Kommentar zu Pressefreiheit und Grundrechten: Die gefährliche Frau

Nr. 37 –

Ein Buch über Jolanda Spiess-Hegglin darf nicht wie geplant erscheinen. Richtig so: Jene, die laut rufen, das sei ein «Angriff auf die Pressefreiheit», verteidigen in Wahrheit misogyne Grundstrukturen.

Vor zwei Wochen wurde das Urteil gegen den «Blick» in zweiter Instanz bestätigt: Die Zeitung habe die Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin mit seiner Berichterstattung über die Zuger Landammannfeier im Jahr 2014 klar verletzt. Einige Tage später folgte eine öffentliche Entschuldigung des «Blicks» – zu spät, aber immerhin.

Damit ist das Thema aber nicht abgeschlossen. Jüngst erwirkte Spiess-Hegglin eine superprovisorische Verfügung, die das Zuger Zivilgericht vor wenigen Tagen bestätigt hat. Sie verbietet einer Journalistin des «Tages-Anzeigers», erneut über die Vorkommnisse an besagter Feier in Zusammenhang mit dem möglichen Sexualdelikt an Spiess-Hegglin zu spekulieren. Das ist kein «Buchverbot» – und erst recht kein «Anschlag auf die Pressefreiheit», wie jetzt die Betroffene und andere JournalistInnen laut schreien. Vielmehr geht es hier um die Verteidigung eines Grundrechts: Die Freiheit der Presse setzt selbstverständlich nicht das Recht des Individuums auf Privatsphäre ausser Kraft.

Dass Jolanda Spiess-Hegglin erneut recht bekam, ist für einige Menschen – vor allem für Männer – offenbar ein Sieg zu viel. Spiess-Hegglin schreibt auf Twitter, sie habe noch nie so viele frauenverachtende, sexistische Nachrichten bekommen. «Alles nur, weil das Gericht mir recht gab und sagt, dass nicht jede*r frei über meine Intimsphäre verfügen darf.» Sie benennt damit, worum es hier im Kern geht: mitnichten um die Verteidigung von Pressefreiheit und Aufklärung, sondern um die Verteidigung misogyner Grundstrukturen.

Verteidigt wird erstens der Anspruch, über die Intimsphäre von Frauen zu verfügen. Zum traditionellen Geschlechterrollenbild gehört die gesellschaftliche Anspruchshaltung gegenüber dem Innenleben von Frauen. In männerzentrierten Gesellschaften gilt, dass über die Privatsphäre von Frauen verfügt werden darf. Dass Männer, die Familie, die Gesellschaft ein Recht auf ihr Innenleben haben. Wer ein Anrecht auf die Privatsphärenverletzung von Spiess-Hegglin proklamiert, verteidigt diesen misogynen gesellschaftlichen Anspruch.

Zweitens: Eine Frau, die sich weigert, Beschuldigungen und sexistische Kommentare auf sich sitzen zu lassen, die unerschrocken die Öffentlichkeit sucht und juristische Gerechtigkeit reklamiert, fordert ein, was traditionell Männern zusteht: öffentliche Aufmerksamkeit, Definitionshoheit, Einfluss. Die erneute Hasswelle zeigt, dass eine Frau, die gegen Rollenklischees verstösst und traditionell männliche Güter beansprucht, dafür nach wie vor in die Schranken verwiesen wird.

Drittens kommt eine Grundstrategie frauenfeindlicher Agitation zum Einsatz: die Opfer-Täter-Umkehrung. Die Frau wird zur Gefahr stilisiert, hier zur Gefahr für die Pressefreiheit. Obwohl längst ein Gericht festgestellt hat, dass Jolanda Spiess-Hegglin Opfer von persönlichkeitsverletzenden Medienberichten wurde, wird sie in der Öffentlichkeit zur übermächtigen Täterin erklärt, zur «Zensorin» und zur Bedrohung. Dadurch werden Hass und Beschimpfungen gegen sie legitim, wird sie zum Abschuss freigegeben, zur Zielscheibe gemacht – im Namen unser aller Freiheit.

Die AggressorInnen stellen sich als die eigentlichen Opfer dar und geben damit vor, aus Notwehr und zum Schutz der Allgemeinheit zu handeln. In der noblen Variante, die sich nicht die Finger mit Beschimpfungen schmutzig macht, heisst es zum Beispiel: «Schwerer Angriff auf die Pressefreiheit». Bei einem «schweren Angriff» darf auch schwer zurückgeschossen werden. Und genau das wird gemacht. Mit bodenlos frauenverachtenden Angriffen, verpackt im Kleid der angeblichen Gegenwehr.

Das ist ein uraltes Muster, eine Inszenierung, die wir nicht nur von Misogynie, sondern auch von Antisemitismus, von Rassismus und anderen Feindlichkeiten kennen: Die Opfer werden zu den eigentlichen TäterInnen erklärt. Diese Strategie erlaubt es nicht nur, Ressentiments und Abscheu ungefiltert freien Lauf zu lassen, sie macht auch möglich, dass Hass als eine Tugend, als Heldentat erscheint.