Arbeitskampf in der Logistik: Gratis ist hier gar nichts

Nr. 39 –

Im solothurnischen Neuendorf prüfen Arbeiter:innen für Zalando Gratisretouren. Die Löhne sind tief, der Druck ist hoch, und ständig droht die Kündigung. Doch jetzt regt sich Widerstand.

Transportband mit Paketen
Pro Stunde müssen bei der Ceva Logistics für Zalando 41 Kleidungsretouren verarbeitet werden. Im Bild: Paketverteilzentrum Frauenfeld der Post. Foto: Armd Wiegmann, Keystone

Auspacken, Grösse und Farbe überprüfen, riechen, ob die Kleidung noch ungetragen ist. Das macht Maria Gomez* jeden Tag. Mindestens 41 Kleidungsstücke muss sie pro Stunde bearbeiten. Alle wurden von Kund:innen des Onlineversandhändlers Zalando retourniert.

Erreiche sie ihr Stundensoll nicht, erhalte sie eine schriftliche Verwarnung. Nach drei schriftlichen Verwarnungen drohe ihr die Kündigung. Das erzählt Gomez im Büro der Unia in Olten. Seit diesem Jahr ist sie in der Gewerkschaft organisiert. Es sei das erste Mal, dass sie sich gegen Arbeitsbedingungen wehre, sagt Gomez. «Und es ist gut: Wir kämpfen einfach für unsere Rechte – nicht mehr und nicht weniger.» Sie kommt gerade von einem Deutschkurs, versteht die Sprache aber noch kaum. Seit mehr als einem Jahr arbeitet sie im Betrieb von Ceva Logistics in Neuendorf im Kanton Solothurn.

96 Prozent sind Frauen

Am 14. September hat sie gemeinsam mit rund 170 anderen Arbeiter:innen und der Unia eine Protestaktion durchgeführt. Eine Stunde lang haben sie sich vor dem Eingang versammelt, statt zu arbeiten. Schon am 14. Juni hatte sich ein Teil der Belegschaft anlässlich des feministischen Streiks an den Betrieb gewandt und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen gefordert. Die Unia verlangte von Ceva ausserdem, Verhandlungen mit ihr aufzunehmen.

Es ist ein bemerkenswerter und seltener Arbeitskampf, geführt von Arbeiter:innen, die zwar wenig haben – aber viel zu verlieren haben. Im Ceva-Betrieb in Neuendorf sind gemäss der Unia rund 500 Arbeiter:innen beschäftigt. 96 Prozent von ihnen sind Frauen. Die allermeisten von ihnen hätten keinen Schweizer Pass, sagt Selina Bogdan. Auch sie arbeitete mehrere Jahre lang bei Ceva Logistics. Jetzt hat sie eine andere Arbeit gefunden, mit etwas besserer Bezahlung.

Zu kündigen, bevor sie eine neue Stelle gefunden hatte, sei für sie aber so wie für fast alle Angestellten nie infrage gekommen: «Viele, die hier arbeiten, haben eine Aufenthaltsbewilligung L», sagt Bogdan – eine sogenannte Kurzaufenthaltsbewilligung. Wer keine Anstellung hat, verliert sie. Konkret bedeutet das also: Wer mehrmals daran scheitert, 41 Kleidungsstücke pro Stunde zu verarbeiten, muss womöglich das Land verlassen. «Die meisten kündigen, sobald sie gut genug Deutsch können, um eine andere Arbeit zu finden», sagt Bogdan. Der Stress, der Druck – das sei kaum auszuhalten.

Wobei dieser Druck erst vor zwei Wochen noch einmal erhöht wurde. Bis dahin lag das zu erreichende Stundensoll noch bei 39 Kleidungsstücken pro Stunde. Seit der neuerlichen Erhöhung hätten schon mehrere Arbeiter:innen während der Schicht weinen müssen, weil sie merkten, dass sie zu langsam seien, erzählt Maria Gomez.

«Schrei vor Glück» war bis 2019 der Slogan, der das Kleidungsgeschäft Zalando durch den Aufstieg begleitete. Seit seiner Gründung 2008 ist es massiv gewachsen. 2020 setzte die Firma acht Milliarden Euro um. Was in der trostlosen Halle in Neuendorf vor sich geht, ist die Kehrseite dieser strahlenden Erfolgsgeschichte. Die Möglichkeit, Produkte gratis und ohne Begründung zu retournieren, war von Beginn an wichtiger Bestandteil von Zalandos Marketing.

