Waffenkonzern SIG Sauer: Mit Schweizer Präzision

Nr. 18 –

Ob bei Polizeieinsätzen in Brasilien oder Attentaten in den USA: Weltweit werden Menschen mit Schusswaffen eines Konzerns getötet, der seinen Ursprung im schaffhausischen Neuhausen hat. Wie ist das möglich? Und wer profitiert davon?

Gebrauchsanleitung der SIG-Pistole P 210
«Mechanisch verriegelter Rückstosslader»: Der SIG-Bestseller P 210 besteht aus Dutzenden Teilen. Scan: Gebrauchsanleitung P210 SIG

Im Mai 2021 kamen bei einem Polizeieinsatz in der Favela Jacarezinho von Rio de Janeiro 28 Menschen ums Leben. Das Massaker war eines der schlimmsten polizeilichen Gewaltverbrechen Brasiliens. Im November desselben Jahres erschoss ein Attentäter vier Schüler:innen an der Oxford High School in der US-Metropole Detroit, sieben weitere Schüler:innen wurden verletzt. Ebenfalls im selben Jahr starteten in der Schweiz Tausende die Rekrutenschule und erhielten für die Zeit ihres Militärdiensts ein eigenes Gewehr zur Landesverteidigung, die sogenannte Ordonnanzwaffe.

Die Ereignisse haben unterschiedliche Hintergründe, fanden auf verschiedenen Kontinenten statt – und trotzdem weisen sie eine Gemeinsamkeit auf: Überall kamen Gewehre oder Pistolen von SIG Sauer zum Einsatz, einem Waffenkonzern, der seinen Ursprung in der Schweiz hat, in Neuhausen am Rheinfall. Und obwohl die Waffen an ganz unterschiedlichen Orten ausserhalb der Schweiz hergestellt und verkauft wurden, gibt es Hinweise darauf, dass Erträge der Waffenfirma zurück in die Schweiz fliessen, in den steuergünstigen Kanton Zug. Und damit an jenen Ort, wo vor über zwanzig Jahren, im September 2001, ein Attentäter im kantonalen Parlamentsgebäude vierzehn Politiker:innen erschoss – mit einer SIG-Sauer-Waffe.

eine Gedenkstätte an der Oxford High School in Oxford, 1. Dezember 2021
Mit einer SIG-Sauer-Waffe erschiesst ein Attentäter an der Oxford High School in Detroit im November 2021 vier Schüler:innen und verletzt sieben weitere. Es ist ein Attentat unter vielen, bei denen Waffen von SIG Sauer verwendet werden. Foto: Seth Herald, Reuters

Lästige Vorgaben, nützliche Nachbarn

Die Schweizerische Industrie-Gesellschaft, kurz SIG, stieg 1860 – sieben Jahre nach ihrer Gründung als Waggonfabrik – in die Waffenproduktion ein. Wenige Jahre später wurde die Schweizer Armee zur ersten grossen Abnehmerin, und schon bald konnte die Firma ihren Kundenstamm erweitern. Bereits 1927 lieferte sie grosse Mengen Maschinengewehre nach China, Brasilien oder Bolivien. Die Sturmgewehre und Pistolen aus Neuhauser Produktion waren Exportschlager. Das änderte sich erst 1974 mit der Einführung des Kriegsmaterialgesetzes, das zu einer Verschärfung der Vorgaben beim Schweizer Schusswaffenexport führte. Noch im selben Jahr traf die SIG mit der deutschen Waffenschmiede J. P. Sauer & Sohn GmbH eine Vereinbarung zur Produktion von Waffen in Deutschland, zwei Jahre später übernahm sie das Unternehmen ganz. So entstand die Firma SIG Sauer.

