Frommer Pop aus Afrika

Le Monde diplomatique –

Nomcebo Zikode auf einem Konzert in Tunis, Juli 2022
Nomcebo Zikode auf einem Konzert in Tunis, Juli 2022
 
Foto: CHOKRI MAHJOUB /picture alliance/zumapress

Die erste Aufnahme geistlicher Musik von einem afrikanischen Interpreten wurde 1922 in London aufgezeichnet und liegt in den Archiven der British Library: „Jesu olugbala ni mo f’ori fun e“ („Ich gebe mich Jesus hin, dem Erlöser“). Das Lied in der westafrikanischen Sprache Yoruba stammt von Josiah Jesse „JJ“ Ransome Kuti, einem anglikanischen Priester im damaligen britischen Protektorat Nigeria. Als er acht Jahre später starb, hatte er eine Tradition begründet, die die intellektuelle und kulturelle Geschichte der Region prägen sollte.

Sein Enkel Fela Anikulapo Kuti, der Pionier des Afrobeats, genannt „Black President“, sang 1977 in „Shuffering and Shmiling“ wütend dagegen an, dass seine Landsleute blind der Religion vertrauten.

Tatsächlich wachsen die evangelikalen Kirchen in Afrika rasant. Im Jahr 2060 könnten 40 Prozent aller Christen weltweit in Afrika leben.1 Und damit wächst auch die Beliebtheit einer religiösen Musik, die sich aus dem Kontext der traditionellen Liturgie löst und außerhalb der Kirchen stattfindet.

Diese Musik entspringt der evangelikalen Bewegung der sogenannten wiedergeborenen Christen. Ihre Interpreten berufen sich auf die Erfahrung einer persönlichen Bekehrung („Wiedergeburt“) – und sie unterschieden sich von den Kirchenmusiker:innen, die keine großes Geld verdienen und nur in sakralen Räumen auftreten.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie und die Sehnsucht nach spirituellem Trost haben dazu beigetragen, dass eine neue Generation von Gospelinterpreten auch auf den Streamingportalen überaus präsent ist. Die Sänger:innen künden von den Werten der Familie und vom Wort Gottes in Lingala, Nouchi oder dem nigerianischen Pidgin. Ihre Rhythmen entlehnen sie sowohl den urbanen Genres – wie dem südafrikanischen Amapiano und dem nigerianischen Afrobeat – als auch dem US-amerikanischen Kanon der faith music (Glaubensmusik): R’n’B, Pop, gern auch großes Orchester und Geigen.

Die Talentschmieden im südlichen Afrika sind Simbabwe, Eswatini (ehemals Swasiland) und Südafrika, wo es unzählige Chöre gibt und Vokalmusik eine große Rolle spielt. Hier liegt das Zentrum dieser industriellen Nische subsaharischer Kultur. Laut einer 2015 durchgeführten Umfrage hören 13 Prozent der Südafrikaner:innen gern Gospels – fast dreimal so viele wie im globalen Durchschnitt.2 Das Genre Gospel stellt hier auf dem Musikmarkt eine ernsthafte Konkurrenz für die säkulare Popmusik dar.

Das liegt einmal an den großen Ensembles, die weit über die Grenzen hinaus bekannt sind, wie dem Soweto Gospel Choir, dann an bekannten singenden Predigern wie Benjamin Dube und nicht zuletzt an Großevents wie den SABC Crown Gospel Awards, die alljährlich im November im Fernsehen zelebriert werden.

Während der Apartheid wurde Gospelmusik durchaus kritisiert, aber sie verbreitete eben auch Hoffnung: Nicht umsonst wurde das Lied „Nkosi Sikelel’ iAfrika“ („Gott segne Afrika“), 1897 von Enoch Sontonga für den Schulchor der methodistischen Mission in Johannesburg komponiert, zur Hymne des ANC. Heute ist es eine der beiden Nationalhymnen Südafrikas.

