Mindestlohn: Schnitt für Schnitt aus der Prekarität

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Genf ist einer der wenigen Kantone mit einem gesetzlichen Mindestlohn. Eine Studie kommt nun zum Schluss, dass dessen Einführung nicht zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hat. Die Coiffeurbranche ist ein Beispiel dafür, wie sich die Situation der Angestellten dadurch verbessern kann.

Cristiano Ferreira schaut in den Spiegel in seinem Coiffeurgeschäft
Cristiano Ferreira ist selbstständig, sein Einkommen ist nicht vom kantonalen Mindestlohn abhängig. «Für Ungelernte machte dessen Einführung aber einen riesiegen Unterschied», sagt er.

Das Coiffeurstudio von Cristiano Batista Ferreira, das im Genfer Quartier Grottes gleich hinter dem Hauptbahnhof liegt, ist nicht auf den ersten Blick als solches zu erkennen. Wer durch die Tür in den Teil des weitläufigen Ladenlokals tritt, in dem sich sein Minisalon befindet, sieht zuerst ein Pult mit Büchern, zuvorderst einen Comic über Dandara, eine afrobrasilianische Kriegerin, die sich aus der Sklaverei befreite und gegen das Kolonialregime auflehnte.

«Sie kam aus dem Nordosten Brasiliens, genau wie ich», sagt der 37-Jährige und fängt gleich an zu erzählen: von der frühen Politisierung in der Favela, in der er aufwuchs, von seinen vielen Reisen durch Südamerika und Europa – und warum er sich nach langem Überlegen statt für ein Studium dazu entschied, Coiffeur zu werden: «Weil ich so jeden Tag die Möglichkeit habe, Menschen positiv zu beeinflussen.» Während Ferreira erzählt, führt er durch das Gebäude, das gleichzeitig Café, Concept Store und Coworking Space ist.

Seit zwei Jahren schneidet der Coiffeur seinen Kund:innen hier die Haare. Inmitten von Dekogegenständen, selbstgebasteltem Schmuck und Holzmöbeln steht ein klassischer Coiffeursessel aus schwarzem Leder, dessen Höhe sich verstellen lässt. Auch wenn der Ort vermuten lässt, dass sich hier wohl vorwiegend hippe Leute die Haare schneiden lassen, sagt Ferreira, er habe ganz unterschiedliche Kund:innen. «Anwält:innen, Student:innen, manchmal auch Politiker:innen.» Ältere Leute hingegen kämen selten hierher – und auch solche mit kleinem Portemonnaie wohl eher weniger, kostet doch ein Haarschnitt bei ihm oft um die hundert Franken. Das liegt preislich etwas über dem Durchschnitt in Genf, einer der teuersten Städte der Welt.

Wenigstens 4400 Franken

Auf die Frage, wie viel er monatlich verdiene, muss Ferreira kurz nachdenken. Seit er sein Studio im Concept Store hat, ist er selbstständig – der Traum vieler Coiffeur:innen. «Steuern, Abzüge, schwankende Kund:innenzahl …», überlegt er laut und sagt schliesslich: «Am Ende des Monats bleibt mir vielleicht ein bisschen mehr als der Mindestlohn.»

Seit der Abstimmung im September 2020, als 58 Prozent der Genfer Stimmbevölkerung Ja zur Einführung eines generellen Mindestlohns sagten, ist dieser eine Referenz im Westschweizer Kanton. Im Gegensatz zu anderen kantonalen Mindestlöhnen gilt die Genfer Regelung, genau wie die im Kanton Neuenburg, auch für Branchen, in denen ein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag (GAV) tiefere Löhne definiert. Die bereits wenige Wochen nach der Abstimmung eingeführte Untergrenze lag im November 2020 bei brutto 23 Franken pro Stunde. Dank Teuerungsausgleich verdienen Arbeitnehmende im Kanton Genf seit diesem Januar mindestens 24.32 Franken, was bei einer Vollzeitstelle einen Bruttomonatslohn von rund 4400 Franken ergibt. Das sind zwar nur knapp zwei Drittel des Medianlohns in der Schweiz. Es gibt aber Sektoren, in denen die Löhne im landesweiten Durchschnitt um einiges tiefer liegen – so etwa bei den Coiffeur:innen.

Mindestlohn-Initiativen

Seit Neuenburg 2014 als erster Kanton einen Mindestlohn einführte, hat die Idee einer Lohnuntergrenze zunehmend an Popularität gewonnen. Zunächst zaghaft, wohl entmutigt vom klaren Nein bei der Abstimmung über einen nationalen Mindestlohn, die ebenfalls 2014 stattfand, folgten inzwischen die Kantone Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt.

In der jüngsten Zeit ist Bewegung in die Sache gekommen: Die Stimmberechtigten der Städte Zürich und Winterthur haben die Einführung eines kommunalen Mindestlohns bereits an der Urne befürwortet, in der Stadt Luzern wurde eine entsprechende Initiative eingereicht. Genau wie in den Kantonen Freiburg und Waadt sowie in Baselland, wo voraussichtlich im Herbst über die Einführung eines kantonalen Mindestlohns abgestimmt wird. Im Wallis wurde letzte Woche eine entsprechende Initiative eingereicht, im Kanton Solothurn werden laut der Unia noch Unterschriften gesammelt.