Das Neuhauser Unternehmen passte sich den neuen Gegebenheiten an, wie eine Recherche des Onlinemagazins «Das Lamm» detailliert nachzeichnet: An Kunden ausserhalb der Schweiz wurden statt Waffen neu Lizenzen und Maschinen zu deren Herstellung verkauft, um so die lästigen Exportkontrollen zu umgehen. Das bekannteste Beispiel: Chile. Schon in den sechziger Jahren rüstete das südamerikanische Land seine Armee unter anderem mit SIG-Gewehren aus. Als sich der chilenische General Augusto Pinochet im September 1973 an die Macht putschte und eine Gewaltherrschaft etablierte, untersagte der Bund umgehend jegliche Waffenlieferungen nach Chile.

Angehörige der chilenischen Armee bei Übungen für eine bevorstehende Parade in Santiago, Chile, 1985
Weil Direktlieferungen von Waffen an die Militärdiktatur Pinochets in Chile verboten sind, schliesst die SIG 1983 einen Lizenzvertrag mit dem staatlichen chilenischen Rüstungsunternehmen. Statt Waffen liefert sie das Know-how und Maschinen für deren Produktion. Foto: Robert Nickelsberg, Getty

Doch die Geschäfte der SIG mit der Militärdiktatur liefen weiter. 1983 schloss sie mit dem staatlichen Rüstungsunternehmen einen Lizenzvertrag für die Produktion eines Sturmgewehrs ab. Dank Lizenzen und Maschinen der Neuhauser Waffenschmiede konnte das Regime die benötigten Gewehre selbst produzieren. Zehn Millionen US-Dollar soll der Auftrag laut damaligen Medienberichten umfasst haben.

Illegal war dieses Vorgehen der SIG nicht, wie das für das Kriegsmaterialgesetz zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Nachfrage schreibt. So war die Übertragung von Immaterialgütern, einschliesslich Know-how, bis zum 1. April 1998 bewilligungsfrei. Und so kursierten über Jahre immer wieder Bilder und Berichte von chilenischen Sicherheitskräften, die die Herrschaft Pinochets mit Waffen durchsetzten, die in der Schweiz entwickelt worden waren.

Ende der neunziger Jahre beendete die SIG ihr internationales Waffengeschäft: Zu gross waren die rechtlichen Risiken und die Gefahr eines Reputationsschadens. In den USA drohte eine Klagewelle, und die Geschäftsführung beschloss, einen Konzern zu schaffen, der sich wieder auf ein anderes Kerngeschäft fokussiert – auf die Verpackungsindustrie. Heute gehört die SIG Group AG, ebenfalls mit Sitz in Neuhausen am Rheinfall, zu den wichtigsten Verpackungsunternehmen weltweit. Doch was passierte mit dem Waffengeschäft? Im Oktober 2000 übernahmen es die beiden norddeutschen Unternehmer Michael Lüke und Thomas Ortmeier und integrierten es in ihre Konzerngesellschaft L & O Holding.

historische Luftaufnahme des Fabrikgeländes der Schweizerische Industrie-­Gesellschaft (SIG), unmittelbar am Rheinfall bei Neuhausen
Unmittelbar am Rheinfall bei Neuhausen nahm die Schweizerische Industrie-­Gesellschaft (SIG) 1853 ihren Betrieb als Waggonfabrik auf. Heute ist hier der Schweizer Hauptsitz der daraus hervorgegangenen Waffenschmiede SIG Sauer. Foto: Comet Photo AG, Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich

Lüke sei ein Jäger und Waffennarr, besonders verliebt in die Blaser-Gewehre, aufwendig verzierte deutsche Jagdwaffen – so beschreibt Reinhard von Meiss den Unternehmer gegenüber der WOZ. Von Meiss, damals Konzernjurist bei der SIG Holding AG, hatte den Deal begleitet. Er habe Lüke als die treibende Kraft hinter dem Kauf erlebt und den Eindruck gehabt, dass dessen Liebhaberei bei seiner Kauflust im Vordergrund gestanden habe.

