Türkisches Tagebuch: Keine Palastmarionetten!

Nr. 7 –

Ece Temelkuran über Lehren aus der Geschichte

7. Februar: In den Geschichtsbüchern werden einst nur die bedeutenden Entwicklungen unserer Zeit stehen. Die vermeintlich weniger wichtigen Details haben dort keinen Platz, so niederschmetternd sie für die Menschen heute auch sein mögen.

Stehen wird dort: «Um riesige Infrastrukturprojekte finanzieren zu können, ist am 5. Februar 2017 unter Beteiligung der grössten Konzerne des Landes in der Türkei ein neuer Staatsfonds gegründet worden. Weil es keine Buchprüfung geben soll, hagelt es heftige Kritik.» Verschweigen werden die Bücher hingegen, dass Yigit Bulut, ein hochrangiger Berater des Präsidenten, Mitglied im Führungskomitee des Fonds wird. Es wird sich wohl niemand daran erinnern, dass Bulut einmal ernsthaft erklärt hat, während der Gezi-Proteste hätten Attentäter versucht, Recep Tayyip Erdogan durch Telekinese umzubringen. Nun wird dieser Mann also den Wohlstand des Landes verwalten.

8. Februar: In einer einzigen Nacht sind 330 AkademikerInnen per Dekret entlassen worden – unter ihnen die angesehensten Mitglieder der akademischen Welt, die Erdogans Ambitionen kritisiert haben. Wegen der Notstandsgesetze lässt sich dieses Dekret nicht anfechten. Ankaras Theaterfakultät ist wegen der vielen Entlassungen praktisch geschlossen. «Wir werden keine Palastmarionetten sein» steht auf Transparenten, die StudentInnen an die Fassade gehängt haben.

9. und 10. Februar: Gleich hintereinander ist zweierlei geschehen. Nach einem Telefonat zwischen Erdogan und Donald Trump ist der CIA-Chef beim türkischen Präsidenten aufgekreuzt. Dann greifen russische Kampfjets in Syrien ein Gebäude mit türkischen Soldaten an. In den sozialen Medien kursiert ein Foto, das den Vater eines der getöteten Soldaten zeigt. «Wer wird ihm sagen, dass sein Sohn in einem Krieg sterben musste, der wegen der politischen Ambitionen eines einzigen Mannes begonnen wurde?» ist darunter zu lesen.

11. Februar: Nun ist es offiziell. Am 16. April soll das Referendum stattfinden, das das Land unter ein Präsidialregime stellen soll. «Endlich wird die Türkei ihre Fesseln abschütteln», kommentierte Erdogan die geplante Änderung. Derweil protestieren die entlassenen WissenschaftlerInnen vor der politologischen Fakultät der Universität Ankara – einer legendären Akademie und Kaderschmiede seit dem Osmanischen Reich. «Nieder mit der Tyrannei! Es leben die Freiheiten!», so ihr Slogan. Mit dem gleichen Motto hatten junge, progressive Osmanen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Willkürherrschaft von Sultan Abdülhamid II. gekämpft. Heute wird dieser Sultan von Erdogan-AnhängerInnen verehrt.

In den Büchern stehen einst zwar die immer wiederkehrenden Geschichten repressiver Sultane – doch nichts darüber, dass Tausende feiern, wenn AkademikerInnen ihre Arbeit verlieren.

Aus Protest haben die WissenschaftlerInnen ihre Roben vor dem Universitätsgebäude zurückgelassen. Schamlos trampelt die Polizei darauf herum. Ein weiteres historisches Bild, das beweist: Die Türkei, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Ich erinnere mich noch, wie Menschen ihre Jacken respektvoll zuknöpften, als sie ehrfürchtig diese Akademien passierten. Erdogans neue Türkei ist «von ihren Fesseln befreit» und feiert die unstillbare Ignoranz.

12. Februar: Wir befinden uns auf der Zielgeraden. Erdogan und seine AnhängerInnen sorgen dafür, dass alle, die beim Referendum Nein stimmen wollen, als TerroristInnen verunglimpft werden. Höchstpersönlich hat der Präsident klargemacht, dass nur «Terroristen» die Verfassungsänderung ablehnen. «Hoffentlich werden sie sich bis zum Abstimmungsdatum zusammenreissen», sagt er an die Adresse der grössten sozialdemokratischen Oppositionspartei. Die Leute teilen Videos von Mafiatypen, die GegnerInnen der Reform mit Waffen bedrohen.

Einst war die Wahlurne für die Regierung und Erdogan selbst heilig, ein Symbol der «wahren Volksdemokratie». Doch weil es nicht zu hundert Prozent garantiert ist, dass das Ergebnis genehm ist, könnte man nun auch die Wahlurnen abschaffen.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.