Flicken: Wer flickt, der hofft

Nr. 20 –

Kaputtgegangenes zu reparieren, ist oft teurer, als es durch Neues zu ersetzen. Ist das Instandsetzen also überflüssig geworden?

Daniel Huber zieht die Klinge eines langen Messers über den Schleifstein, schwungvoll und in einem Zug. Das gibt den Grobschliff. «Es sieht einfach aus, will aber gelernt sein», sagt der Jenische. Er ist einer der wenigen, die noch wirklich von März bis Oktober fahren und von den immer weniger werdenden Durchgangsplätzen aus ihre StammkundInnen aufsuchen. Sein Sohn Benjamin unterstützt ihn bei der Arbeit, aber das eigentliche Schleifen übernimmt der Vater. Nach dem Grobschliff kommen der Feinschliff auf der Gummischeibe und die Reinigung auf der Schwabbelscheibe. «So, das haut jetzt wieder», sagt Vater Huber. Das nächste Stück, eine lottrige, an der Spitze abgebrochene Papierschere, ist schwieriger zu bearbeiten. Zuerst wird die Spitze wieder zurechtgeschliffen. Die beiden Klingen greifen nicht mehr genau; mit zwei kurzen Hammerschlägen auf den Griff ist auch das wieder gerichtet. Noch ein paar Schläge auf die Niete, und die Schere lottert nicht mehr. Nach der Politur glänzt das alte Stück wie neu. «So um die zwanzig Franken kostet das», sagt Huber.

Seine Arbeit ist Flickarbeit. Flicken als technologisches und kulturelles Konzept gilt heute als altmodisch, veraltet und sogar unredlich. Denn die Dinge werden immer billiger und gleichzeitig komplizierter. Sie lassen sich kaum noch von einem Laien reparieren. Wie oft schon mussten wir kleinlaut mit einem Radio oder einer elektrischen Saftpresse unterm Arm aus dem Laden schleichen, wo wir das kaputte Ding vor zwei, drei Jahren gekauft hatten, im Ohr noch das höhnische «Sie, das ist aber uuuuralt!» des Verkäufers. Flicken wird als Metapher auch auf die Politik übertragen: «Notwendige Sanierung oder untaugliches Flickwerk?», so betitelt die NZZ vom 24. April 2007 einen Text über die anstehende Revision der Invalidenversicherung. «Flickwerk» wird dabei durchgehend negativ assoziiert, mit «Wursteln», «Mutlosigkeit», «inkohärent» und «vage».

Im Handwerklichen scheinen sich die Interpretationen der Flickarbeit im Widerspruch zwischen wurstiger Stümperei und durchaus sinnstiftender, den sozialen Frieden erhaltender Instandstellung zu erschöpfen. Flicken ist gar nicht mal so übel, jedenfalls für die, die sich das Neue nicht leisten können - ungefähr so. Dazu gesellt sich noch die Tendenz zu einer verklärenden Sicht auf die «Ästhetik der Montage», auf die Improvisation und Kreativität des «Patchworks» und auf den Reiz des Disparaten in der populären Instandstellungsarbeit - so können Recyclingprodukte aus Entwicklungsländern durchaus chic sein und bestens in die moderne Wohnung passen, zum Beispiel der aus alten, bunten Blechdosen gefertigte Aschenbecher aus Senegal oder die aus Stoffresten genähte Tasche aus Indien.

Ein Loch geflickt, zwei gemacht

War es früher anders? Jein. Zwar wurden die Dinge des täglichen Gebrauchs in der «Knappheitsgesellschaft» immer wieder geflickt und schliesslich umgenutzt; aus einer Sense wurde ein Messer, aus einem Jupe ein Kartoffelsack. Nichts wurde weggeworfen. «Mit dem Alten muss man das Neue sparen», hiess es. Aber schon die Handwerker und Fabrikanten der vor- und frühindustriellen Epochen zogen es vor, neue Produkte herzustellen, und schoben die Reparaturarbeiten AussenseiterInnen zu. Flickarbeit galt als nicht zunftfähig und unehrenhaft und wurde nicht selten mit abschätzigen Redensarten bedacht: «Ein Loch geflickt und zwei gemacht.» Ein Schuster galt mehr als ein Flickschuster. Das Flickwerk galt schon damals als billig. Das teure Neue den Reichen, das Geflickte den Armen. Geflickte Kinderkleider galten als «Landkarten der Mutterliebe», aber die «Noth- und Hülfsbüchlein für die arbeitenden Classen» mit ihren wohlmeinenden Ratschlägen, wie die Armut mit viel Fleiss, Sparsamkeit und Flickerei doch ganz gut zu ertragen sei, erlebten Dutzende von Auflagen.

