Nahostkonflikt: Schneller gecancelt wurde nie

Nr. 2 –

Der Debattenraum ist eng geworden mit dem Krieg in Nahost. Vorgänge im Aussendepartement und an Universitäten zeigen eine bedenkliche Entwicklung auf.

Illustration: ein Schwarzer Filzstift und geschwärzte Dokumente
Das EDA strich mehreren palästinensischen und israelischen NGOs die Unterstützung. Die Angaben zum Wann und Warum sind zum Teil widersprüchlich.    Montage: WOZ

Am Sonntag, 22. Oktober, geschah in der guten Stube von Ignazio Cassis etwas, das höchst selten vorkommt: Cassis griff zur Zeitung. Noch im September hatte der Aussenminister an einer Wahlkampfveranstaltung seiner FDP erklärt, er lese gar keine Zeitungen mehr, «sie bringen mir nichts und tun mir nicht gut». Am besagten Sonntag im Oktober aber blätterte Cassis offenbar doch einmal durch die «SonntagsZeitung» – und scheuchte dann seinen Stab auf.

Alarmiert hatte Cassis ein Text über Unterstützungsgelder des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) für palästinensische Menschenrechtsorganisationen. Der Titel des Artikels: «Palästinenser hetzen gegen Israel und kassieren Geld von der Schweiz». Umgehend beauftragte Cassis seinen Generalsekretär Markus Seiler damit, die Auszahlung der Gelder an drei im Text genannte NGOs sistieren zu lassen. Das geht aus Unterlagen hervor, die die WOZ, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, erhalten hat. Das EDA enthielt in der Folge temporär acht weiteren palästinensischen und israelischen NGOs Unterstützungsgelder vor und veröffentlichte deren Namen auf einer schwarzen Liste – was zu grossen Schwierigkeiten für die betroffenen Organisationen führte (siehe WOZ Nr. 44/23).

Dabei blieben die Vorwürfe vage. Zusammengefasst warf die «SonntagsZeitung» den Organisationen oder einzelnen ihrer Mitarbeiter:innen fehlende Distanzierung von der Hamas und ausbleibende Verurteilung des von der Hamas am 7. Oktober in Israel verübten Massakers vor. Doch selbst die Deza, die für die Zusammenarbeit mit den NGOs zuständige Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, hatte Mühe, Fehlverhalten nachzuweisen. So meldete Deza-Direktorin Patricia Danzi an EDA-Generalsekretär Seiler zurück, beim vom Bann betroffenen palästinensischen Netzwerk PNGO habe man «zum jetzigen Zeitpunkt keine Kenntnis einer aktuellen Kommunikation, die unseren Verhaltenskodex verletzt». Bis heute will das EDA nicht sagen, welche Verstösse es geltend macht. Auf Anfrage heisst es bloss: «Bei drei Organisationen entspricht die Art und Weise, wie sie sich zur aktuellen Situation äussern, nicht unseren Erwartungen an einen solchen Akteur oder dem Verhaltenskodex für Vertragspartner des EDA, wie wir ihn interpretieren.»

«Moralische Gefühllosigkeit»

Das Verhalten des Aussendepartements mag besonders unseriös und unredlich erscheinen, aber es passt in eine Entwicklung, die sich vielerorts in der Schweiz manifestiert. Institutionen und Personen, die sich gegen den brutalen Krieg aussprechen, den Israels Regierung in Gaza führt, die Solidarität mit Palästinenser:innen äussern, die öffentlich eine palästinensische Perspektive einnehmen – ohne Sympathien für die Hamas zu äussern –, geraten sofort unter starken Druck. Nie, so hat es den Anschein, wurde schneller gecancelt als im Schatten des Nahostkriegs.

Yara Hawari arbeitet beim US-Thinktank Al-Shabaka, der kritische Analysen zur Palästinapolitik veröffentlicht. Hawaris Expertisen sind gefragt, beim britischen «Guardian» oder der BBC beispielsweise. Al-Shabaka erhält Gelder von der Heinrich-Böll-Stiftung oder den Open Society Foundations – und bis vor kurzem auch von der Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA. Knapp 60 000 Franken aus der Schweiz bekam Al-Shabaka seit 2017 jährlich. Doch seit dem Artikel in der «SonntagsZeitung» ist die Unterstützung weg. Hawari erklärt auf Anfrage, das EDA habe den Stopp der Subventionierung mit Budgetkürzungen und einem Fokuswechsel im Portfolio begründet: «Man hat uns mitgeteilt, dass der Entscheid schon vor dem 7. Oktober getroffen und kein Vertragsbruch festgestellt worden sei», sagt sie. Der öffentlichen Kommunikation des Aussendepartements widerspricht das diametral.

Für Yara Hawari zeigt sich im Entscheid des EDA, wichtigen palästinensischen NGOs die Mittel zu streichen, die «tiefe moralische Gefühllosigkeit der Schweizer Regierung». Doch das Vorgehen des EDA müsse als Teil einer weltweiten Entwicklung gesehen werden, palästinensische Organisationen zum Schweigen zu bringen. «Dies ist kein Einzelfall und sollte nicht als solcher betrachtet werden.»