SIG Sauer sei Lüke und Ortmeier eher durch Zufall und «für ein Butterbrot» in die Hände gefallen, hatte der damalige SIG-Pressesprecher, Matthias Knill, kurz nach dem Kauf dem «Tages-Anzeiger» verraten. Offiziell kommuniziert wurde der Verkaufspreis nie. Knill wie auch von Meiss sprechen gegenüber der WOZ von deutlich weniger als einer Million Franken.

Nach dem Kauf trimmten Lüke und Ortmeier SIG Sauer auf Wachstum und trieben die Globalisierung des Unternehmens weiter voran. Auf die Übernahme folgten zwar zunächst wirtschaftlich schwierige Jahre, doch heute, mehr als zwanzig Jahre später, ist der Waffenkonzern auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. 2022 erhielt er den Zuschlag für einen riesigen Auftrag der US-Armee über 4,5 Milliarden US-Dollar. Auch in Neuhausen brüstet man sich mit diesem Deal, bewirbt den US-Armeeauftrag in einer Medienmitteilung als «Swiss Precision», Schweizer Präzision. Nachfragen über ihre konkrete Rolle in dieser Angelegenheit lässt die Firma unbeantwortet. Klar ist: Produziert wird mehrheitlich längst in New Hampshire, einem Bundesstaat im Nordosten der Vereinigten Staaten, wo SIG Sauer seit 1984 einen Standort betreibt.

Illegale Geschäfte, verurteilte Chefs

Nach der Übernahme durch die deutschen Unternehmer hatte sich das Zentrum des Konzerns zunächst nach Deutschland verschoben, in die Kleinstadt Emsdetten, wo die L & O Holding ihren Sitz hat. Produziert wurde im etwa 340 Kilometer entfernt gelegenen Eckernförde, einer Stadt an der Ostsee, mit eigenem Marinestützpunkt. Doch damit war 2020 Schluss. Wieder ging es um rechtliche Risiken, drohende Reputationsschäden.

Kathrin Vogler, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, ist in Emsdetten aufgewachsen und hat die Ereignisse damals hautnah mitbekommen: den Druck aus der Zivilgesellschaft, die Prozesse gegen SIG Sauer – und den Entscheid des Unternehmens, den Produktionsstandort in Eckernförde zu schliessen und stattdessen die Produktion in den USA auszubauen. «Die ursprüngliche Technologie besteht in den USA weiter und wird auch weiterhin für die Waffenproduktion genutzt», sagt Vogler, «einfach unter einem viel lascheren Kontrollregime.» Wohin die in den USA produzierten Waffen verkauft werden, lasse sich indes kaum nachverfolgen.

Patent- und Markenrechte

Erst verlagerte sich das Geschäft der Waffenschmiede SIG Sauer zusehends nach Deutschland, dann immer mehr an die Ostküste der USA. Eine der wenigen zuverlässigen Datenquellen, anhand deren sich diese Verschiebung nachvollziehen lässt, sind Patent- und Markenregister. So zeigt das Register der Schweiz: Im Jahr 2000 gingen beim Verkauf des SIG-Waffengeschäfts umfangreiche Patente und die dazugehörigen Markenrechte an die beiden deutschen Unternehmer Michael Lüke und Thomas Ortmeier über.

Ab den 2000er Jahren meldete die Firma vorwiegend neue Patente in Deutschland an. Der Standort in der Schweiz verlor damit nach und nach an Bedeutung, blieb aber bis 2009 Inhaber vieler Patentrechte sowie der Markenrechte an SIG Sauer.

2009 wurden dann die Markenrechte der Firma an den US-Standort übertragen. Die Patentrechte liefen derweil mehrheitlich aus, wobei neue Erfindungen direkt in den Besitz des US-Ablegers kamen.