Keinerlei Planungssicherheit

«In der Schweiz ist nichts gratis», sagt Gomez. «Und es ist nicht fair, wenn man voll arbeitet, aber nicht davon leben kann.» Sie zählt zu jenen Arbeiter:innen bei Ceva in Neuendorf, die nicht direkt beim Betrieb angestellt sind, sondern über einen Personalverleih vermittelt werden. Laut der Unia trifft das auf etwa die Hälfte der dort Beschäftigten zu. Unter anderem würden sie durch die beiden grossen Temporärfirmen Adecco und Kelly Services vermittelt. Beide versichern auf Anfrage der WOZ, sich an alle gesetzlichen Bestimmungen zu halten.

Für die Temporären und die Festangestellten stehen jeweils verschiedene Forderungen im Fokus ihres Protests. Das wichtigste Anliegen von Ersteren ist mehr Planungssicherheit: Sie habe bei ihrem Personalverleiher einen Vertrag, der ihr zwei Arbeitstage pro Woche verspreche, sagt Gomez. Tatsächlich arbeite sie aber fast immer Vollzeit. Eine Garantie dafür hat sie aber nicht. Die Arbeitspläne für die nächste Woche würden jeweils am Freitag der Vorwoche veröffentlicht. Spontane Absagen seien häufig.

Und tatsächlich: Während des Gesprächs mit der WOZ vibriert ihr Handy. Gomez lacht auf und schiebt es über den Tisch, um die Nachricht zu zeigen, die sie gerade erhalten hat: Sie solle am Folgetag nicht zur Arbeit erscheinen. «Ich muss doch einfach wissen, wie viel ich in einem Monat arbeite und wie viel Geld ich damit verdiene», sagt sie. Wenn es immer nur wenige Stunden zu arbeiten gäbe, wäre das auch in Ordnung. «Dann könnte ich einen zweiten Job suchen», so Gomez. Stattdessen müsse sie sich derzeit die ganze Woche dem Betrieb zur Verfügung halten. «Und trotzdem weiss ich zu Beginn des Monats nie, ob ich am Monatsende meine Rechnungen werde bezahlen können.» Sie hat ein Kind, ihr Partner erzielt aber noch ein zweites Einkommen. «Wie das diejenigen von uns machen, die nur von ihrem eigenen Lohn abhängen, weiss ich nicht», sagt Gomez.

Selina Bogdan zählte dagegen zu den Festangestellten. «Der tiefe Lohn war für mich das Hauptproblem», sagt sie. Sie verdiente schlechter als Gomez. Für Temporärangestellte ist nämlich ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in Kraft, der einen rechtlich bindenden Mindestlohn von 19.92 Franken pro Stunde für Ungelernte vorsieht. Die Festangestellten sind dagegen keinem GAV unterstellt. Ceva kann die Löhne völlig legal noch tiefer drücken, was die Firma auch tut. Roman Künzler, bei der Unia verantwortlich für die Logistik, sagt: «Sogar im Vergleich innerhalb der Logistikbranche, wo die Löhne allgemein sehr tief sind, sind die Ceva-Löhne sehr tief.»

Der Einstiegslohn liegt brutto bei 3468 Franken. Nach Abzug der üblichen Abgaben sowie der Quellensteuer bleiben davon, wie ein Lohnausweis belegt, weniger als 3000 Franken übrig. Einen 13. Monatslohn gibt es nicht, eine Krankentaggeldversicherung ebenso wenig. Im ersten Dienstjahr sind insgesamt nur drei Wochen krankheitsbedingter Abwesenheit abgedeckt. Im zweiten Jahr ist es ein Monat. Ist das Kontingent ausgeschöpft, werden den Angestellten die Krankheitstage vom Lohn abgezogen.

Ein Sprecher von Zalando schreibt der WOZ, dass das Unternehmen erst Ende 2022 eine routinemässige externe Untersuchung der Arbeitsbedingungen in Neuendorf veranlasst habe. Die Prüfer:innen hätten nichts zu beanstanden gehabt. Was auch nicht weiter überrascht: Ceva Logistics werden keine Gesetzesverstösse vorgeworfen. Das Beispiel zeigt vielmehr, wie viel Spielraum die Schweizer Gesetze dem Unternehmen bei seiner Profitmaximierung auf Kosten der Arbeiter:innen erlauben.