Der Druck auf die Behörden ist nicht immer sichtbar. Einfluss auf den Entscheid des EDA hatten nicht nur Medien, sondern auch eine israelische Lobbygruppe namens NGO-Monitor (siehe WOZ Nr. 23/17). Diese stellt seit Jahren palästinensischen NGOs nach, denen sie israelfeindliches Verhalten unterstellt – und denunziert sie bei Geldgebern. So auch bei der Deza, wo die Kritik Wirkung entfaltete. PNGO werde regelmässig von NGO-Monitor und anderen Lobbys kritisiert, schrieb Deza-Direktorin Danzi in einem Mail an EDA-Generalsekretär Seiler, als dieser um eine Einschätzung bat.

Unklar ist die Rolle der Lobbygruppe im Fall des Palestinian Center for Human Rights (PCHR), das zuletzt 340 000 Franken pro Jahr aus der Schweiz erhalten hat. Doch Mitte September veranstaltete NGO-Monitor zusammen mit der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Israel ein Nachtessen, um Kaderleute aus dem EDA davon zu überzeugen, einzelnen Hilfsorganisationen die Mittel zu streichen. Das zeigt eine Recherche des Westschweizer Fernsehens RTS. Unterlagen, die der WOZ vorliegen, bestätigen den engen Austausch – und die Intentionen von NGO-Monitor. Die während des Abendessens vorgebrachte Detailkritik habe sich fast ausschliesslich auf PCHR bezogen, «dazu wurde eine offenbar eigens für diesen Besuch angefertigte Broschüre verteilt», protokolliert ein Mitarbeiter des EDA den Anlass. Was letztlich zum Abbruch der Finanzierung geführt hat, bleibt unklar. Das Aussendepartement bestreitet eine Einflussnahme der israelischen Regierungslobby.

Klar ist jedoch: Selten war es so einfach, mit Diffamierungen Institutionen zu erschüttern. Deutlich wird das auch in der Basler Altstadt, wo eines der neusten universitären Institute der Schweiz zu Hause ist. Hier untersuchen Forscher:innen und Studierende der Urban Studies postkoloniale Strukturen in urbanen Räumen. Bisher ohne grosse Anteilnahme der Öffentlichkeit, steht der Studiengang plötzlich im Zentrum einer hysterischen medialen und politischen Debatte. Seitdem Student:innen eine einseitige Solidaritätsbekundung mit der Bevölkerung in Gaza veröffentlich haben, läuft eine üble Kampagne gegen den Studiengang. Vor allem in den Titeln von Tamedia heisst es, das Institut sei aktivistisch und ideologisch unterwandert.

Alles wird in Verruf gebracht: ein Seminar zum europäischen Grenzregime genauso wie eine öffentliche Veranstaltung mit der Cambridge-Professorin Priyamvada Gopal, die sich mit kontroversen Aussagen für die Protestbewegung Black Lives Matter starkgemacht hat. Zudem soll eine am Institut eingereichte Dissertation angeblich antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten. Dabei wurde diese nicht nur vom Nationalfonds gefördert, sondern auch mehrfach begutachtet. Wird kritischer Sozialforschung per se gerade die Legitimität abgesprochen?

Kontroverse um Swisspeace

Derzeit läuft eine interne Untersuchung der Fakultät, um die Anschuldigungen abzuklären. Die Universitätsleitung will die Ergebnisse nächste Woche vorstellen. Dabei wird sich zeigen, ob und was von den Vorwürfen überhaupt hängen bleibt. Doch die Universität dürfte sich versucht sehen, gegen das aufmüpfige Institut vorzugehen, um die vielen Kritiker:innen zu beruhigen.

Das Schrumpfen des Debattenraums lässt sich in der Auseinandersetzung um die Urban Studies in Echtzeit verfolgen. Und vielleicht mehr noch in der Kontroverse um das an die Uni Basel angebundene Forschungsinstitut Swisspeace, das sich der Friedensförderung verschrieben hat. Dessen Leiter, Laurent Goetschel, war in Verdacht geraten, nachdem er sich im SRF-«Club» aus prinzipiellen Gründen gegen ein Verbot der Hamas ausgesprochen hatte, weil sonst auch Gruppierungen wie die kurdische PKK oder die kolumbianische Farc als terroristische Organisationen eingestuft werden könnten – und weil er eine Einstaatenlösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt als realistisch erachtet. Das Baselbieter Kantonsparlament strich daraufhin geplante Subventionen für Swisspeace. Doch Goetschel tat, was zu wenige tun: Er wehrte sich gegen die Einschüchterung. In der NZZ sprach er von einem «politischen Maulkorb für die Wissenschaft». Und vom schlechten Zustand der öffentlichen Debatte zum Nahostkrieg. Goetschel sagte einen Satz von allgemeiner Gültigkeit: «Wer nicht sagt, was man selber denkt, wird sofort in die Ecke gestellt.»