Fumoir: Keine Auskunft

Nr. 9 –

Esther Banz über Gerechtigkeit im Alltag

Ich schlief einen gerechten Schlaf, als um die Ecke ein Autofahrer in eine Menschengruppe fuhr und dabei einen 39-jährigen Mann tötete. An der Zürcher Langstrasse war das, Ecke Dienerstrasse. Direkt vor der Lambada-Bar. Das ist eines von den Lokalen, die fast 24 Stunden geöffnet sind und wo Musik auf die Strasse dröhnt, wenn die schwere Tür geöffnet wird. Kleine Gruppen von Leuten stehen fast immer davor, rauchen und reden. Heute hatte einer seinen Rottweiler dabei. Der Hund tat mir ein bisschen leid mit seinem Nietenhalsband und dem ewigen Rumsitzen-Müssen mitten auf Glasscherben. Ich war auch schon in der Lambada-Bar, mit Rolle und Phil einmal, wir waren müde und melancholisch. Ich sagte: «Heute Morgen hatte es am Himmel eine Wolke, die aussah wie eine Stereoanlage.» Das stimmte tatsächlich, und wir versuchten dann gemeinsam herauszufinden, ob es eher eine Technics-, eine Thomson- oder eine Bang-&-Olufsen-Stereoanlage gewesen sein könnte.

Kurz nachdem sich das Unglück vor der Lambada-Bar ereignet hatte, berichteten Onlinemedien von einer Amokfahrt. Und weil es bei diesen Texten ja oft Kommentarspalten gibt und es offenbar ganz viele Menschen da draussen gibt, die ihre Gedanken gerne anonym mit anderen Anonymen teilen, las man nur wenige Stunden nachdem der 39-jährige Mensch verstorben war, Sachen wie: «Ein Drogendealer weniger.» Oder «Haben Sie schon mal im Handelsregister nachgeschaut, wem diese Bars gehören und von welcher Kulturgruppe und Land sie stammen?» Oder «Selber schuld, wer da rumsteht.» Nachdem die Witwen-Schüttler (so nennt man jene BoulevardjournalistInnen, die möglichst viel über Täter und Opfer rausfinden sollen) wild rumtelefoniert hatten, erfuhr man dann, dass es sich beim Toten um einen smarten Schweizer handelte, der an der ETH promoviert hatte und per Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort stand. Und von da an war nur noch der Täter Abschaum. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell die Menschen urteilen.

Der Unfall war auch auf der Hundewiese das grosse Thema. Der Restaurantbesitzer Giusi, die IT-Spezialistin Sandra, der Hauswart Peter und ich froren uns die Füsse ab im Schnee, warfen Bälle, husteten, fragten einander: «Hast du was mitgekriegt heute Morgen?» Aber niemand hatte etwas gehört. Nicht einmal Peter, der vis-à-vis wohnt. Mit klappernden Zähnen sagte er dann aber doch: «Als die Strasse schon längst abgesperrt war, hörte ich, wie ein Passant einen Polizisten anschrie mit den Worten: «Ich muss jetzt aber wirklich hier durch! Der andere dort darf ja auch! Das ist nicht fair!»

Worauf Sandra berichtete, ihr habe kürzlich ein Polizist eine Busse ausgestellt, weil sie ihren Hund nicht an der Leine hatte – während sich in der dunklen Ecke beim Durchgang zur gleichen Zeit einer in aller Seelenruhe einen Schuss habe setzen dürfen. «Die Welt», so Sandras Schlussfolgerung, «ist und bleibt ungerecht.» Ihre Worte blieben in der Luft hängen, weil Peter in dem Moment laut zitierte, was er im Smartphone las: Athen befinde sich wegen massiver Krawalle von wütenden Bürgern im Ausnahmezustand.

Letztes Wochenende führten Kulturschaffende in der Stadt Zürich Kinder in die Kunst des Videofilmens ein. Sie sollten Menschen interviewen zum Thema Gerechtigkeit. Zwei der Kinder wollten unbedingt die Kantonspolizei befragen gehen, deren Büros sich unweit des Theaterhauses befinden. Die Betreuerin hielt das für eine charmante Idee und begleitete die Kinder zur Polizei. Dort angekommen, hielt einer der Buben dem erstbesten Polizisten sein Mikrofon vors Gesicht und fragte ihn: «Grüezi. Sagen Sie uns bitte: Was ist Gerechtigkeit?» Der Polizist schaute ihn entgeistert an: «Dazu darf ich keine Auskunft geben.»

Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.