Kulturerbe der Ukraine: Verhüllte Statuen und versteckte Kunstwerke

Nr. 27 –

Bedrohte Museen, zerstörte Kirchen: Engagierte Museumsmitarbeitende retten in der Ukraine eine grosse Zahl von Kulturgütern vor Diebstahl und Verwüstung durch die russische Armee.

Kunstwerk in der Nationalen Kunstgalerie in Lwiw
In feuerfestem Tuch: Samson und der Löwe, den Johann Georg Pinsel im 18. Jahrhundert für die Kirche in Hodowyzja schuf, in der Nationalen Kunstgalerie in Lwiw. Foto: Diana Bagnoli

Unmittelbar nach der russischen Invasion im Februar 2022 engagierten sich Behörden und Freiwillige in der Ukraine, um ein jahrhundertelang umkämpftes Gut zu schützen: das fragile kulturelle Erbe der Ukraine. Die einen hüllten Statuen und Denkmäler in Jute- und Nylontücher, andere bauten riesige Metallgerüste auf und türmten Reihen von schweren Sandsäcken um Denkmäler und Kirchen. So auch in der alten Kulturstadt Lwiw im Westen des Landes, die vor dem Krieg viele Tourist:innen anzog und heute für viele Ukrainer:innen und Journalist:innen auf dem Weg von der oder zur Front ein Ort zum Durchatmen ist.

Als ich vergangenen Juli durch die engen Pflastersteingassen von Lwiws historischem Stadtkern spazierte, waren noch immer alle Denkmäler und Statuen eingepackt – Kulturgüter aus Renaissance, Barock, Neoklassizismus und Jugendstil, die während des Zweiten Weltkriegs zwei Besatzungen, die deutsche und die sowjetische, überstanden hatten. Ich sah die steifen, wasserdichten Abdeckungen, die bedruckt waren mit Bildern von Marmorstatuen – Moses und andere biblische Gestalten waren in voller Grösse darauf abgebildet. «Wir sehen uns nach dem Sieg wieder», versprachen die Schilder daneben.

Kriegsschäden an 260 Kulturstätten

Wladimir Putins Aggression gegen die Ukraine war von Anfang an stark kulturell geprägt. In seinem am 12. Juli 2021 veröffentlichten Aufsatz «Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern» schrieb er: «Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann. Unsere geistigen, menschlichen und zivilisatorischen Bande sind über Jahrhunderte entstanden, sie haben dieselben Ursprünge und sind durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften und Siege gehärtet worden. […] Wir gehörten schon immer zusammen und werden in Zukunft noch stärker und erfolgreicher sein. Schliesslich sind wir ein Volk.» Die ukrainische Identität habe nur als untrennbarer Teil Russlands eine Daseinsberechtigung, so Putin.

Die Ukrainer:innen haben immer wieder gezeigt, dass sie sich Putins Willen nicht unterwerfen wollen – und sie organisierten sich, um die eigenen Kulturstätten und -schätze zu schützen, bis bessere Zeiten kommen.

Plastiken in Krementschuk
Eingepackt für eine rasche Evakuierung: Plastiken in Krementschuk.
 
Foto: Patrick Tombola

In der Haager Konvention von 1954 wurden die vorsätzliche Zerstörung des künstlerischen und archäologischen Kulturerbes eines Landes, die nicht durch militärische Zwecke gerechtfertigt ist, und die Plünderung seiner öffentlichen und privaten Kulturgüter erstmals vollumfänglich als Kriegsverbrechen definiert. Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, wie viele der heute dokumentierten Fälle in der Ukraine als solche zu bewerten sind. Doch die Unesco hat seit dem 24. Februar gravierende Kriegsschäden an 260 Kulturstätten festgestellt – darunter 112 religiöse Einrichtungen, 22 Museen, 94 Gebäude von historischem oder künstlerischem Interesse sowie 19 Denkmäler, 12 Bibliotheken und ein Archiv. Das Schicksal vieler anderer Stätten ist nach wie vor schwer zu beurteilen, die Liste wird wohl noch länger.

Seine relativ sichere Lage im Westen des Landes und die grosse Anzahl von Kunsteinrichtungen auf dem eher kleinen Gebiet machten Lwiw zum idealen Ausgangspunkt für die kulturelle Mobilisierung der Ukraine. In Lwiw befindet sich das grösste Kunstmuseum des Landes, die Nationale Kunstgalerie Lwiw, die von Taras Wozniak geleitet wird. Der angesehene ukrainische Kultur- und Politikwissenschaftler empfängt mich im Museum. «Ich fühle mich ein wenig wie Graf Potocki», sagt er in Anspielung auf den Grafen Alfred II. Potocki, der im 19. Jahrhundert diesen Palast bewohnte. Seit den ersten Tagen des Krieges hat Wozniak das Gebäude nicht mehr verlassen.

