Myanmar: In sieben Stufen zur «disziplinierten Demokratie»

Nr. 13 –

Seit über drei Jahren ist in Myanmar ein Demokratisierungsprozess in Gang, mit dem die Machthaber – nahezu ausnahmslos altgediente Militärs – geschickt einen echten Regimewechsel zu verhindern versuchen. Bisher scheint ihr Kalkül aufzugehen.

Symbol der Öffnung: Ein Buchladen in Hsipaw mit Porträts der Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi und ihres Vaters Bogyoke Aung San. Foto: Alda Burkhardt

Es herrscht Goldgräberstimmung im Land: Die Grenzen zum Nachbarland Thailand sind geöffnet, überall werden Pensionen und Luxusresorts hochgezogen, über hundert Gewerkschaften wurden zugelassen, die Pressezensur ist gelockert, und ehemalige politische Gefangene können heute Internetcafés besuchen. Fast scheint es, dass die einst hartgesottenen Militärs zu MeisterorganisatorInnen der monetären Moderne geworden sind. Doch der Wandel ist vor allem ein Mittel für den kontrollierten Machterhalt. Eine Form der Kontrolle, die allerdings selbst vormals harsche RegimegegnerInnen mit ihren Lebensentwürfen in Einklang bringen können, denn niemand sehnt sich in die Vergangenheit zurück.

Grund zur Freude haben auch die Machthabenden. Im Dezember wurden in Myanmars Hauptstadt Naypyidaw die 27. Südostasienspiele eröffnet. Nach über vierzig Jahren war dies das erste sportliche Grossereignis, das wieder in dem jahrzehntelang abgeschotteten und vom Westen geächteten Land stattfand. Und Anfang Januar übernahm die Regierung den Vorsitz des wichtigsten Regionalbündnisses – der aus zehn Staaten bestehenden Vereinigung südostasiatischer Nationen (Asean).

Birmanischer Weg zum Sozialismus

Dass der weitreichende Reformprozess ausgerechnet von den gefürchteten Streitkräften des Landes ausgeht – den Tatmadaw, die jahrzehntelang mit Gewalt gegen jede Form des zivilgesellschaftlichen Protests vorgegangen waren –, verblüfft jedoch gar die früheren KritikerInnen und wird mittlerweile auch international gelobt. Erstmals von aussen sichtbar war der Wandel bei den Parlamentswahlen im November 2010 und durch die fast zeitgleiche Entlassung von Aung San Suu Kyi aus ihrem langjährigen Hausarrest. Die bekannte Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin von 1991 ist inzwischen eine gewählte Parlamentarierin.

Ein historischer Rückblick: Im März 1962 hatte sich im damaligen Birma ein Militärregime unter General Ne Win an die Macht geputscht, dem fortan sämtliche staatlichen Behörden untergeordnet wurden. Auch wirtschaftlich und aussenhandelspolitisch übernahm die Junta das Zepter und begann eine umfassende Nationalisierung. Ein feinmaschiges klientelistisches Netz erlaubte es dem herrschenden Offizierskorps und den ihm ergebenen Geschäftsleuten, die Erlöse aus dem lukrativen Handel mit Teakholz, Edelsteinen und Drogen in die eigenen Taschen fliessen zu lassen.

Zur Legitimierung seiner umfassenden Machtbefugnisse hatte das Ne-Win-Regime, das bis 1988 an der Macht war, als Staatsdoktrin den «birmanischen Weg zum Sozialismus» entwickelt – eine Mischung aus Marxismus, Buddhismus und Nationalismus. Auf diese Weise sollte die Einheit im Vielvölkerstaat gewahrt werden – mit dem Militär als dessen Gralshüter. Erste Opfer dieses autoritären Entwicklungskurses waren die StudentInnen. Landesweit blieben Hochschulen geschlossen, Tausende Studierende schlossen sich Guerillaeinheiten an oder flüchteten nach Thailand. Gegen die RebellInnen verschiedener nationaler Minderheiten wie etwa der Mon, Shan, Karen oder Kachin ging das Militär mit grosser Härte und einem ausgefeilten Bespitzelungssystem vor.

Dass sich Ne Win so lange halten konnte, lag nicht zuletzt an Japan, das im Zweiten Weltkrieg die damalige britische Kolonie Birma besetzt hatte – und nach der Unabhängigkeit 1948 ein enger Verbündeter blieb. Die japanische Regierung war der grösste Geldgeber Myanmars und stellte dem Land zwischen 1962 und 1988 rund 2,2 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung.