Cristiano Ferreira arbeitete noch als Angestellter, als der Mindestlohn eingeführt wurde. Der Erfolg der Vorlage habe ihn gefreut. Finanziell sei der Unterschied für ihn aber nicht substanziell gewesen, da er eine Ausbildung und mehrere Jahre Berufserfahrung hatte. «Aber für die Ungelernten machte es einen riesigen Unterschied», sagt Ferreira. Tatsächlich verdienen Coiffeur:innen ohne Ausbildung in anderen Kantonen im ersten Berufsjahr laut GAV ab dem neuen Jahr 3550 Franken brutto, also 850 Franken weniger, als der Genfer Mindestlohn beträgt. Und auch bei Lehrabgänger:innen liegt der im GAV festgelegte Lohn rund 400 Franken tiefer. «Man sieht hier, dass diese Menschen bisher in sehr prekären, ja in ausbeuterischen Verhältnissen lebten», sagt Ferreira, der sich mit solchen Verhältnissen gut auskennt: Gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber ist er vor Gericht gezogen – unter anderem, weil dieser ihm über zwei Jahre lang zu wenig Lohn zahlte.

Ganz ähnlich sieht es Migmar Dhakyel. Die ehemalige Zentralsekretärin der Gewerkschaft Syna hat den neuen GAV für das Coiffeurgewerbe mitausgehandelt, darunter auch schrittweise Lohnsteigerungen im Lauf der Berufsjahre. Sie sagt, Arbeitgeber:innen würden sich regelmässig darüber beschweren, dass sich die Gewerkschaften neben dem GAV auch für kantonale Mindestlöhne einsetzten. Dabei sei das Ziel von Mindestlöhnen schliesslich, Armut zu verhindern. Entnervt fügt sie hinzu: «Wenn der GAV-Lohn also tiefer als der kantonale Mindestlohn ist, dann müssen wir uns fragen, was wir da überhaupt verhandeln!» Die Existenz kantonaler Mindestlöhne, so Dhakyel, könne bei Verhandlungen helfen, Druck aufzubauen.

Gefahr aus dem Ständerat

Dass Gewerkschaften und Angestellte den Mindestlohn und dessen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen positiv beurteilen, überrascht nicht. Nun deutet auch eine Studie der Fachhochschule Westschweiz und der Universität Genf in dieselbe Richtung. Die im vergangenen November publizierte Erhebung untersuchte die Auswirkungen des Mindestlohns auf die Arbeitslosenquote und konnte zeigen, dass sich die von Bürgerlichen geschürte Angst, ein Mindestlohn schade der Wirtschaft und führe zu Stellenabbau, nicht bestätigte. Vielmehr zeigt die Analyse der Daten laut dem Forschungsteam, dass die Zahl der Arbeitssuchenden insgesamt stabil geblieben ist. Lediglich bei den unter 25-Jährigen war die Quote leicht erhöht.

Diese Entwicklung lasse sich auch im Coiffeurgewerbe beobachten, sagt Claudine Schmid, Präsidentin der Genfer Sektion des Branchenverbands Coiffure Suisse. «Lehrabgänger:innen können oft nur noch zu sechzig bis achtzig Prozent angestellt werden», so die Coiffeuse, der finanzielle Druck auf die Arbeitgeber:innen sei zu hoch. Konkrete Erhebungen gibt es dazu bisher nicht, in den nächsten Jahren werden aber drei weitere Studien die Auswirkungen des Mindestlohns auf die Wirtschaft untersuchen.

Das Genfer Modell ist aber trotz seines Erfolgs in Gefahr. Der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin reichte im Dezember 2020 eine Motion ein, die die kantonale Souveränität in Sachen Mindestlohn beschneiden will. Konkret fordert sein Vorstoss, dass Bestimmungen in als allgemein verbindlich erklärten GAVs Vorrang vor anderslautenden Regelungen der Kantone haben sollen. Der Genfer Mindestlohn für Coiffeur:innen wäre damit passé.

Für Cristiano Ferreira ist dieser Angriff auf die kantonale Regelung unerträglich. «Dieser Politiker setzt sich ernsthaft dagegen ein, dass sich unsere Lebensbedingungen verbessern!» Tatsächlich wirkt die Motion geradezu zynisch, soll damit doch ein Instrument zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen dafür verwendet werden, genau dies zu verhindern. Die Motion Ettlin wurde bereits von beiden Räten angenommen und an den Bundesrat überwiesen, der eine Gesetzesänderung ausarbeiten soll – was noch nicht geschehen ist.

Obwohl weder Syna noch Unia bisher konkrete Massnahmen beschlossen haben, ist klar, dass mit einem Referendum der Gewerkschaften zu rechnen ist, sobald ein konkreter Gesetzesentwurf vorliegt. Cristiano Batista Ferreira ist motiviert, weiter für den Mindestlohn zu kämpfen – auch wenn er als Selbstständiger nicht mehr direkt davon betroffen ist. «Es geht um diejenigen, die angestellt sind; und auch darum, die anderen Kantone dazu zu motivieren, einen Mindestlohn einzuführen», sagt der Coiffeur bestimmt.