Diese Verschiebung des SIG-Sauer-Geschäfts zeigt sich beispielhaft am Entwickler Adrian Thomele: In den nuller Jahren meldete Thomele die Patente für SIG Sauer mit seinem deutschen Wohnsitz an, mittlerweile lautet seine Adresse auf eine Villa rund zwanzig Autominuten vom US-Hauptsitz entfernt.

Der damalige Druck aus der Zivilgesellschaft geht unter anderem auf den Rüstungskritiker Jürgen Grässlin zurück. Er war es, der als Sprecher der «Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel» SIG Sauer in Deutschland vor Gericht zog – mit Erfolg. «Das war eine bombastische Sache», erinnert er sich. «Wir haben ihnen klargemacht: Einschüchtern ist zwecklos.» Das Landgericht Kiel verurteilte SIG Sauer im April 2019, weil der Waffenhersteller zwischen 2009 und 2011 mindestens 38 000 Pistolen des Typs SP2022 im Wert von sechzehn Millionen US-Dollar illegal von Deutschland über die USA nach Kolumbien exportiert hatte. Empfängerin: die kolumbianische Nationalpolizei, die seit vielen Jahren für ihren exzessiven Schusswaffengebrauch, unter anderem gegen Demonstrant:innen, kritisiert wird. Entwickelt hatte die Pistole ursprünglich die Schweizerische Industrie-Gesellschaft, produziert wurde sie zunächst in Deutschland, dann in den USA.

Die Gerichtsprozesse in Deutschland endeten mit drei Schuldsprüchen: gegen einen hochrangigen Manager, gegen Unternehmensbesitzer Michael Lüke sowie gegen Ron Cohen, den CEO des US-amerikanischen Ablegers. Lüke und Cohen erhielten Bewährungsstrafen sowie hohe Geldauflagen. Cohen wurde gar per internationalem Haftbefehl gesucht und sass nach seiner Festnahme im Oktober 2018 in Frankfurt einige Tage in Untersuchungshaft: «Weil SIG Sauer kooperierte, gab es nur Bewährungsstrafen», sagt Rüstungskritiker Grässlin, der mit Blick auf das Urteil von einem «unsäglichen Deal zwischen dem Unternehmen und dem Gericht» spricht. Dennoch stuft er die Verurteilung als grossen Erfolg ein. SIG Sauer musste eine Strafzahlung von elf Millionen Euro aus den Geschäften abtreten. Im Juni 2020 kündigte das Unternehmen an, die Produktion in Deutschland gänzlich einzustellen und den US-Standort in New Hampshire weiter auszubauen.

Dort stieg das Unternehmen innert weniger Jahre zu einem der grössten inländischen Schusswaffenproduzenten auf. Recherchen des US-amerikanischen Friedensaktivisten John Lindsay-Poland zeigen auf: SIG Sauer unterstützte 2016 den Wahlkampf von Donald Trump mit mindestens 100 000 US-Dollar und kooperierte ab 2017 mit einem Vertrauten von Mike Pence, Vizepräsident unter Trump. Mit Erfolg, wie Lindsay-Poland erklärt. So habe es während Trumps Präsidentschaft eine entscheidende Veränderung gegeben: Die Verantwortung bei Schusswaffenexporten wechselte vom Aussen- zum Wirtschaftsministerium, womit sich ein Wunsch der Waffenlobby erfüllt habe: «Unter dem neuen Regime sind die Anforderungen für Exportgeschäfte geringer, und es herrscht weniger Transparenz.» SIG Sauer weiss das zu schätzen und ist heute mit Abstand der grösste Schusswaffenexporteur der Vereinigten Staaten: mit über 100 000 exportierten Waffen allein im Jahr 2021.