Durch den Hintereingang

Widerstand hat im Geschäftsmodell von Ceva dagegen wenig Platz. Auf den Protestbrief, den Gomez und ihre Kolleg:innen schon im Juni an die Firma adressiert hatten, hätten sie nie eine Antwort erhalten, erzählt Maria Gomez. Die Firma habe lediglich der Unia mitgeteilt, dass sie keine Verhandlungen führen wolle, unter anderem mit dem Verweis auf eine Lohnerhöhung von zwei Prozent, die Anfang Jahr umgesetzt wurde.

Die Protestaktion Mitte September habe die Betriebsleitung aber doch sichtlich nervös gemacht, sagt Selina Bogdan. Am späteren Nachmittag habe sie versucht, den Kontakt der Angestellten zur Gewerkschaft zu unterbinden, erzählt Bogdan. «Sie haben alle Arbeiter:innen angewiesen, den Betrieb durch den Hintereingang zu verlassen», sagt sie.

Von diesem Vorwurf will die Medienstelle von Ceva nichts wissen. Die Vertreter:innen der Unia hätten für ihre Angestellten «den Zugang zum Betrieb blockiert», schreibt die Medienstelle. «Nach Schichtende wandten sich einige Mitarbeiter an das Management vor Ort, da sie Bedenken hatten, das Werk durch den Vorderausgang zu verlassen», behauptet Ceva. Und weiter: «Wir arbeiten in ganz Europa eng mit Gewerkschaften zusammen.»

Der Mailverkehr erfolgt auf Englisch. Ceva Logistics ist der weltweit drittgrösste Anbieter von Vertragslogistik und gehört zum französischen Konzern CMA CGM. Dieser erzielte allein im letzten Jahr einen Gewinn von 24,9 Milliarden US-Dollar in 160 Ländern. Noch so eine Erfolgsgeschichte.

* Name geändert.

Nachtrag vom 14. März 2024 : Noch lange kein Frieden im Retouren­zentrum

Monatelang haben die Mitarbeiter:innen von Ceva Logistics im solothurnischen Neuendorf vergangenes Jahr Verhandlungen und vor allem eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen gefordert, etwa mit einer Protestaktion vor Arbeitsbeginn im letzten September oder schon zuvor mit einem Brief anlässlich des feministischen Streiks am 14. Juni.

Über 95 Prozent der Beschäftigten sind Frauen. Sie sortieren und prüfen Zalando-Retouren im Akkord. Der Einstiegslohn liegt bei rund 3500 Franken für Festangestellte. Viele der Arbeiter:innen sind allerdings bloss temporär über einen Personalverleih beschäftigt.

Der Milliardenkonzern Ceva, weltweit der drittgrösste Anbieter von Vertragslogistik, blieb lange hart – bis sich im Dezember eine Mehrheit der organisierten Belegschaft in einer Abstimmung für eine Streikandrohung aussprach. Erst dann gab Ceva nach. Das Unternehmen versprach mehrere Verbesserungen: zum Beispiel einen 13. Monatslohn und einen zusätzlichen Ferientag. Ausserdem hätten die Verantwortlichen laut Aussagen von Mitarbeiter:innen eine Lohnerhöhung von zwei Prozent versprochen, allerdings nur mündlich.

Unter anderem diese Lohnerhöhung sei entscheidend dafür gewesen, dass die Beschäftigten die Streikandrohung «bisher» nicht umgesetzt hätten, sagt dazu Roman Künzler von der Gewerkschaft Unia. Sie unterstützt die Angestellten bei ihrem Arbeitskampf. Letzte Woche hat die Unia publik gemacht: Diese Lohnerhöhung wurde bis heute nicht ausbezahlt. Ceva behauptet – auch gegenüber der WOZ –, eine solche gar nie versprochen zu haben. Schriftliche Belege gibt es keine.

So einfach scheint Ceva nicht davonzukommen: Mittlerweile habe sich ein Netzwerk von Gewerkschaften und Ceva-Arbeiter:innen in ganz Europa gebildet, sagt Roman Künzler. Ziel sei es, den Druck zu erhöhen und koordiniert für akzeptable Arbeitsbedingungen zu kämpfen.