Onlinepranger: Die Katze, das Video und die Selbstjustiz

Nr. 48 –

Die «Szene isch»-Kanäle verbreiten Videos aus Schweizer Städten. Wie die Aufnahme eines mutmasslichen Tierquälers einen Rachefeldzug von Zürcher Jugendlichen auslöste.

Illustration von Marcel Bamert

Anfang August ereignen sich in Zürich Affoltern geradezu mittelalterliche Szenen: Immer wieder kommen wütende Menschen vor einem Haus zusammen und werfen Steine. Autos bleiben stehen, die Fahrer:innen rufen Schimpfwörter, Fremde klingeln an der Tür Sturm. Das Ziel der aufgebrachten Menge: der «Büsiquäler». Die Hetzjagd nach dem jungen Mann nahm ihren Anfang in der Onlinewelt: Ende Juli verbreitete sich in den sozialen Netzwerken ein Video, das in Zürich hohe Wellen schlug. Darin sieht man einen Jugendlichen, der eine Katze tritt und schliesslich das blutende Tier in ein Feld wirft. Der Tatort ist unklar, in der Aufnahme ist es bereits dunkel. Zu hören ist lediglich, wie der junge Mann mit seinem Freund hinter der Kamera Witze über das leidende Tier reisst.

So brutal, doch so normal: Schätzungen zufolge werden in der Schweiz jährlich 100 000 Katzen getötet. Solange die Katzen schmerzfrei von ihren Besitzer:innen getötet werden, ist dies auch rechtens. Problematisch wird es, wenn ein Tier qualvoll getötet wird. Doch auch dies geschieht in der Schweiz oft: Viele streunende Katzen werden vergiftet, erschlagen oder ertränkt. Was an diesem Zürcher Tierquälereifall speziell ist: Viele Jugendliche aus Zürich – und darüber hinaus – nehmen die Strafverfolgung in die eigene Hand und suchen den Jugendlichen, den sie für den Täter halten, an dessen Wohnort auf.

Der Kontext fehlt oft

Geteilt wurde das Tierquälervideo als Erstes auf den sogenannten «Szene isch»-Kanälen von Zürich und Winterthur. Das Grundprinzip all dieser Accounts aus verschiedenen Städten der Schweiz ist immer das gleiche: Die Follower:innen filmen lustige oder spannende Szenen in ihrer Stadt und schicken diese kurzen Aufnahmen dann dem «Szene isch»-Kanal. Dieser verbreitet sie anschliessend über sein Tiktok- oder sein Instagram-Profil. Viele Videos sind inhaltlich harmlos und zeigen witzige Situationen: Jugendliche etwa, die an einem Samstagabend im Bus laut Musik hören und dazu tanzen. Es sind Videos, die unterhalten und gute Laune machen.

Oft aber sind auch heikle Situationen zu sehen: Schlägereien, Verkehrsunfälle, stark alkoholisierte Personen oder Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. «Auf den Kanälen findet eine starke Entkontextualisierung der Situationen statt. Man kennt die Vorgeschichte der einzelnen Videos nicht und weiss auch nicht, was echt oder inszeniert ist», sagt Philippe Wampfler, Experte und Buchautor zu den sozialen Medien. Als Gymnasiallehrer kennt er die Videos auch von seinen jugendlichen Schüler:innen.

Heikel an den Videos ist zudem, dass oftmals Personen ohne deren Wissen gefilmt werden. Für den Medienrechtsanwalt Martin Steiger ist dieses Vorgehen grundsätzlich nicht zulässig. In der Schweiz hat man das Recht am eigenen Bild und an der eigenen Stimme – man muss gefragt werden, ob man gefilmt werden möchte und eine entsprechende Videoaufnahme online gestellt werden darf. Bei der Identifizierung geht es dabei nicht nur um die Frage, ob ein Gesicht erkennbar ist, erklärt Dominika Blonski, die Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich: «Identifizierbar sind Personen beispielsweise auch durch ihre Stimme, die Kleidung oder das Verhalten.»

Für Anwalt Steiger ist klar: Die Inhalte der «Szene isch»-Kanäle sind in weiten Teilen widerrechtlich und persönlichkeitsverletzend. Seine Schlussfolgerung: «Diese Kanäle dürfte es eigentlich gar nicht geben.»

Eine Million sehen das Video

Die «Szene isch»-Accounts leben vom sogenannten Engagement. Der Begriff bezeichnet die Anzahl von Menschen, die mit einem Beitrag in den sozialen Netzwerken interagieren – ihn also liken, teilen oder kommentieren. Das Video zum «Büsiquäler» hat sich rasant verbreitet und enorme Klickzahlen generiert: Auf Tiktok haben es über eine Million User:innen gesehen. Tausende haben die Videos kommentiert. Das «Engagement» war riesig.