Messstand an der National Rifle Association Convention am 13. April 2023 in Indianapolis
Heute ist SIG Sauer der grösste Schusswaffenexporteur der USA und drängt auf die weitere Aufweichung der Waffenexportbestimmungen. Foto: Scott Olson, Getty

Zahlen aus dem Volkszählungsbüro des US-Handelsministeriums zeigen, dass im letzten Jahr Tausende Waffen für den Privatgebrauch wie auch für Sicherheitskräfte nach Israel, Polen, Thailand oder in die Philippinen exportiert wurden. Allein nach Israel kamen letztes Jahr Waffen im Wert von über 4,5 Millionen Dollar. «Davon», so Lindsay-Poland, «gehen viele ins illegal besetzte Westjordanland, in die Hände extremistischer Siedler:innen.» Zusammen mit einer Koalition aus Nichtregierungsorganisationen fordert er deshalb stärkere Kontrollen von Waffenexporten nach Israel. Ob die aus den USA exportierten Waffen ursprünglich in der Schweiz entwickelt wurden, spielt für die hiesige Bewilligungspraxis keine Rolle: Wissenstransfers in die USA seien gemäss der Kriegsmaterialverordnung bewilligungsfrei und der Export damit Sache der US-amerikanischen Exportkontrolle, teilt das Seco mit.

Die Zusammenarbeit mit der extremen Rechten gehört bei SIG Sauer offensichtlich zum Geschäftsmodell: Im Jahr 2020 berichteten verschiedene Medien, dass der Konzern einen grossen Produktionsstandort in Brasilien aufbaue – eingefädelt von einem Sohn Jair Bolsonaros, des damaligen rechtsextremen Staatspräsidenten. Wie schon in Chile unter dem Diktator Augusto Pinochet handelte es sich um ein Lizenzgeschäft: Das brasilianische Rüstungsunternehmen Imbel produziert seither SIG-Sauer-Pistolen und weitere Waffen. Auch betreibt SIG Sauer heute einen eigenen Onlineshop speziell für den brasilianischen Markt. Im Juli 2023 wurde zudem bekannt, dass die Zivilpolizei von Rio de Janeiro, die für das Massaker in Jacarezinho verantwortlich war, 500 neue SIG-Sauer-Gewehre erhalten hatte, finanziert aus einem Fonds, den Bolsonaros Sohn aufgesetzt hatte. Statistische Daten zeigen: Brasiliens Waffenmarkt wuchs unter Bolsonaro enorm, die Zahl der Waffenlizenzen nahm während seiner Präsidentschaft um fast 600 Prozent zu. Kein Unternehmen, so schreibt das US-Medienunternehmen Bloomberg, habe mehr von dieser Zunahme profitiert als SIG Sauer.

Auftrag der Schweizer Armee läuft bis 2050

Zurück nach Neuhausen. Wozu unterhält der Waffenkonzern hier, mit spektakulärem Blick auf den Rheinfall, nach wie vor eine Produktionsstätte? Und welche Rolle spielt der Schweizer Standort noch im globalen Geschäft? Die WOZ hat während mehrerer Monate und auf verschiedenen Wegen versucht, an die Firma und deren CEO, Pasquale Caputi, zu gelangen. Sämtliche Anfragen wurden abgewehrt. Während einer Mittagspause ergab sich indes vor dem Firmengelände die Möglichkeit, mit Angestellten zu sprechen. Im Hintergrund stets gut im Blick der auf die Fassade geschriebene Slogan: «Swiss Precision».

Die Mitarbeitenden bestätigen Aussagen von Branchenkenner:innen, wonach die Hälfte des Umsatzes die Revision und die Produktion der Schweizer Armeewaffe ausmacht. Die andere Hälfte entsteht durch den Verkauf von US-Produkten. Gerade in den letzten Jahren habe das Geschäft wieder Fahrt aufgenommen. Von zeitweise zwölf Personen sei die Anzahl Beschäftigter auf gegen fünfzig gestiegen.

historisches Foto eines Soldaten welcher das Vetterli-Repetiergewehr trägt
Mit dem Vetterli-Repetiergewehr gelingt dem Neuhauser Unternehmen sogleich ein grosser Erfolg. Die Schweizer Armee rüstet ihre Soldaten mit der Waffe aus. Foto: Auguste Monbaron, Schweizerisches Nationalmuseum

