Durch den Monat mit Jessica Sigerist (Teil 3): Was raten Sie einem Jungen, der Händchen halten möchte?

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Jessica Sigerist hat mehrere Jahre als Jugendsozialarbeiterin gearbeitet. Dabei lernte sie, dass Jugendliche hinsichtlich der Sexualität dieselben Fragen beschäftigen wie Erwachsene und dass LGBTIQ-Jugendliche keine besonderen Bedürfnisse haben.

Jessica Sigerist: «Das Beste ist, die Person zu fragen. Leider gibt es immer noch das Credo, die Erotik gehe kaputt, wenn man zwischendurch etwas fragt.»

WOZ: Frau Sigerist, Sie haben sich im Ethnologiestudium sowie als Sozialarbeiterin mit Sexualität auseinandergesetzt. Wie sind Sie dazu gekommen, das Thema nun von einer ganz anderen Seite anzugehen: mit der Eröffnung eines Sextoyshops?
Jessica Sigerist: Bevor ich den Shop eröffnete, war ich sieben Jahre in der offenen Jugendarbeit tätig. Ich hatte Lust auf etwas Neues. Nach wie vor mache ich aber Workshops mit Jugendlichen oder Fachpersonen.

Welche Themen beschäftigen Jugendliche in Bezug auf Sexualität?
Ich würde sagen: dieselben, die auch Erwachsene beschäftigen. Was ich häufig höre: «Ich bin verliebt, würde gern jemanden küssen oder mit dieser Person Sex haben. Wie finde ich raus, ob mein Gegenüber das auch will?»

Letzte Woche sagten Sie, Erwachsene redeten zu wenig offen über Sex. Wie ist das bei Jugendlichen?
Im Jugendalter ist Sexualität ein grosses Thema. Manche Jungs klopfen Sprüche wie: «Ich habe schon mit tausend Frauen geschlafen.» Dabei wissen sie und ihr Umfeld sehr genau, dass das nicht stimmt. Später unter vier Augen erzählt derselbe Junge dann: «Es gibt ein Mädchen, das ich mega lässig finde. Wir waren schon ein paarmal zusammen draussen. Ich würde gerne ihre Hand halten, aber wie soll ich das bloss anstellen?»

Was raten Sie ihm?
Bei all diesen Dingen sage ich immer: Das Beste ist, die Person zu fragen. Leider gibt es immer noch das Credo, die Erotik gehe kaputt, wenn man zwischendurch etwas fragt. Dabei ist es doch schön, wenn ich mit jemandem spaziere und gefragt werde, ob ich Händchen halten möchte – falls ich das auch will. Wenn ich nicht will, ist es auch gut – dann kann ich «Nein, danke» sagen, anstatt dass meine Hand einfach gepackt wird.

Bei der Beratungsstelle Du-bist-du bilden Sie Fachpersonen im Umgang mit LGBTIQ-Jugendlichen aus. Was sind deren besondere Bedürfnisse?
Sie sind nicht anders als andere und haben dieselben Bedürfnisse. Bloss werden diese nicht immer erfüllt. Das Verlangen, nicht für die eigene sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität gehänselt zu werden, haben alle Menschen. Unsere Unterstützung kann sehr einfach sein. Zum Beispiel, indem wir den Fachpersonen Infomaterial über verschiedene sexuelle Orientierungen bereitstellen, sie zu genderneutralen WCs in Jugendtreffs animieren oder sie darauf aufmerksam machen, bei Mädchen nicht automatisch zu fragen: «Hast du einen Freund?»

Machen das viele Sozialarbeiterinnen?
Das ist sehr unterschiedlich. Aber meiner Ansicht nach ist das Thema bisher zu wenig in der Ausbildung angekommen.

Sind Jugendliche heute aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Sex verunsichert?
Diese Frage nervt mich ehrlich gesagt. Die Jugend ist so oder so eine turbulente Phase: Man entfernt sich von den Eltern, der Körper und die Hormone ändern sich, Sex wird für die meisten interessant, und viele rebellieren gegen die Erwachsenenwelt. In jeder Generation ist das mit Unsicherheit verbunden. In diesem Zusammenhang immer wieder zu hören, Jugendliche von heute schauten zu viele Pornos, finde ich anstrengend. Natürlich schauen sie mehr als früher – weil sie heute einen leichteren Zugang dazu haben. Die meisten wissen aber, dass diese Bilder weder die Realität noch ihre Wünsche darstellen. Ein positiver Aspekt von Pornografie geht in dieser Diskussion vergessen: Sie kann eine nützliche Ergänzung zum Aufklärungsunterricht sein. Zum Beispiel haben einige schwule Männer, die ich kenne, schwulen Sex durch Pornos kennengelernt und so gemerkt, dass ihnen das gefällt.

Schauen Ihrer Beobachtung nach Buben mehr Pornos als Mädchen?
Es erzählen mehr Jungs davon, aber da gibt es eine gewisse Verzerrung der Realitäten auf beiden Seiten. Zu manchen Männlichkeitsbildern gehört Pornokonsum dazu. Hier ist es spannend, zusammen zu diskutieren: Warum ist das so? Geben es die Buben einfach mehr zu? Oder sind Pornos mehr für Buben gemacht?

Sie hinterfragen mit den Jugendlichen gängige Geschlechterrollen?
Ja, denn das Geschlecht ist eine der am tiefsten greifenden Kategorisierungen, die in dieser Gesellschaft bestimmend sind. Dass Mädchen mehr über Gefühle reden als Jungs, hat seine Wahrheit – aber nicht, weil das biologisch so festgeschrieben wäre, sondern aufgrund sozialer Lernprozesse.

Kürzlich wurde ein schwules Paar vor einem Zürcher LGBTIQ-Club von jungen Männern spitalreif geprügelt. Wie weit ist Homophobie bei Jugendlichen verbreitet?
Das Problem ist absolut da. Doch die grosse Mehrheit der Jugendlichen in meinen Kursen sind sehr aufgeschlossen. Viele von ihnen fallen jeweils aus allen Wolken, wenn sie erfahren, dass homosexuelle Menschen in der Schweiz weder heiraten noch Kinder adoptieren dürfen. Für sie wäre das selbstverständlich. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.

Jessica Sigerist (33) war in den Jugendtreffs oft die erste Ansprechperson für Fragen zu Sexualität und Gender, weil sie – bis heute – gerne offen darüber redet.