Militärische Choreografie

Im Juli 1988 trat Ne Win während einer schweren Wirtschaftskrise schliesslich zurück. Die Kosten für Grundnahrungsmittel und Treibstoff vervielfachten sich, eine unangekündigte – und entschädigungslose – Entwertung verschiedener Geldnoten traf die Mittelschicht, Anfang August kam es landesweit zu Massenprotesten, die blutig niedergeschlagen wurden. In der Folge übernahm General Saw Maung die Macht, die ab September 1988 durch eine kollektive Militärführung – seit 1997 unter dem Namen «Staatsrat für Frieden und Entwicklung» (SPDC) – verkörpert wurde.

Damit hatte eine jüngere Garde die Macht übernommen. Den Ton jedoch gaben jene an, die Protegés der grauen Eminenzen waren: General Khin Nyunt zum Beispiel, Chef des Militärischen Geheimdiensts, oder General Than Shwe, stellvertretender Oberkommandierender der Streitkräfte und Vizeverteidigungsminister. Khin Nyunt, von 1997 bis August 2003 war er Erster Sekretär des Staatsrats, verkündete kurz nach seiner Ernennung zum Regierungschef 2003 einen Siebenstufenplan, der das Land «systematisch und schrittweise auf den Weg zur Demokratie» führen sollte.

Die wesentlichen Reformschritte erfolgten jedoch während der Herrschaft von Than Shwe, der ab 1992 dem Staatsrat vorstand und spätestens ab Herbst 2004 bis zu seinem Rücktritt im Februar 2011 unangefochten die Nummer eins in Myanmars Nomenklatur war. Er war es, der nach den gewaltsam niedergeschlagenen Grossdemonstrationen im Herbst 2007 geschickt einen neuen innen- und aussenpolitischen Kurs steuerte, der einen gesellschaftlichen Reformprozess im Sinn der von den Militärs ersonnenen Choreografie einleitete.

Sandalen statt Stiefel

Der Siebenstufenplan sah vor, das Land bis 2015 in eine «disziplinierte Demokratie» zu führen. In einem ersten Schritt wurde die Nationalversammlung wiedereinberufen und eine neue Verfassung ausgearbeitet, danach folgten Parlamentswahlen. Im Mai 2008 – nur wenige Tage nach dem verheerenden Zyklon Nargis, bei dem über 100 000 Menschen starben – stimmten laut offiziellen Angaben 92 Prozent der Bevölkerung der neuen Verfassung zu. Mit den Wahlen im November 2010, den ersten seit zwanzig Jahren, war eine weitere Etappe des Siebenstufenplans erreicht.

Dabei errang die von Ministerpräsident Thein Sein geführte Union Solidarity and Development Party über drei Viertel der Stimmen. Ein Viertel der Sitze im nationalen wie auch in den vierzehn regionalen Parlamenten ist laut Verfassung den Militärs vorbehalten. Thein Sein sowie andere hochrangige Generäle hatten kurz vor dem Urnengang ihre Militäruniformen abgelegt und waren in die traditionellen burmesischen Beinkleider und Sandalen geschlüpft. Anfang Februar 2011 bestimmte ihn das Parlament zum Staatspräsidenten und somit zum neuen Staatsoberhaupt.

Die von Aung San Suu Kyi geführte oppositionelle National League for Democracy (NLD) hatte hingegen die Wahlen boykottiert, was damals im Oppositionslager Unruhe und Widerspruch hervorrief. Erst bei den Nachwahlen im April 2011 trat Aung San Suu Kyi an und konnte die meisten der über vierzig für unabhängige Parteien verbleibenden Sitze für ihre NLD erringen.

International hoffähig

Die weitreichenden innenpolitischen Prozesse wurden flankiert von einer Aussenpolitik, die auf die Bedürfnisse der Herrschenden abgestimmt war. Auf westliche Regierungen brauchte das Regime dabei keine Rücksicht zu nehmen. Trotz der langjährigen Sanktionen der USA und der EU – ohnehin missachtet von Firmen wie dem britischen Autohersteller Rolls-Royce, dem Londoner Versicherungskonzern Lloyds, der französischen Ölfirma Total oder dem US-Unternehmen Chevron – hatte sich die Militärjunta behaupten können und wurde letztlich dadurch stabilisiert, da Myanmar vermehrt wirtschaftliche Beziehungen zu China, Indien, Singapur, Thailand und zum Teil auch zu Russland und Südkorea einging.