Das lässt sich mit zwei Gründen erklären: Zum einen wurde 2018 der Armeeauftrag für das Sturmgewehr 90 bis ins Jahr 2050 verlängert. So würden nach wie vor Gewehre für die Armee und weitere Kundschaft hergestellt, der grösste Teil der handwerklichen Arbeit bestehe aber aus der Revision bestehender Armeewaffen. Armasuisse, die Beschaffungsorganisation der Schweizer Armee, bestätigt das. Zwischen 1990 und 2000 kaufte die Armee Sturmgewehre, Granatenwerfer und Pistolen von SIG Sauer für 564 Millionen Franken. Seither gab sie für den Kauf der gleichen Produkte nur noch 6 Millionen Franken aus, dafür aber 110 Millionen für Ersatzteile und Instandhaltung.

Der zweite Treiber der Aufwärtskurve in Neuhausen hat mit dem US-Standort zu tun: Das Hauptquartier in den Vereinigten Staaten versucht, seine Produkte vermehrt auch auf dem Schweizer Markt zu verkaufen. Zu diesem Zweck seien in den letzten Jahren viele Verkaufsleute und kaufmännische Angestellte eingestellt worden, bestätigen mehrere Mitarbeitende. Seither sei die Stimmung im Betrieb viel besser als zu Zeiten, als der Zeiger auf «kurz vor Schliessung und Verkauf» stand. Ansonsten jedoch sei in Neuhausen der Einfluss des US-Betriebs kaum spürbar. Laut Armasuisse sind bislang lediglich «einzelne Versuchswaffen» aus den USA beschafft worden.

Das könnte sich bald ändern: Derzeit evaluiert die Armee die Beschaffung einer neuen Pistole. SIG Sauer ist laut Armasuisse einer der Anbieter, deren Produkte geprüft werden. Werden also in Zukunft Pistolen aus den USA für die Schweizer Armee importiert? Armasuisse präzisiert auf Nachfrage: Die Evaluation für die Herstellung betreffe die Schweizer Firma, und man sei an einem möglichst grossen Anteil der Fertigung in der Schweiz interessiert.

Personen probieren das Sturmgewehrs 1957 an einer Ausstellung aus
Entwicklung und Produktion des Sturmgewehrs 1957, kurz Stgw 57. Dieses ist in den Folgejahren das Standardsturmgewehr der Schweizer Armee. Es wird in den 1990er Jahren durch das Stgw 90 (auch: SIG 550) abgelöst. Foto: Keystone

Trotz dieser Aussichten bleibt die Schweiz für einen exportorientierten Waffenproduzenten wie SIG Sauer nicht sonderlich attraktiv. So sind die geltenden Exportbestimmungen, trotz vieler Lücken, strikter als etwa in den USA. Doch die Schweiz trumpft mit einer anderen Eigenschaft auf: Steuerprivilegien. So fanden die beiden norddeutschen Unternehmer Lüke und Ortmeier im Jahr 2000 bald einen geeigneten Mann, um die neu erworbenen Firmen der SIG-Sauer-Gruppe in ihre Holdingstruktur zu integrieren: Rudolf Mosimann, den ehemaligen Zuger Staatsanwalt und Vertrauensmann von Marc Rich, dem wegen Steuerhinterziehung mehrfach verurteilten Rohstoffhändler. Auf die Adresse von Mosimann in Zug lauteten im Herbst 2000 nicht nur die SIG Sauer AG selbst, sondern auch zwei Holdingfirmen: die Mito Finanz AG und die S. U. S. Finanz AG. Beide sind hundertprozentige Tochterunternehmen der L&O Holding – gehören also Lüke und Ortmeier. Beide treten ihre Gewinne an den deutschen Konzern ab, und beide sind bis heute aktiv.