Taras Wozniak
«Zuerst haben wir die Gemälde von Tizian, Goya und Peter Paul Rubens evakuiert.» Taras Wozniak leitet die Nationale Kunstgalerie Lwiw.
 
Foto: Diana Bagnoli

Bei meinem Besuch war keines der 62 000 Kunstwerke der Sammlung zugänglich. Und während Wozniak mich durch die weiten, leeren Räume mit den hohen, gewölbten Decken und den marmorierten Böden führt, hallt seine tiefe Stimme nach. «Zuerst haben wir die wertvollsten Kunstwerke wie die Gemälde von Tizian, Goya und Peter Paul Rubens evakuiert», erklärt er, während er die Treppe hinabsteigt und die automatische Tür zu einem unterirdischen, modernen Lagerraum aufschliesst. Die Kunstwerke wurden sowohl ins Ausland als auch an geheime Orte innerhalb der Ukraine evakuiert: «Hier im Haus haben wir Kunstwerke von geringerem Wert versteckt, wie solche, die für Kirchenaltäre bestimmt sind.»

Zurück in seinem Büro, einem der wenigen möblierten Räume in der Galerie, sagt er: «Wir verstecken auch einige Kollektionen aus Kyjiw.» Das sei eine heikle Information, fügt er an – obwohl es sich um ein offenes Geheimnis handelt. Gelassen zieht Wozniak ein Gewehr aus der obersten Schublade seines grossen Holzschreibtischs und hängt es sich über die Schulter.

Wenige Monate später, im Februar 2023, treffe ich bei Kyjiw Milena Chorni vor dem Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, dessen stellvertretende Direktorin sie seit kurzem ist. Die Temperatur ist weit unter null gesunken. Auf dem malerischen Hügel über Kyjiw, auf dem dieser Kulturkomplex thront, fährt uns der Wind unerbittlich in die Knochen. Im Museum wirft Chorni ihren dicken Pelzmantel auf einen Stuhl, bevor sie in einen der Ausstellungsräume einlädt, in denen – seit Beginn der Invasion – das Leben der Ukrainer:innen in den von Russland besetzten Gebieten gezeigt wird. Zu sehen sind unter anderem Raketen, Panzer oder das Tagebuch eines Kommandanten.

Packmaterial und Generatoren

«Ich wusste, dass sie kommen», sagt Milena Chorni. «Der Grossteil meiner Familie wurde vom stalinistischen Regime entweder ins Gefängnis gesteckt oder ermordet, und ich konnte nichts Gutes von einem Staat erwarten, der immer noch mit derselben Ideologie sympathisiert.» Am 24. Februar, der zufällig auch ihr Geburtstag ist, sei sie durch die Stadt gegangen. «Ich hatte keine Angst, sondern wollte helfen.»

Innerhalb weniger Tage stand sie an der Spitze des «Krisenzentrums der Museen», einer Bürgerinitiative, die von Olha Honchar vom Museum Territorium des Terrors in Lwiw zusammen mit einer Handvoll Frauen aus dem Kulturbereich ins Leben gerufen worden war. Sie hätten Tag und Nacht damit verbracht, Museumspersonal anzurufen, das die offiziellen Rettungskräfte nicht auf dem Schirm gehabt hätten. Bald schon bildete sich ein informelles Netzwerk von über 1200 Personen, das vom Donbas bis nach Polen, von der belarusischen Grenze bis zum Schwarzen Meer reichte, um das Krisenzentrum mit dem Nötigsten wie Packmaterial, Geld, Fahrzeugen oder Generatoren zu versorgen.

«Für die Evakuierung ist allein das Kulturministerium zuständig. Doch dieses hat aufgrund seiner bürokratischen Struktur – ein Erbe aus der Sowjetzeit – nur schleppend reagiert. Was wiederum zeigt, dass die Kultur in diesem Land kaum Priorität hat», erklärt Chorni und verweist auf eine der zentralen Schwachstellen eines Staatsapparats, dessen Geschichte von Kriegen und Fremdherrschaft geprägt ist. «Unser Ziel ist es, dem Museumspersonal zu helfen, denn ohne dieses würden die ganzen Sammlungen nicht existieren. Interessant ist, dass die Mehrheit der im Kultursektor arbeitenden Menschen Frauen sind.» Sie atmet tief durch und fügt an: «Wenn ich an manche von ihnen denke, kommen mir die Tränen.»