Das lag auch daran, dass die Betreiber:innen der Kanäle die Verbreitung anheizten. «Szene isch Züri» teilte die Aufnahme auf Instagram und schrieb dazu: «Die abscheulichen Täter dürfen nicht ungestraft davonkommen!» Der Betreiber forderte, dass die «volle Härte des Gesetzes» die Täter treffen sollte. Der Betreiber von «Szene isch Winti» stellte das Video auf Tiktok und kommentierte es wütend vor laufender Kamera: «Wenn ich offen sagen würde, was ich den Tätern wünsche, würde ich gesperrt werden.»

Auf das Video mit der gequälten Katze angesprochen, sagt Medienanwalt Steiger, dass das Onlinestellen vermutlich gegen das Persönlichkeitsrecht des Jugendlichen verstosse. Dieser sei im Kontext des geteilten Tatvideos identifizierbar, trotz versuchter Anonymisierung. Neben der Persönlichkeitsverletzung sieht Steiger bei einem weiteren Video möglicherweise sogar einen Straftatbestand erfüllt: «Szene isch Züri» veröffentlicht wenige Tage nach dem ersten ein zweites Video, das zwei Jugendliche zeigt, die ein ausgedrucktes und unzensiertes Foto des «Büsiquälers» auf eine Rakete kleben und diese abfeuern. Das Bild des Jugendlichen wird förmlich in die Luft gejagt. «Bei diesem Video könnte es sich um eine strafbare öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit handeln», sagt Steiger.

Der Betreiber von «Szene isch Züri» hat nicht auf Anfragen der WOZ reagiert. Die Betreiber:innen der Accounts in Winterthur und Luzern waren hingegen zu einem Gespräch bereit. Beide räumen ein, dass sie sich bewusst seien, dass sie mit ihren Videos oft gegen das Recht verstossen würden. «Wir geben aber den Personen in den Videos die Möglichkeit, sich bei uns zu melden. Falls gewollt, löschen wir die Videos sofort», rechtfertigt sich der «Szene isch Luzern»-Betreiber. Er betont weiter, dass er niemandem schaden möchte und die Videos zur «reinen Unterhaltung» teile. Obwohl sie dafür Menschen blossstellen, wollen beide Betreiber anonym bleiben.

Auch der Winterthurer Betreiber gibt an, dass seine Kanäle auf Instagram, Tiktok und Telegram die Follower:innen unterhalten sollten. Diese sind zum grössten Teil männlich und zwischen 18 und 24 Jahre alt. «Vor der Publikation treffe ich eine Selektion der Videos, wobei ich diese nach meinem Moralgefühl sortiere.» Zu Beginn sei ihm die Entscheidung schwergefallen, was er publizieren dürfe und was nicht. «Ich habe anfänglich bewusst versucht, die Grenzen auszutesten und besonders polarisierende Inhalte zu teilen.» Schon zweimal wurde er verurteilt. In einem der Fälle hat er ein Video eines Followers mit verstümmelten Körperteilen auf Telegram geteilt, was als Gewaltdarstellung gegen das Gesetz verstiess.

Zwischen Hetzjagd und Aufklärung

Dass die Videos viele junge Erwachsene zur Selbstjustiz anstacheln, wird bei einem Blick in die Kommentare der Tierquälervideos schnell klar. «Der Täter soll auf dem Scheiterhaufen brennen», lautete einer der Kommentare. «Wer ist dabei, den Typ morgen zu verhauen?», fragte ein anderer. Unzählige Kommentierende teilten den vollen Namen sowie die vermeintliche Adresse des Jugendlichen. Das führte dazu, dass sich der Onlinemob am Ende in der Realität auf die Suche nach dem mutmasslichen Täter machte.

Auch viele dieser Kommentare seien mit hoher Wahrscheinlichkeit persönlichkeitsverletzend oder strafbar, sagt Anwalt Steiger. Doch die Kommentierenden würden sich in Sicherheit wiegen, und dies nicht ohne Grund: «Wenn überhaupt, werden nur wenige für ihre Kommentare belangt», sagt Steiger. Der Schutz für Opfer von Internetprangern sei in der Schweiz ungenügend. Steiger macht weiter auf die Verantwortung der Plattformen aufmerksam: «Die Plattformen sind bei der Moderation der Kommentare sehr zurückhaltend.» Grund dafür: «In der Schweiz haben wir bis jetzt keine Plattformregulierung.»

Julian Maitra, Oberassistent am Departement für Kommunikations- und Medienforschung der Uni Fribourg, forscht zu sozialen Medien. «Die Selbstjustiz im Fall des Tierquälers hat wahrscheinlich damit zu tun, dass vielen Menschen diese Tat als besonders verwerflich erscheint», ordnet er ein. Zudem erschienen die Strafen für Tierquälerei vielen User:innen als zu wenig hart, was die Selbstjustiz weiter befördere. Die Vermutung lässt sich mit Onlinekommentaren belegen: «Ich hoffe der Täter wird gefunden und auch so richtig gequält und verschlagen. Das Gesetz sieht für solche Taten eine viel zu milde Strafe vor», heisst es dort etwa.