Vor allem die Volksrepublik China profitierte von der westlichen Sanktionspolitik gegen Myanmar. Beide Länder sind seit den neunziger Jahren über enge wirtschaftliche Kontakte verbunden. Das könnte sich jedoch bald ändern. Noch ist China mit über 14 Milliarden US-Dollar der mit Abstand grösste Investor in Myanmar, wo sich das Gesamtinvestitionsvolumen momentan auf 41 Milliarden US-Dollar beläuft. Doch Japan drängt auf den Markt. Anfang 2013 erliess Tokio der Regierung in Naypyidaw die Hälfte ihrer rund sechs Milliarden US-Dollar Schulden. Als Gegenleistung erwartet die japanische Regierung, dass japanische Grossunternehmen vom Boom auf dem Automobilmarkt, im Kommunikationssektor und in der Banken-, Finanz- und Immobilienbranche profitieren können.

Die Rechnung scheint aufzugehen

Um die chinesische Dominanz zu schwächen, besuchten myanmarische Regierungsvertreter, darunter Präsident Thein Sein, auch die USA. Im Gegenzug begaben sich im Dezember 2011 die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton und ein Jahr später US-Präsident Barack Obama auf Stippvisite nach Myanmar. Möglich geworden war dies nicht zuletzt deshalb, weil Obama – anders als sein Vorgänger George W. Bush – ein «pragmatisches Engagement» bevorzugt und im Juli 2009 einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit dem Staatenbündnis Asean unterschrieben hatte.

Wo immer er dieser Tage auftritt, wirbt Präsident Thein Sein demonstrativ für die Reformen in seinem Land. Dazu gehören für ihn auch die Verbesserung des Gesundheitswesens, eine Reform des Steuersystems, Gehaltserhöhungen für öffentliche Bedienstete sowie die Förderung freier Medien und zivilgesellschaftlicher Initiativen. Die Rechnung scheint bisher aufzugehen: Durch die Umgestaltung des politischen Systems kamen nun jüngere, dem Militär aber nach wie vor zugeneigte Kader an die Macht, die einen echten Regimewechsel zu vermeiden wussten. Gleichzeitig konnte das Regime mit seiner Fassadenreinigung erreichen, dass die USA und die EU die Sanktionen teilweise aufgehoben haben und ganz beenden wollen. Jetzt fehlt nur noch die letzte Etappe des Siebenstufenplans: die Wahl einer neuen Präsidentin oder eines neuen Präsidenten. Sie ist für das kommende Jahr vorgesehen.

Ein Land mit 135 nationalen Ethnien : Kämpfen und zählen im Vielvölkerstaat

Offiziell zählt der Vielvölkerstaat Myanmar, der bis 1989 Burma (dt. Birma) hiess, 135 nationale Ethnien. Viele dieser Volksgruppen fordern seit der Unabhängigkeit 1948 mehr Autonomie oder ihre Unabhängigkeit von der Zentralregierung. Ihre Gebiete liegen teilweise in Regionen mit grossen Ressourcen wie Teakholz oder Edelsteinen, die in der Vergangenheit von den Militärs ausgebeutet wurden. Dies ist mit ein Grund, weshalb die Armee jahrzehntelang gegen RebellInnengruppen vorging und Gefangene in Arbeitslager steckte. Einige der bewaffneten Organisationen haben inzwischen ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen oder beteiligen sich an Friedensverhandlungen. Die Kachin im Norden des Landes kämpfen jedoch weiter.

Angespannt ist auch die Lage im westlichen Regionalstaat Rakhine. Internationale Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer Eskalation der Gewalt. Diese könnte durch die Ende März von der Regierung angesetzte Volkszählung geschürt werden, die erste nach 31 Jahren. Streitpunkt ist der Umgang mit den annähernd eine Million Mitglieder zählenden muslimischen Rohingya. Die Regierung behandelt sie als Flüchtlinge aus dem angrenzenden Bangladesch und weigert sich, sie als StaatsbürgerInnen anzuerkennen.

Da der anstehende Zensus auch die Fragen nach der Ethnie und Religionszugehörigkeit der BürgerInnen stellt, um dadurch über die Grösse politischer Repräsentanz in den Verwaltungen auf lokaler und Provinzebene zu entscheiden, befürchten MenschenrechtsaktivistInnen eine Instrumentalisierung der Rohingya. Ab Herbst 2012 kam es wiederholt zu Angriffen auf die staatenlose Minderheit.

Rainer Werning