Eine von ihnen ist Marina Rhizenko, die Verwalterin der Sammlung des Regionalen Kunstmuseums Tschernihiw. Tschernihiw, gut hundert Kilometer nördlich von Kyjiw, ist eine der ältesten Städte der Ukraine. Auf dem Hauptplatz steht ein rosafarbenes Relikt aus der Sowjetzeit, bekannt als Hotel Ukraine. Zwar steht es noch da, ist aber zu einem beträchtlichen Teil zerstört – es sieht aus, als ob ein Stück herausgebissen worden wäre. Das Museum ist nur ein paar Strassen entfernt. Vor dem Eingang klafft ein riesiger Krater, der durch Raketenbeschuss verursacht wurde. Die Fenster, deren Scheiben fast alle kaputt sind, wurden mit Sperrholzplatten verbarrikadiert. Marina Rhizenko trifft vierzig Minuten verspätet und schwer atmend ein. Sie entschuldigt sich und erzählt, sie habe den ganzen Vormittag im Rekrutierungszentrum der Armee verbracht – was sie dort gemacht hat, darüber will sie nicht reden.

Marina Rhizenko
Marina Rhizenko hat allein mit ihrer Tochter fast einen Monat lang im
besetzten Tschernihiw ausgeharrt, um die Bestände des Regionalen Kunstmuseums zu sichern.
 
Foto: Patrick Tombola

«Wir hatten keine Erfahrung mit der Katalogisierung und der Rettung von Kunstwerken in Krisenzeiten. Aber wir haben studiert, was unsere Kolleg:innen im Donbas gemacht haben», erklärt Rhizenko. «So haben wir unsere 16 000 Artefakte entsprechend ihrem Wert versteckt.» Am 25. Februar 2022 wurde Tschernihiw besetzt, und Marina stand vor einer existenziellen Entscheidung. «Frauen und Kinder wurden evakuiert, und ich habe meine Tochter gefragt, was sie tun wolle. Sie sagte: ‹Mama, ich weiss, wie wichtig dieses Museum für dich ist, und wenn du bleibst, bleibe ich auch›», erzählt sie mit leiser Stimme und dem harten Blick von jemandem, der viel Schlimmes gesehen hat. «Alle sind gegangen, aber ich konnte meine Sammlung nicht im Stich lassen. Wir zogen zusammen mit unseren Katzen in den Lagerraum. Damals, nachts, rief ich Milena Chorni an.» Zunächst ging es um technische Ratschläge, wie man die Kunstwerke vor den ständigen Bombenangriffen, der Kälte und der Feuchtigkeit schützt. Bald drehte sich das Gespräch jedoch um andere Themen.

«Es fehlte ihnen an Strom und Wasser. Um sie abzulenken, unterhielten wir uns über Bücher und Filme», erinnert sich Milena Chorni an das Telefonat. «Eines Tages fiel auch noch die Heizung aus, aber Marina machte sich nicht etwa Sorgen um sich und ihre Tochter, sondern um den Zustand der Sammlung.»

Verteidigung der eigenen Identität

Während der Autofahrt durch die Regionen Sumy und Charkiw auf dem langen Weg in den Donbas denke ich an all die anderen, die wie Marina Rhizenko Widerstand leisten: an Julia Duma vom Heimatmuseum in Trostjanez, an Olena Boyko und Ljudmila Mischtschenko vom Heimatmuseum in Ochtyrka, an Olha Nikolajewna und Tetyana Pylyptschuk vom Kunst- beziehungsweise Literaturmuseum in Charkiw und an zahlreiche andere.

Viele Kultureinrichtungen beschlossen, ihre Kunst nicht zu evakuieren: Da sind die Ungewissheit und das übermässig bürokratische System, das im Ministerium herrschte; da ist der Widerstand der lokalen Behörden, die den Verlust ihrer Sammlungen fürchteten, falls diese westwärts gebracht würden; und da sind die Risiken, die mit dem Transport wertvoller Objekte unter den gegebenen Umständen einhergehen. Stattdessen verstecken sie ihre Kunstwerke im Untergrund – ein Konzept, das sich bereits während des Zweiten Weltkriegs bewährt hatte.

