Auf allen Kanälen: Entzückende Funde

Nr. 44 –

Publizistische Launen der Student:innen: Ein reichhaltiges Buch dokumentiert hundert Jahre «Zürcher Studierendenzeitung» («ZS»).

stilisiertes Foto einer Person die Zeitung liest

Ein freundlich ironischer Leserbrief von Thomas Mann zu einer Parodie seines «Doktor Faustus», antisemitische Artikel des Frontistenführers Robert Tobler, Solidarität mit der vietnamesischen Befreiungsfront, die erste konsequent gendergerechte Zeitungsausgabe im deutschsprachigen Raum, fünf Namenswechsel, Krach mit der Trägerschaft und Beinahekonkurse – die «Zürcher Studierendenzeitung» hat in ihrer Geschichte einiges erlebt.

Zum hundertjährigen Bestehen der «ZS» ist ein opulenter Band erschienen. Er legt kulturgeschichtliche und politische Sonden zu bestimmten Themen durchs Jahrhundert und entzückt mit Einzelfunden. Dabei bleibt grundsätzlich unklar, welche Funktion eine studentische Zeitung erfüllen soll: Ist sie für Studierende geschrieben? Von Studierenden? Über sie? Kann oder soll sie über den akademischen Elfenbeinturm hinausgehen? Auch die «ZS» suchte immer wieder einen Weg zwischen studentischen Dienstleistungen, bildungspolitischer Information, kulturellen Beiträgen und weltpolitischen Stellungnahmen.

«ZS» als Lebensgefühl

Welche Wirkung hat die Zeitung erzielt? Der Gebrauchswert für Student:innen ist kaum zu bestimmen. Zu historischen Brennpunkten gibt es Vermutungen. Sie war offenbar «Brandbeschleuniger» (Jakob Tanner) des Frontismus in der Schweiz. Die 68er- und die 80er-Bewegung unterstützte sie publizistisch, obwohl sie als Medium keine zentrale Rolle spielte. Max Frisch hat – womöglich – seine schriftstellerische Karriere bei der «ZS» begonnen, und Hermann Burger benutzte einen Artikel zur Selbstwerbung und als Fundament seiner Poetologie. Die Vorreiterinnenrolle mit der durchgehenden Anwendung des generischen Femininums zwischen 1993 und 2006 bleibt bemerkenswert. Die verspätete Digitalisierung wird heute zu einer Tugend gemacht, weil die «ZS» vorrangig ein Printprodukt bleiben will.

Ein Verdienst ist unbestritten: Sie war eine Lehrwerkstatt für angehende Journalist:innen. Die Beschreibungen von früheren Redaktor:innen der «ZS als Lebensgefühl» beschwören einen ungebremsten Enthusiasmus, durchwachte und durchzechte Nächte, journalistische Freiheit – und reichen dabei zuweilen bis zur Eigenparodie.

Die «ZS» lässt sich als ein Medium für eine «autonome Öffentlichkeit» begreifen, ein begrenztes Feld, in dem Ideen und Positionen jenseits der breiteren Öffentlichkeit erprobt werden können. Aufsehenerregende Enthüllungen und Recherchen kann sie dagegen kaum vorweisen. Das muss sie ja auch nicht. Obwohl dies im vorliegenden Band gelegentlich bedauert wird. Dafür wird als Errungenschaft mehrfach genannt: dass aus ihr beziehungsweise dem Beiblatt «das konzept» die WOZ hervorgegangen sei. Das ist ja schön und gut, aber als Leistungsausweis die Gründung eines anderen Medienprodukts auszugeben, irritiert doch ein wenig, zumal das Startjahr der WOZ gelegentlich fälschlich ein Jahr nach hinten auf 1982 verschoben wird.

Vom Bart zum Marihuana

So weit die ersten 170 Textseiten. Dann kommen 170 Bildseiten: Bildausschnitte, ganze Layoutseiten, Karikaturen, Werbungen, Cover. Auf diesen knapp mit Erscheinungsdatum erschlossenen Seiten darf man sich selbst ein Bild, oder einen Reim, machen. Lässt sich beispielsweise erklären, warum die Cover um 1960 gestalterisch und typografisch kühner waren als je danach? (Der Einfluss der Schweizer Typografie?) Warum tauchen plötzlich mehrfach Bildausschnitte von Spaghetti und anderen Lebensmitteln auf? (Der hungrige Blick der Redaktor:innen angesichts ihrer Hungerlöhne?) Muss man bedauern, dass in heutigen Inseraten keine «Miet-Radios» mehr angeboten werden? (Niedergang der kommunalen Tradition der Arbeiter:innenkultur?) Was bedeutet es, wenn es in Artikeln 1958 um den Bart und 1969 um Marihuana geht? (Vom Machismo zum gleichgeschlechtlichen Statussymbol?)

Als es noch Kaffeetische gab, hat man etwas despektierlich von Kaffeetischbüchern gesprochen: so schwer, dass sie sich kaum in den Händen halten lassen, und so ästhetisierend aufgemacht, dass man sich mit Anschauen begnügt. Auch «100 Jahre Zoff» kommt im Grossformat und schwergewichtig daher. Allerdings bietet der Band Lese- ebenso wie Bildstoff in Fülle.

Johannes Luther, Michael Kuratli, Oliver Camenzind: «100 Jahre Zoff. Die Geschichte der Zürcher Studierendenzeitung». Hier und Jetzt Verlag. Zürich 2023. 352 Seiten. 39 Franken.