Durch den Monat mit Tiina Fahrni (Teil 4): Wie hat es Sie eigentlich nach Moskau verschlagen?

Nr. 21 –

Tiina Fahrni, Leiterin der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, schwärmt für Plattenbauten und Lokale, in denen man nicht alles bekommt, was auf der Speisekarte steht.

Tiina Fahrni: «Es ist ein unglaubliches Zusammenwirken verschiedener Umstände, das dazu führt, dass jemand dann auch mal der richtige Mensch am richtigen Ort ist.»

WOZ: Frau Fahrni, was mögen Sie an Russland besonders?
Tiina Fahrni: Das Eisenbahnnetz. Es symbolisiert die Spannweite dessen, was dieses Land ist. Mit der Eisenbahn lässt sich in erträglicher Geschwindigkeit die unglaubliche Weite dieses Landes erfahren und sehen, wie Städte, die zwar Hunderte Kilometer voneinander entfernt sind, doch Träger desselben unverkennbaren Zeichensystems sind. Die Varietät verschiedener Züge widerspiegelt die soziale Schichtung, vom modernen Hochgeschwindigkeitszug «Sapsan», der Moskau, St. Petersburg und Nischni Nowgorod verbindet, bis zu den klapprigen Vorortszügen, die in jedem Krähwinkel halten, in denen Passagiere Ziegen und Hühner transportieren und Händler auch morgens um halb sechs die unnützesten Dinge wie dreidimensionale Puzzles in Form von Dinosauriern feilbieten.

Wie hat es Sie denn eigentlich hierherverschlagen?
Da war viel Zufall im Spiel. Mit Idealismus und Leidenschaft hatte ich Ende der neunziger Jahre in Basel ein Studium in slawischer Philologie begonnen. Nach dem Abschluss stellte sich die Frage, was ich mit einer Spezialisierung auf russische, serbokroatische und tschechische Sprache und Literatur in dieser neoliberalen, auf Wirtschaftlichkeit und Gewinnmaximierung ausgerichteten Welt anfangen sollte. Wie es bei Geisteswissenschaftlern üblich ist, war ich also erst einmal arbeitslos, bevor ich im Rahmen eines Vermittlungsprogramms eine befristete Anstellung in Mazedonien erhielt. Nach einem weiteren Jahr prekärer Existenz absolvierte ich noch einen Studiengang in interkultureller Sozialarbeit in Berlin und Moskau. Die Suche nach einer sinnvollen Arbeit endete glücklich im Osteuropareferat der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Dort arbeitete ich drei Jahre lang und konnte dann die Büroleitung in Moskau übernehmen.

Es ist ein unglaubliches Zusammenwirken verschiedener Umstände, das dazu führt, dass jemand dann auch mal der richtige Mensch am richtigen Ort ist. Das macht einen auch bescheiden.

Was gefällt Ihnen an der Stadt Moskau?
Ihre Unberechenbarkeit. Die Stadt ist so riesig: Egal, wo man in Moskau hinfährt, man entdeckt immer irgendetwas Unerwartetes. Am 9. Mai zum Beispiel war ich an den Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Park des Sieges. Da waren junge, adrett gekleidete Mädchen zu beobachten, die greisen Veteranen mit einer Vielzahl von Orden am Revers, die auf den Bänken sassen, Blumen überreichten. Wegen Überlastung wurde die Metrostation für den Rückfahrverkehr gesperrt. Auf dem halbstündigen Fussweg zur nächsten Station fing ich mir zwar einen Sonnenstich ein, entdeckte dafür eine ganze Reihe interessanter Denkmäler.

Oder man stösst beim schnöden Businesslunch auf ganze Stapel einer unbekannten philosophischen Hochglanzgratiszeitschrift mit einem genialen zwanzigseitigen Special über «Dummheit».

Ist es eine schöne Stadt?
Wer wie ich Plattenbauten mag, muss sie schön finden. Wen die Gleichzeitigkeit von Alt und Neu fasziniert, von Pomp und Zerfall, von sogenannter Hochkultur und Trash und das Nebeneinander von – wie es so schön klischeemässig heisst – ganz Reich und ganz Arm, für den ist es eine schöne Stadt.

Sie waren 1997 erstmals in Moskau. Was hat sich seither verändert?
Der Dienstleistungssektor hat sich sehr verändert. Damals war ich jedes Mal stolz, wenn ich an Ticketschaltern, in einem Aeroflotbüro oder einer Gaststätte ein Anliegen formulierte und tatsächlich das bekam, was ich wollte. Heute ist das Personal in fast allen Restaurants und Cafés auf einen Service nach US-Standard getrimmt und sagt Sachen wie: «Ich hoffe, Ihnen hat der Besuch in der Schokoladniza gefallen!» Da bin ich richtig froh, wenn ich zwischendurch in einem Lokal lande, wo man etwas von der Speisekarte auswählt und die Bedienung sagt: «Das gibt es nicht.» Dann denke ich jeweils: Es ist noch nicht alles verloren.

Ist man in Ihrem Job nicht auch von der Gesellschaft isoliert und bewegt sich fast nur unter anderen Ausländern?
Ich vermeide das. Ich wohne zwar im «Deutschen Dorf», der früheren Wohnanlage für die DDR-Diplomatie, wo noch heute viele Deutsche leben. Dies jedoch aus praktischen Gründen: Ich kann von hier zu Fuss zur Arbeit gehen, was in Moskau ein grosses Privileg ist. Ich suche jedoch nicht den Kontakt zur internationalen Gemeinschaft. Meine Mitarbeitenden und die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, sind Russinnen und Russen.

Bleiben Sie gegenüber Einheimischen dennoch immer die Ausländerin?
Ja und nein. Ich versuche Zuordnungen wie «Ausländer» oder «Inländerin» weitgehend zu ignorieren. Meine Mutter ist Finnin, ich bin zweisprachig aufgewachsen und kenne nichts anderes, als immer irgendwie fremd und gleichzeitig nicht-fremd zu sein. Ich bin dort zu Hause, wo gerade mein Lebensmittelpunkt ist. Und der wandert mit mir.

Tiina Fahrni (36), aufgewachsen in Bern, leitet das Regionalbüro Moskau der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie hat ihr Slawistikstudium an der Universität Basel mit einer Arbeit über den zeitgenössischen russischen Schriftsteller Viktor Pelewin abgeschlossen und profitiert bis heute von ihrer literaturwissenschaftlichen Ausbildung.