«Zwei Lappen 50», sagt Jürg Bahnmüller im Scherz und zeigt auf eine Lampe aus rosa eingefärbtem Polyester, deren Fassung er eben repariert hat. Er leitet den Reparaturservice für Elektrogeräte im Bröko-Zentrum der Gemeinschaft Arche nicht weit vom Bahnhof Altstetten, einem Teil Zürichs, den selbst die meisten ZürcherInnen nur von gelangweilten Blicken aus dem Zugfenster kennen. Im Zentrum untergebracht sind weiter ein Brockenhaus, ein Restaurant mit Take-away und eine Velowerkstatt. Es geht munter zu in diesem Betrieb, der fast so etwas wie ein Quartierzentrum zwischen Lagerhallen, Lastwagendepots und unbelebten Industriebaracken ist.

Bahnmüller ist Radioelektriker. Aus ganz Zürich und der näheren Umgebung bringen die Leute ihre Geräte. Manchmal wollen sie die alten Apparate bloss deshalb behalten und reparieren lassen, weil sie wissen, wie die funktionieren. Sein Ansatz sind achtzig Franken die Stunde. Bevor er mit der Arbeit beginnt, macht er die Maximalkosten ab. Sein Betrieb ist auch Vertragswerkstatt des WWF, der für den Kanton Zürich den «Panda-Reparaturservice» aufgebaut und ins Internet gestellt hat. Das funktioniert so: Am Bildschirm den defekten Gerätetyp eingeben - zum Beispiel CD-Player - und dann im nach Regionen aufgeteilten Kanton suchen, wo es die geeigneten Reparaturmöglichkeiten dafür gibt. «Eine sehr gute Idee», sagt Jürg Bahnmüller, der monatlich zehn bis dreizehn Aufträge durch den WWF bekommt.

Neue Produkte werden immer weniger repariert. «Erstens sind sie so billig, dass ihre Reparatur oft mehr kostet als ein neues Gerät, und zweitens sind sie so schlecht gebaut, dass sie gar nicht reparaturfähig sind.» Jürg Bahnmüller sieht schwarz für die Zukunft: «Die Apparate aus den Baujahren bis etwa 1980 lassen sich in der Regel noch ganz gut reparieren. Vieles, was später produziert wurde, dieses No-Name-Zeugs, ist bloss noch Ramsch. In ein paar Jahren wird es nur noch Reparaturen geben für Apparate, die neu 1000 oder mehr Franken gekostet haben.»

In fast allen Haushalten stehen zwar Werkzeugkisten und Nähkästen in irgendwelchen Ecken, und auf den Do-it-yourself-Verkaufsflächen der Agglomerationen herrscht Hochbetrieb. Aber das geduldige Werkeln an den schlichten Artikeln des täglichen Gebrauchs mit den kulturell vermittelten Methoden des Handwerks, das wird mit den alten Zeiten assoziiert und mit dem flickenden Grosi auf dem Gemälde des Heimatmalers Albert Anker.

Die Prüfungshose

Susanna Dändliker führt seit 1982 ihr «Nähtruckli» in Hombrechtikon. Nach ihrer Lehrzeit als Damenschneiderin und einigen Umwegen im Ausland hat sie sich unabhängig gemacht. An den Wänden ihres Lokals, untergebracht in einem hübschen kleinen Haus, hängen schwarze und rote Dessous zum Verkauf, die, genauer anzusehen, dem Autor einigen voyeuristischen Mut abverlangt. Ausserdem betreibt sie hier noch eine Reinigungsannahme. Wenn sie Kleider zum Ausbessern annimmt, macht sie zuerst einen Kostenvoranschlag: «Die Kundinnen können sich oft nicht vorstellen, wie viel Zeit eine Reparatur braucht.» Sie flickt und verändert wöchentlich etwa fünfzig verschiedene Kleidungsstücke. Sehr gefragt ist der Ersatz des Futters. Oft muss sie die Nähte von Trendartikeln mit viel modischem Schnickschnack ausbessern oder Reissverschlüsse ersetzen. «Die Art Directors in den Modeateliers haben oft keine Ahnung, was gute Näharbeit ist.»

«Viele Leute kaufen gut verarbeitete Kleider aus teuren Stoffen. Die bringen sie dann auch zur Reparatur.» Sie erzählt von einer Kundin, die sich ihre «Prüfungshosen» während ihrer gesamten Studienzeit immer wieder bei ihr ausbessern liess bis zum Doktortitel. Als erste Frau im Hombrechtiker Gewerbeverein wurde Susanna Dändliker zu Beginn etwas scheel betrachtet, ist jetzt aber «voll akzeptiert».

Der geflickte Mensch

Einen lieb gewonnenen Gegenstand aufgeben, bedeutet Abschied nehmen von einem Teil der eigenen Lebensgeschichte. Kleidungsstücke können ans Herz, Werkzeuge in die Hand wachsen. Spuren von Reparaturen erinnern an das Unbeständige im Beständigen, an die Dauerhaftigkeit trotz Beschädigung, an eine zweite, eine dritte Chance. Wer flickt, der hofft.

Die erneuerten Dinge umgibt eine Aura des Einmaligen, und ihnen ist durch die oft sichtbaren Spuren ihrer Instandstellung eine unverwechselbare Geschichte aufgeprägt. Gebrauch und Zeit, die sich in die Gegenstände eingegraben haben, werden durch die Reparatur wenigstens zum Teil aufgehoben. Flicken ist so etwas wie der Kampf der Vernunft gegen Natur und Zeit.