Aufgrund mangelnder Finanzberichte in den USA und in der Schweiz kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, welche Gewinne aus dem SIG-Sauer-Universum an die Zuger Unternehmen fliessen. Dominik Gross, Steuerpolitikexperte bei der NGO Alliance Sud, hegt trotzdem wenig Zweifel am Zweck dieser Unternehmen: «Ich sehe nicht wirklich, wozu diese Zuger Firmen sonst dienen sollten, wenn nicht, um Erträge aus dem SIG-Sauer-Geschäft steuergünstig abzuwickeln.» Der international renommierte Steuerexperte Gabriel Zucman sieht das ähnlich. Ausgehend von der Tatsache, dass Unternehmensgewinnsteuern in New Hampshire knapp unter dreissig und im Kanton Zug bei zehn bis fünfzehn Prozent oder gar tiefer liegen, «würde eine Gewinnverschiebung von New Hampshire nach Zug Sinn ergeben». Doch inwieweit eine solche Gewinnverschiebung tatsächlich stattfindet, sei für die Öffentlichkeit nicht in Erfahrung zu bringen.

Einzig die Behörden könnten darüber Auskunft geben. Oder SIG Sauer selbst. Auf Anfrage verwies die Steuerverwaltung des Kantons Zug aufs Amts- und Steuergeheimnis, und die Konzernverantwortlichen gingen gar nicht erst auf die Frage ein – obwohl die SIG Sauer AG ihre Existenz in grossen Teilen öffentlichen Geldern verdankt und der Öffentlichkeit deshalb zumindest in Teilen über ihre Geschäfte Auskunft geben sollte.

Am Tisch mit dem Wirtschaftsminister

Anlässlich der neusten Pistolenbeschaffung stellt sich umso mehr die Frage, ob die Schweizer Armee weiterhin auf ein Unternehmen setzt, das illegal Waffen exportierte und Milliardenbeträge mit Aufträgen durch den Staat umsetzt – gleichzeitig aber Steuervehikel nutzt, um möglichst wenig an diesen zurückzugeben.

Das fragt sich auch die deutsche Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler. Sie sieht insbesondere die beiden Unternehmer Lüke und Ortmeier in der Verantwortung: «Eigentum verpflichtet», sagt sie. Und fügt an: «Unternehmer, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entziehen, obwohl sie von Leistungen des Staates für Bildung, Sicherheit und Infrastruktur profitieren, sind für mich Sozialbetrüger.»

Derweil sind Lüke und Ortmeier in den Jahren nach der SIG-Übernahme in den Kreis der tausend reichsten Deutschen aufgestiegen. Allein 2021, dem letzten Jahr, zu dem Zahlen einzusehen sind, erwirtschafteten sie mit dem Waffengeschäft einen Gewinn von 149 Millionen Euro. Das ist die Erfolgsgeschichte von SIG Sauer – von der nicht zuletzt auch Donald Trump und Jair Bolsonaro profitieren, deren Politik die Waffengesetze gezielt schwächt und eine Bewaffnung der Zivilgesellschaften vorantreibt. Mit tödlichen Folgen, wie etwa beim Massaker von Jacarezinho.

Versucht die SIG Sauer AG, ähnliche Entwicklungen auch hierzulande zu ihren Gunsten zu fördern? Auf Anfrage gab der Lobbyverband Pro Tell, der sich für schwächere Waffengesetze einsetzt, keine Auskunft darüber, ob er Gelder von SIG Sauer erhält. Er teilte aber mit, dass die Finanzierung durch Mitgliederbeiträge von maximal 350 Franken erfolge. Klar ist, dass die Firma politischen Einfluss geniesst: Als Bundesrat Guy Parmelin im Februar 2023 die Schweizer Rüstungsindustrie zum Hinterzimmergespräch einlud, sass SIG Sauer mit am Tisch.

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