Doch jede Region hat ihre eigenen Schwierigkeiten, und der seit 2014 besetzte Donbas nimmt in dieser Hinsicht eine einzigartige Rolle ein. Wenn man von der Region Charkiw in den Teil des Oblast Donezk kommt, der bis heute unter ukrainischer Kontrolle steht, ist man mit einem Mal nah am Krieg. Alle paar Hundert Meter gibt es Strassensperren, und die Soldaten, die unsere Papiere kontrollieren, wirken nervös. Zahlreiche Dörfer sind umkämpft, seit der Krieg hier vor neun Jahren begonnen hatte, und wenn sie nicht völlig dem Erdboden gleichgemacht wurden, leben darin nur noch wenige ausgemergelte alte Menschen, die wie Gespenster umherstreifen.

Seit der russischen Besetzung wurde die Übersicht über viele Kultureinrichtungen und deren Schätze schwierig, doch von den beschädigten Stätten, die von der Unesco überprüft wurden, lagen 105 allein im Donbas.

Der Raub der Sammlungen der Heimatmuseen von Donezk und Luhansk gehört zu den grössten kulturellen Verlusten seit der rechtswidrigen Annexion der Gebiete durch Russland im Oktober 2022. Vergleichbar mit der Plünderung der Kunstmuseen von Melitopol und Cherson nach der Invasion der Südukraine oder der Zerstörung der Sammlungen des Kuindschi-Kunstmuseums in Mariupol. Die Heimatmuseen enthielten nicht nur Überreste der von den Sowjets zerstörten Kirchen und historischen Gebäude, sondern auch Artefakte und Objekte der frühesten Zivilisationen, die vor der russischen Präsenz in der Ukraine ansässig waren. Sie zeigten, dass das historische und das kulturelle Erbe der Ukraine vielschichtiger und komplexer sind als das von Moskau aufgezwungene.

Die russische Strategie beruht seit langem auf der schamlosen Aneignung und Manipulation der Geschichte und Kultur der ehemaligen Sowjetstaaten. In der Ukraine fragen sich heute deshalb viele, ob ein Teil der kulturellen Verbrechen schon früher hätte verhindert werden können. Mittlerweile haben auch die Behörden anerkannt, dass der Schutz von Kulturgütern auch die Verteidigung der eigenen Identität bedeutet. Doch angesichts der hohen Risiken, die mit der anhaltenden militärischen Eskalation verbunden sind, gibt es heute keine Möglichkeit, Kulturgüter im Donbas selber zu verstecken. Falls es dort noch welche gibt, müssten diese also so schnell wie möglich weggeschafft werden.

Niemand trinkt Bier

Über das Krisenzentrum für Museen lernte ich Rita Nikolajewna kennen, die Leiterin des Heimatmuseums von Kostjantyniwka im Oblast Donezk. Die Stadt liegt 25 Kilometer von Bachmut entfernt, dessen lokales Kunstmuseum während des Dauerbeschusses völlig zerstört wurde. Kostjantyniwka ist der letzte Ort, an dem sich die Soldaten vor der Rückkehr an die nahe Front anständig verpflegen und ausruhen können. Ständig fahren Panzer vorbei, und die wenigen noch asphaltierten Strassenabschnitte sind voller Risse und Schlaglöcher. Rita Nikolajewna wartet vor dem Gemeindehaus. Die Strassenbeleuchtung ist ausgeschaltet, rechts steht die rostige Ruine einer Zuckerfabrik, links liegen schneebedeckte Eisenbahnschienen. Nikolajewna winkt und führt durch eine kleine Seitentür aus Metall.

Drinnen sieht es aus wie in einem Berggasthaus: Alles ist aus Holz, Kellnerinnen eilen von Tisch zu Tisch und servieren dampfend heisse Speisen. Der einzige Unterschied ist, dass die Gäste alle Militäruniformen tragen und niemand Bier trinkt – unter dem Kriegsrecht ist der Verkauf von Alkohol verboten. Die Räume sind brechend voll. Wir setzen uns ins hinterste Zimmer. «Es war schon seit einiger Zeit schwierig, aber bis Ende März 2022 fühlten wir uns noch lebendig», erzählt Nikolajewna leise. Ihre Hände zittern. «Als der Gouverneur die Menschen aufforderte, die Stadt zu verlassen, gingen die meisten. Nun höre ich von meiner Wohnung aus die Granaten, und ausser Hunden sehe ich niemanden mehr. Ich habe grosse Angst …» Bevor sie zu ihrer Familie in die Zentralukraine fuhr, packte Nikolajewna die Museumsbestände in Kisten. Einige Monate später kehrte sie nach Kostjantyniwka zurück, da die Behörden endlich grünes Licht für die Evakuierung der Kunstwerke gegeben hatten.

