haben die Richter:innen das Protokoll herausgerückt. Der Vorsitzende Gerichtspräsident René Ernst behauptet auch heute, er habe sich anfangs nicht mehr an das Gespräch erinnert, irgendwann sei es ihm dann aber wieder in den Sinn gekommen. «Mir war klar, dass das Zündstoff bietet.»