Evans Netshivhambe, Musikethnologe an der Universität von Witwatersrand sagt: „Ein Großteil der Südafrikaner findet darin eine Substanz, mit der sie spüren und ausdrücken können, wer sie sind, was sie über ihr Leben denken, und welche Herausforderungen sie durchlebt haben.“

Das Musiklabel Motown Gospel Africa, eine Tochter des legendären Labels aus Detroit, setzte 2021 seine Unterschrift unter einen Vertrag mit dem 1994 gegründeten Gospelchor Joyous Celebration.3 Das Label sitzt in Abidjan in den Räumlichkeiten von Universal Music Africa und konnte mit christlichen afrikanischen Titeln bereits drei große internationale Erfolge feiern.

Einer von ihnen kam Ende 2019 heraus: „Jerusalema“, gesungen von Nomcebo Zikode auf Zulu. Komponist war der südafrikanische DJ und Produzent Kgaogelo Moagi alias Master KG, der einer methodistischen Kirche angehört. Über einem Limpopo-Beat (einer Variante des Afro-House) wird Gott um Schutz angerufen: „Jerusalem ist meine Heimat. Schütze mich, begleite mich, lass mich hier nicht zurück.“

Musiklabel Loveworld und Happy People

Zunächst war „Jerusalema“ nur lokal bekannt, aber auch in Angola wurde er schnell populär; über eine Dance Challenge auf Tiktok verbreitete er sich im Sommer 2020 in der ganzen Welt. Als Remix mit dem nigerianischen Superstar Burna Boy kehrte er auf dem afrikanischen Kontinent zurück. Bis heute wurde das Musikvideo auf Youtube über 566 Millionen Mal angeschaut. Nomcebo Zikode schaffte es dieses Jahr erneut in die Weltcharts: Mit dem christlichen Song „Bayethe“ erhielt sie (zusammen mit Wouter Kellerman und Zakes Bantwini) den Grammy für die beste Darbietung in der Kategorie „Global Music“.

Ein anderer afrikanischer Gospelsong machte schon früher Furore: „The Way Maker“ von der Nigerianerin Sinach. Die Predigerin und Sängerin der evangelikalen Gemeinschaft Christ Embassy des umstrittenen nigerianischen Pastors Chris Oyakhilome veröffentlichte ihn Ende 2015 auf Loveworld, dem Hauslabel ihrer Kirche. Vier Jahre später wurde er von Michael W. Smith, einem weißen Christen in den USA, aufgegriffen und zum internationalen Trostlied während der Coronapandemie. Mit „The Way Maker“ stand erstmals ein Song „made in Naija“ (Nigeria) ganz oben in den US-amerikanischen Billboard-Charts (Kategorie Christian Music).

Ein weiteres Beispiel dieser Gospelrenaissance ist der französische Popchoral „Comment ne pas te louer“ („Wie könnte man Dich nicht loben“) von Aurélien Bollevis Saniko, einem belgischen Priester kamerunischer Herkunft, Mitglied des katholischen Spiritaner-Ordens. Der eher schlichte Song ging dieses Jahr auf Tiktok viral.

Derartige Titel laufen ständig auf Trace Gospel, einem Kanal des französischen Musiksenders Trace Urban. Programmchef Curtis Blay aus Abidjan sagt dazu, diese Lieder hätten „im französischsprachigen Afrika Offenheit geschaffen“. Bisher sei man hier viel konservativer und traditioneller gewesen als in englischsprachigen Ländern. „Religiöse Musik durfte nur in der Kirche gehört werden.“

Blay erwartet, dass eine wachsende Zahl junger evangelikaler Christen diese Inspiration aufgreifen und die „Liebe zu Gott und zugleich die Leidenschaft für urbane Musik im eigenen Umfeld außerhalb des Gottesdienstes“ ausleben werde. Die französischsprachige Gospelszene sei deutlich professioneller geworden, das zeigt sich auch in ihren Videoclips. Tatsächlich steht das Video zu „Souffle“ der Kongolesin Dena Mwana von 2019 anglofonen Produktionen in nichts nach. Der Text: „Was kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat, das weißt du, Heiliger Geist, ja, du weißt es.“

Mwana war eine der ersten frankofonen Sängerinnen, die von Motown Gospel Africa unterstützt wurden. Nachdem sie über Kirchenchöre in der Demokratischen Republik Kongo bekannt geworden war, nahm das Label Happy People sie unter Vertrag. Gegründet wurde es vor zehn Jahren von ihrem Ehemann Michel Mutahali.