Maitra weist darauf hin, dass Anprangerungen im Internet nicht nur negativ zu bewerten seien: «In manchen Fällen kann das Anprangern sogar ethisch vertretbar sein.» Er nennt etwa die Videos zu Polizeigewalt in den USA an Schwarzen Menschen, die zur Black-Lives-Matter-Bewegung führten. Die Videos von Augenzeug:innen seien zentrale Beweismittel für Polizeigewalt. Ohne die Aufnahmen wäre der wachsende öffentliche Druck, strukturellen Rassismus im Justizapparat zu bekämpfen, viel weniger ausgeprägt.

Hyperlokale Algorithmen

Dass die Videos der «Szene isch»-Accounts rasante Verbreitung finden, liegt insbesondere an der Funktionsweise von Tiktok. Die chinesische Videoplattform hat in der Schweiz circa 2,5 Millionen Nutzende, von denen ein Grossteil zwischen 13 und 24 Jahre alt sind. Dies entspricht dem Zielpublikum der «Szene isch»-Kanäle. Als «Aufmerksamkeitsmonster» fördere Tiktok die Sichtbarkeit von kurzen, visuell interessanten Videos mit extremen Darstellungen, erklärt Maitra: also genau die Art von Videos, die von den «Szene isch»-Accounts publiziert würden.

Und noch eine Eigenschaft von Tiktok pusht die «Szene isch»-Inhalte: Die Algorithmen von Tiktok wirken hyperlokal – sie zeigen den Nutzenden vorrangig Videos an, die in der Nähe aufgenommen und veröffentlicht wurden. «Solche Beiträge gewinnen die Aufmerksamkeit der Nutzenden, weil sich diese mit den Orten in den Videos identifizieren können», erklärt Social-Media-Experte Wampfler. Die lokalen Inhalte erhöhten das «Engagement» der Nutzenden mit den Inhalten, was zu noch mehr Interaktion und schliesslich zur Viralität führe.

Mit ihrer Liebe zum Lokalen begründen auch die Betreiber aus Luzern und Winterthur ihre Tätigkeit auf den globalen Plattformen. «Es ist einfach geil, wenn man Videos aus seiner Stadt sieht, einen Bezug dazu herstellen kann und weiss, was auf den Strassen passiert», sagt der Luzerner Betreiber. Es gehe um das Heimatgefühl zu seiner Stadt, die er liebe. «Ich möchte mit den Videos etwas an meine geliebte Stadt zurückgeben», sagt auch der Winterthurer Betreiber.

Schnelllebig wie die sozialen Medien sind, geriet die Geschichte des «Büsiquälers» inzwischen in Vergessenheit. Doch auch dem wirken die «Szene isch»-Betreiber entgegen. Vor etwa einem Monat veröffentlichte der Winterthurer «Szene isch»-Kanal ein Video, den der Betreiber selbst «Sketch» nennt: Er nutzt im Video den echten Namen des vermuteten «Büsiquälers» – und erinnert daran, dass man diesen nicht vergessen dürfe.

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Kommentare

Kommentar von umlaut2

Do., 30.11.2023 - 12:10

«Es ist einfach geil, wenn man Videos aus seiner Stadt sieht, einen Bezug dazu herstellen kann und weiss, was auf den Strassen passiert»

Bin ich der einzige, der in diesem Zitat eine Kritik an den etablierten Lokalmedien (Regionalfernsehen, Zeitungen, Radiosender) liest, welche mit ihrer immer wie ausgedünnteren und banalen Berichterstattung über Lokales am Nerv der Zeit - und der Jugend ohnehin - vorbeizielen. Denn bei aller berechtigter Kritik am beschriebenen Internetpranger und den Persönlichkeitsverletzungen, sollte man die vielen (unbezahlten) Stunden der Admins solcher Nischen-Seiten nicht vergessen und deren Bedeutung im hyperlokalen Community-Building nicht kleinreden.

Kommentar von _Kokolorix

Fr., 01.12.2023 - 08:45

Man darf aber nicht ausser acht lassen, dass bei solchen Kanälen ein ordentlicher Batzen Geld fliesst und sich die Betreiber bewusst ausserhalb des erlaubten Rahmens bewegen, um möglichst viel Gewinn zu generieren.
Keine Lokalzeitung kann es sich erlauben, Videos und Bilder einfach so zu publizieren, ohne sich um Urheberrechte, Daten- und Persönlichkeitsschutz zu kümmern.
Müssten diejenigen, welche es geil finden, Filmchen aus ihrer näheren Umgebung anzuschauen, dafür auch nur 10 Rp bezahlen, würden sie diese nicht mit dem Hintern ansehen.
Sowohl die Unkultur der Gratis-Inhalte, als auch die inhaltliche Ausdünnung der Berichterstattung wurden von der Werbeindustrie ganz bewusst herbeigeführt.
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