Durch den Monat mit Jochi Weil (Teil 3): Wollten Sie auch in einem Kibbuz leben?

Nr. 50 –

Als Jugendlicher war Jochi Weil von Israel begeistert. Er träumte davon auszuwandern. Doch es kam anders: Er wurde Primarlehrer im Thurgau und engagierte sich für Reformen im Strafvollzug.

Jochi Weil: «Ich erzählte den Kindern, Israel sei ein ‹Land ohne Volk für ein Volk ohne Land›. Niemand zweifelte an dieser Geschichte.»

WOZ: Jochi Weil, offiziell heissen Sie Peter beziehungsweise Pierre. Wie sind Sie zum Namen Jochi gekommen?
Jochi Weil: In der sechsten Klasse kam 
ich in den Hashomer Hatzair Zürich, die jüdisch-zionistisch-sozialistische Jugendbewegung. Dort hatte ich einen Gruppenleiter, der Jochi hiess, eine Kurzform von Jochanan. Er war unglaublich gut in Pfadfinderei: Schnitzeljagden, Knoten machen, solche Sachen. Diesen Jochi bewunderte ich so, dass ich auch heissen wollte wie er. Seither verwende ich diesen Namen immer, wenn ich nicht unbedingt als Peter unterschreiben muss.

Kam die jüdische Geschichte beim Hashomer vor?
Ja, aber am Anfang waren mir die Pfadfindergeschichten eindeutig wichtiger. Später, als ich selber Gruppenleiter wurde, war das anders. Ich erzählte den Kindern das, was man mir erzählt hatte: Israel sei ein «Land ohne Volk für ein Volk ohne Land», es sei bei der Staatsgründung fast leer gewesen. In meinem Umfeld hatte niemand Zweifel an dieser Geschichte. Was im Hashomer ganz im Zentrum stand, war das Ziel: Man geht in einen Kibbuz, ein Wohn- und Arbeitskollektiv in Israel.

Als Freiwilligeneinsatz?
Nein, um dort zu leben. Meine erste Begegnung mit dem Sozialismus war auch im Hashomer, denn die Kibbuzim hatten damals den Anspruch, sozialistische Kollektive zu sein: gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. Bei den Älteren im Hashomer ging es darum, sich auf den Kibbuz vorzubereiten. Es hiess, man solle entweder das Gymi oder eine Lehre abschliessen. Ich machte eine Lehre als Eisenbetonzeichner, Primarlehrer wurde ich erst später.

Wollten Sie auch in einen Kibbuz?
Ich wollte nach Israel – aber vor dem Leben in einem Kollektiv hatte ich Angst. Trotzdem waren die Aktivitäten im Hashomer damals das Wichtigste in meinem Leben. Wir waren der Überzeugung, dass der Antisemitismus permanent sei und es nur einen Ausweg gebe: einen eigenen Staat. Und ich komme mütterlicherseits aus einer Holocaustfamilie. Zwei Schwestern meiner Mutter sind umgekommen, eine in Theresienstadt und eine in einem Vernichtungslager. Ich weiss bis heute nicht, in welchem. Wenn ich anfing zu fragen – und ich fragte ziemlich viel –, sagte meine Mutter immer: Bitte sprich nicht darüber.

Haben Sie als Jugendlicher Antisemitismus erlebt?
Nicht viel. Aber in Heiden in der Sekundarschule hat einmal ein Schüler zu mir gesagt: «Du huere Saujud.» Ich bin ja körperlich nicht stark, aber ich wurde dermassen wütend, dass ich auf ihn einschlug.

In Heiden? Im Appenzellerland?
Ja. 1956 liessen sich meine Eltern scheiden, und mein Bruder und ich kamen für einige Zeit ins jüdische Kinderheim Wartheim in Heiden. Zuerst war ich ein paar Wochen in einem anderen Heim. Als ich dort irgendetwas angestellt hatte, sagte die Heimleiterin: Ja, du bist halt doch, was du bist. Ich habe das so interpretiert: Du bist halt doch einfach ein Jud.

Wie lange blieben Sie im jüdischen Heim?
Eineinhalb Jahre. Dann schmissen sie mich aus diesem religiös geprägten Leben raus. Ich war kein einfaches Kind, habe immer wieder gegen Ungerechtigkeiten und Heuchelei aufbegehrt. Als ich in der Primarschule in Zürich vor die Tür musste, weil ich störte, klaute ich Geld aus den Jackentaschen anderer Kinder, um Süssigkeiten zu kaufen. Mein Vater nannte mich im Zorn Zuchthäusler, Velodieb. Das verletzte mich tief. Das Thema Kriminalität und Strafrecht hat mich auch als Erwachsener begleitet.

Inwiefern?
1971 gab ich die Stelle als Primarlehrer im Thurgau auf und wurde Mitarbeiter des Rechtsprofessors Eduard Naegeli in der Arbeitsgruppe für Strafreform an der Hochschule St. Gallen. Naegeli war ein entschiedener Gegner des Vergeltungsprinzips: Er fand, anstelle von Strafen sollten resozialisierende Massnahmen treten. Es ging auch darum, den Alltag im Gefängnis möglichst dem Normalalltag anzupassen. Naegeli ging davon aus, dass Delinquenz eine Folge von Sozialisationsdefiziten sei: Wenn du in einem Milieu auf die Welt kommst, wo man dich so annimmt, wie du bist, kannst du dich auch selbst annehmen.

Das klingt sehr nach einem Achtundsechziger.
Nein, Naegeli war ein Liberaler, aber er war seiner Zeit weit voraus. Ich war in der Arbeitsgruppe Strafreform für das Praktische zuständig: Wir vermittelten Vormundschaften, Schutzaufsichten, Beistandschaften für Straffällige und Strafentlassene. Es gab Laien, die in den Strafanstalten Gruppengespräche führten. Und wir vermittelten unentgeltliche Anwälte.

Wie waren die Reaktionen auf diese Arbeit?
Ich glaube, wir haben dazu beigetragen, den Strafvollzug liberaler und offener zu gestalten – zusammen mit vielen anderen, es gab ja damals eine richtige Bewegung zu diesen Themen. Für manche waren wir allerdings ein rotes Tuch. Einmal hatte ich eine Vormundschaft über einen Insassen der Thurgauer Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain übernommen, einen Jenischen. Als ich ihn das erste Mal besuchen wollte, jagte mich der Direktor zum Teufel. Ich kam wieder mit der Bestätigung, dass ich der Vormund sei. Da musste er mich reinlassen.

Jochi Weil (69) arbeitet seit dreissig Jahren für Medico International Schweiz, früher CSS.