Die Aktion, die nun mithilfe von Freiwilligen startet, ist die sechste und letzte eines fast ein Jahr dauernden Evakuierungsprozesses, der mit dem Abtransport der wertvollsten Gegenstände des Museums begonnen hatte.

Das Museum ist nur ein paar Strassen entfernt. «Wenn diese letzte Aufgabe erledigt ist, wird die Geschichte von Kostjantyniwka in Sicherheit sein, und ich werde sie an einem anderen Ort wieder zeigen können», sagt Rita Nikolajewna. Im Licht einer Taschenlampe gewährt sie einen kurzen Blick in einen grossen Raum. An den Wänden hängen kurze Informationen zur Stadtgeschichte: Gründung, Flora, Fauna … Die Stapel versiegelter Pappschachteln reichen bis zur Decke. Unter schwerem Stoff stehen Möbel sowie eine Menge ausgestopfter wilder Tiere.

«Völkermord auf kultureller Ebene»

Einer, der Kriegsverbrechen gegen das kulturelle Erbe seit fast dreissig Jahren dokumentiert und archiviert, ist der ukrainische Rechtsanwalt Witali Tytytsch. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs legte er seine Zivilkleidung ab, um sich den Territorialen Verteidigungskräften anzuschliessen. Angesichts der wachsenden Zahl von Verbrechen gegen die Kultur erkannte die Armeeführung, dass einer wie er, der über ein derart tiefes und gründliches Wissen auf einem von den Behörden vernachlässigten Gebiet verfügt, besser für den Kulturgüterschutz eingesetzt werden sollte als für den Kampf.

Bald war Tytytsch für eine kleine militärische Spezialeinheit mit zwölf Personen verantwortlich, die Beweise für Verstösse gegen das ukrainische Kulturerbe in den «Grauzonen» sammelt, also in den kürzlich von der russischen Besatzung befreiten Gebieten. Ausserdem schult er Soldaten an der Front und in vor kurzem befreiten Gebieten darin, wie sie Schäden und Verbrechen gegen das kulturelle Erbe dokumentieren können. Er stellt für jeden dokumentierten Fall Fakten, Zahlen und Bildmaterial zusammen und übergibt diese dem Generalstaatsanwalt, der sie wiederum an den Internationalen Strafgerichtshof weiterleitet.

Die Hoffnung, Tytytsch zu treffen, hatte ich schon fast aufgegeben, als ich auf dem Rückweg nach Kyjiw eine Textnachricht erhielt. «Halte dich bereit: Morgen werden wir einige bombardierte religiöse Einrichtungen in der Umgebung von Isjum besuchen», schrieb er mir. Das am Fluss Siwerski Donez gelegene Isjum war nicht nur monatelang von Russland besetzt, es war auch einer der schlimmsten Schauplätze von Folter und Verwüstung, deren Spuren noch immer zu sehen sind.

Kirche in der Nähe von Isjum
Ohne militärischen Grund mutwillig zerstört: Kirche in der Nähe von Isjum.
 
Foto: Patrick Tombola

«Sämtliche Kriegsverbrechen müssen als Teil eines kriminellen Systems betrachtet werden, das seit der Sowjetunion auf Regierungsebene organisiert wurde», erklärt Tytytsch, während er vorsichtig um die Ruinen geht, auf der Suche nach dem Hauptportal. Das russische Militär besetzte diese ukrainisch-orthodoxe Kirche und zog Gräben rundherum, bevor es sie schwer verwüstete. «Nach unseren Erkenntnissen gab es keinen militärischen Grund, der einen derart brutalen Angriff gerechtfertigt hätte», sagt Tytytsch während der Besichtigung. «Es ist Völkermord auf kultureller Ebene.»

Während sein Kollege eine Drohne aus den Trümmern zieht, zeigt Witali Tytytsch auf das riesige Loch, das in der Kuppel klafft. Was rund um die Kirche zu sehen ist, ist noch beunruhigender: Das Land wirkt trocken, vernarbt und rötlich, als würde es noch immer bluten von den Massakern, die hier begangen wurden.

Beim Verabschieden fallen mir die Worte von Irina Prokopenko, der Direktorin des Instituts für das kulturelle Erbe in Kyjiw, ein: «Es sind die lokalen Realitäten, die wirklich erzählen, wer wir sind, wann und wie unser Land entstanden ist. Sie zu zerstören oder zu plündern, heisst, unsere Geschichte auszulöschen, um sie durch eine andere zu ersetzen.»

In Zusammenarbeit mit dem Investigativportal Irpi Media.

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