Der Warenlift ruckelt langsam in die zweite Etage. Die Tür zum Loft steht weit offen. Die vierjährige Inanna saust mit einem Ball durch die weiss getünch ten 400 Quadratmeter, in denen gearbeitet, gegessen, geschlafen und gespielt wird, Praktikantin Tamara ordnet Daten für ein nächstes Buchprojekt im Computer, und Fritz Franz Vogel zupft Wollfusseln aus wahrscheinlich zu heiss gewaschenen Socken. Wir sind in Wädenswil in einer stillgelegten Textilfabrik. «In diesem Raum wurden früher Stoffe appretiert, sortiert und verkaufsfertig gemacht», sagt Vogel und bittet Inanna, den Besucher ein wenig herumzuführen.

Vogel hat im Jahr 2004, unterstützt von zwei Kollegen, die Ausstellung «flick gut!» im Gewerbemuseum Winterthur gestaltet. «Uns ging es vor allem darum, das Konzept Reparatur von seinem vormodernen Image zu lösen und zu zeigen, dass auch mithilfe hochmoderner Methoden - zum Beispiel in der Medizin - Reparaturarbeiten erfolgen. Darum haben wir uns bemüht, Produkte aus der Humanmedizin, wie etwa Zahn- oder Beinprothesen, in die Ausstellung zu integrieren.»

Die Presse reagierte besonders deshalb interessiert, weil in ausstellungsinternen Werkstätten Dinge, die die BesucherInnen mitgebracht hatten, repariert wurden. «Als sich das herumgesprochen hatte, entstand fast so was wie ein Massenandrang. Aber das war eigentlich nur das eine, was wir wollten. Uns schwebte auch vor, die Idee Reparatur aus dem ausschliesslich handwerklich-technischen Rahmen herauszulösen und mehr aufs Grundsätzliche, aufs allgemein Gesellschaftliche und Ästhetisch-Philosophische auszurichten.» Aber die BesucherInnen und sogar die JournalistInnen - «wie meistens bloss am Event interessiert» - hatten das Flicken als Metapher und omnipräsentes Prinzip kaum verstanden. «Alle reden nur vom Neuen aus einem Guss, als gäbe es bloss die angeblich perfekte, gerade eben produzierte glänzende Ware in den Gestellen der Kaufhäuser.»

Der Volkskundler und Kunsthistoriker plädiert stattdessen für ein anderes, vertiefteres Verständnis von Innovation, die mehr der kontinuierlichen Flickarbeit ähnelt als einem plötzlichen Geniestreich: «Flicken ist ein Topthema auf der Höhe der Zeit und kein Armutszeugnis, eine hochmoderne Strategie der Erneuerung und kein obsoletes, nur auf Ersatz beschränktes Konzept.»

Ersticken an der Perfektion

Das allmähliche Verschwinden des Flickwerks führt zu einem Gefühl des Erstickens an der Perfektion, heisst es in Susann Sitzlers Buch über das Zürcher Vorstadtquartier Schwamendingen «Vorstadt Avantgarde»: «Keine Spalten im Beton». Und weiter: «Man erstickt langsam, weil es nirgendwo Ritzen hat.» Schwamendingen ist überall dort, wo das Fehlen von Improvisation und Durchlässigkeit zu einer Sterilität geführt hat, die die lebensfeindliche Hässlichkeit grosser Teile des Schweizer Mittellands verursacht. Landschaften und Städte, die keine Spuren von Flickarbeit zeigen, sind ohne sinnlich erfahrbare Lebenszeichen; es fehlt an Beweisen für die widersprüchlichen, oft schmerzhaften Entwicklungsbrüche; nichts deutet auf Wunden, Verluste, Mängel oder Wohltaten hin.

Zuletzt erinnert Flickwerk an die Anstrengungen, den Blick auf der Oberfläche festzuhalten und ihn nicht auf die Wirklichkeit darunter vordringen zu lassen. Damit wird es Teil der Lüge, alles sei doch gut und schön. Wahrscheinlich findet sich bei fast allen Spuren der Instandstellung beides zugleich: Die Erinnerung an eine Heilung und an die tröstliche Gewissheit, dass es noch einmal gut gegangen ist, aber auch die Freude - bei einigen ist es wohl eher Wut oder Scham - darüber, dass es nicht immer gelang, die Wirklichkeit unter dem schönen Schein zu verstecken.

Flickwerk als Hilfsmittel also, um den Verschleierungsnebel wieder zu verdichten, wenn er einmal aufgerissen wurde? Um Versäumnisse zu überspielen, Unterschlagungen zu rechtfertigen und Blössen rasch zuzukleistern? Vielleicht. Aber es wird nicht funktionieren, sagt Wolf-Dieter Narr, denn: «Auch das, was eine Weile hält, ist längst noch keine heile Welt.»



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