Happy People präsentiert sich auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn als Spezialist für „die Konzeption und Umsetzung kultureller Aktivitäten und christlicher Erbauung“. Laut Michel Mutahali hat die neue Gospelkultur zwei Ziele: Die Verbreitung des Evangeliums und „dass die Künstler von ihrem Talent leben können“.4

In der Musikszene Abidjans, der Wirtschaftshauptstadt von Côte d’Ivoire, bedeutet das, man muss „im System MP3“ sein: alle drei Monate einen neuen Song herausbringen. Souleymane Kone alias KS Bloom, ein neuer Star am Himmel des christlichen ivorischen Rap, macht nach eigener Aussage Musik, „um die Menschen Gott näher zu bringen“.5 „Der Schöpfer aller Dinge“ sei ihm 2017 selbst begegnet.

KS Bloom wurde schnell berühmt, nachdem sein Album „Allumez la lumière“ („Entzündet das Licht“) 2021 mit dem Titel „C’est Dieu“ („Es ist Gott“) erschienen war. Letzten Sommer sang er im ausverkauften Casino de Paris, allerdings ohne große Aufmerksamkeit der französischen Medien.

Ende April war er neben dem Rapper Booba eines der Highlights beim 15. Ivorischen Femua (Festival des musiques urbaines d’Anoumabo), das Salif Traoré, der Frontmann der Band Magic System, initiiert hat. Im Kielwasser des 26-jährigen KS Bloom folgen mittlerweile viele ehemalige Anhänger der Coupé-Décalé-Subkultur, die sich nach dem Unfalltod ihrer Ikone DJ Arafat 2019 einer der 4000 ivorischen evangelikalen Kirchen angeschlossen haben.

Mit den Erfolgen dieser neuen Gospelgeneration mehren sich allerdings auch interne Diskussionen. Der kongolesische christliche Rapper El George aus der DR Kongo warnte im Juli 2022 in einem Post: „Wenn man nicht aufpasst, hat die urbane christliche Musik bald keine Substanz mehr. Wenn Gott dich wirklich berufen hat, ihm in der Musikszene zu dienen, musst du auch die Vision haben, einzigartig zu sein. Und Einzigartigkeit muss du dir erarbeiten.“

Der Vater des simbabwischen Gospels, der achtzigjährige Gitarrist Machanic Manyeruke, Mitglied der Heilsarmee, hat im Laufe seines Lebens fast dreißig Alben rausgebracht. Einzigartigkeit ist für ihn kein Thema: „Man muss nur überzeugt sein von dem, was man singt.“

Seine Empfehlung an die Jungen: „Glaubt an Gott und verhaltet euch anständig, sündigt nicht. Die Welt, in der wir heute leben, ist voller Versuchungen.“6 Eine davon könnte darin bestehen, mit dem Lob Gottes zu reich werden.

1 Philip Jenkins, „How Africa is changing Faith around the world“, Pew, 5. Juli 2016.

2 Darren Thomas, „In South Africa, Gospel Music Reigns Supreme“, Voice of America, 8. Oktober 2015.

3 Murray Stassen, „Universal Music Africa and Motown Gospel Sign Superstar South African Music Group Joyous Celebration“, Music Business Worldwide, 19. März 2021.

4 „Nous avons réfléchi à ce qu’il serait possible de faire pour tout le monde“, Interview mit Michel Mutahali, Adiac, 22. Juli 2020.

5„En Côte d’Ivoire, l’engouement pour le rap chrétien“, RFI, 30. April 2023.

6 Siehe den Film von James Ault, „Machanic Manyeruke: The Life of Zimbabwe’s Gospel Music Legend“.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Jean-Christophe Servant ist Journalist.