«Meine Strategie ist es, den Schmerz auszustellen» Mania Akbari vermisst in ihrer Körperkunst so präzise wie poetisch den Raum zwischen Leben und Tod. Und sucht Antworten auf ihren eigenen Schmerz.

wobei 5/

Als Erstes fällt die Verstümmelung auf: Anstelle von Brüsten überziehen lange Narben den Körper der Frau. Nur in Unterhose bekleidet steht sie vor einer blauen Wand. «Relax», sagt eine Männerstimme, bevor das Klicken der Kamera ertönt. Sie folgt den Anweisungen der Stimme, streckt die Arme in die Höhe, dreht den Körper zur Seite, blickt starr an die Decke – und die Kamera klickt weiter. Die iranische Filmemacherin Mania Akbari ist im Royal Marsden Hospital in London. Hier will sie aus «den Linien des Todes eine Linie des Lebens machen», ein neues Zuhause für ihre Seele soll ihr hier gebaut werden.

Nach einer Brustkrebserkrankung musste sich die heute 45-Jährige mit 30 beide Brüste amputieren lassen. Im Film «A Moon for My Father» (2019) dokumentiert Akbari gemeinsam mit dem britischen Künstler und Bildhauer Douglas White den mehrjährigen Prozess der Wiederherstellung ihres Körpers. Schonungslos gibt sie Einblick in diese schmerzhafte Prozedur und wird bei den Spitalaufenthalten selber zu einer Skulptur, die neu modelliert wird. Als die ganze Behandlung fertig ist, entscheidet sich Akbari, der auch die Eierstöcke entfernt wurden, schwanger zu werden. Wir schauen ihr beim nächsten schmerzhaften Prozess zu: einer monatelangen Hormonbehandlung.

Die seit 2012 in London lebende Akbari ist eine der bedeutendsten zeitgenössischen iranischen Filmschaffenden – und dies obwohl sie, wie sie einmal in einem Interview sagte, Film gar nicht besonders mag. Sie sieht sich als Künstlerin, die einfach im Film die beste Form gefunden hat, sich auszudrücken. Das Thema ihrer Filme ist seit längerem der Körper. Genauer: ihr eigener durch Krankheit und Migration gezeichneter Körper.

«Was ist ein Körper?», will sie in dem in Briefform inszenierten Film «A Moon for My Father» von Douglas White wissen. Doch der Bildhauer, der sich in seinen Arbeiten intensiv mit der Körperlichkeit von Objekten auseinandersetzt, weiss es auch nicht.

Hat sie mittlerweile für sich eine Antwort gefunden? Ein Treffen mit Mania Akbari ist nicht möglich, auch für ein Videogespräch findet sie keine Zeit, zu beschäftigt ist sie. Sie schneidet gerade ihren neuen Film, organisiert Filmreihen und diskutiert mit KünstlerInnen aus der ganzen Welt Fragen zum Thema «Körper und Politik». Im Netz engagiert sie sich unablässig für politische Veränderungen im Iran. Die Fragen müssen per Mail gestellt werden.


WOZ: Mania Akbari, was ist ein Körper?
Mania Akbari: Der Körper ist alles und nichts. Wir sind nicht unser Körper, aber wir leben in ihm. Auf die Frage, was der Körper ist, gibt es keine abschliessende Antwort. Wir tragen unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft im Körper – und an der Oberfläche unseres Daseins. Wenn der Körper sich von uns abtrennt, wird er zum Staubhaufen. Ist er aber bei uns, kann er eine Atombombe bauen und Hiroshima in Staub verwandeln; er kann Roboter erschaffen oder sein Gewicht auf George Floyds Hals legen und ihn ersticken. Er kann jemandem einen Strick um den Hals legen und ihn töten. Er kann einen anderen Körper lieben, ihn berühren. Er kann sterben, und er kann töten. Er kann Leben geben und das Leben leben. Der Körper gibt sich ständig Mühe, dem Raum zwischen Leben und Tod einen Sinn zu geben.

Und was ist Ihr eigener Körper für Sie?
Mein Körper ist die mir unbekannteste Ebene meiner eigenen Existenz. Es ist dieser Körper, der den Tod gerufen hat und der dem Raum zwischen Leben und Tod einen Sinn gegeben hat. Und es ist dieser Körper, der in jeder Sekunde innere und äussere, physische und emotionale Veränderungen erfahren hat: von der einzelnen Zelle, die mein schwarzes Haar ergrauen lässt, über die Schwangerschaftsstreifen auf meinem Bauch, die davor warnen, Mutter zu werden, bis zur langen, dicken Naht, die bis zum unteren Teil meiner Brust reicht und meinen ganzen Körper entstellt.

Dieser Körper ist von innen entleert und wieder gefüllt worden. Er hat den Verlust beider Eierstöcke klaglos akzeptiert. Dieser Körper ist ohne Hormone herumgelaufen, hat sich aber auch damit abgefunden, zwanzig Pillen am Tag zu schlucken, um die Schmerzen zu lindern. Derselbe Schmerz ermöglicht einem jedoch auch, zu existieren: Er macht, dass du vielleicht eines Morgens lächelst und dem Leben antwortest: Ja, ich existiere!

Warum haben Sie sich dreizehn Jahre nach Ihrer Krebserkrankung und der Amputation Ihrer Brüste entschieden, die Brüste chirurgisch zu rekonstruieren?
Es war der Wunsch nach einer Rückkehr zur Gestalt und zum historischen Gedächtnis meines Körpers – auch ein Wunsch, die schmerzhaften Erinnerungen des Körpers an die Krebserkrankung zu durchkreuzen. Doch die körperliche Veränderung brachte nicht die erwünschte Rückkehr, sondern vielmehr etwas Neues. Eine neue Form entstand, die in die Zukunft weist. Dieser neue Körper war nicht derselbe Körper: Weder war er der Körper von vor der Krankheit noch der Körper von nach der Krankheit. Er hatte eine völlig neue Gestalt. Seine neue Form war die Fortsetzung einer Geschichte – und die Fortsetzung einer Vergangenheit.

Was hat diese «Wiederherstellung» des weiblichen Körpers mit Ihnen als Frau gemacht?
Ich glaube nicht an die Verbindung von Körper und Geschlecht. Mein Körper ist beides: männlich und weiblich, aber auch keines von beidem. Geschlecht ist eine Art des Seins – und gleichzeitig ein Gefühl des Seins.


International bekannt wurde Mania Akbari als Taxifahrerin im Film «Ten» des 2016 verstorbenen iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami. Meist mit einer schicken Sonnenbrille und einem locker über den Kopf geworfenen Kopftuch bekleidet, chauffiert sie ihren Sohn, ihre Schwester sowie andere Frauen durch Teheran. Im Taxi wird zehn Fahrten lang gestritten, geplaudert, diskutiert. Die Kamera bleibt dabei stets entweder auf ihrem Gesicht oder auf dem ihrer Mitfahrenden, manchmal mehrere Minuten lang – die Körper der ProtagonistInnen sind kaum zu sehen. Und doch – oder gerade deswegen – ist «Ten» ein extrem körperlicher Film. Die Gespräche über Beziehungen, Liebe, Scheidung, Sex, Abhängigkeiten und Freiheiten auf diesem engsten Raum geben einen intimen Einblick in den Alltag und die Stellung der Frau in der iranischen Gesellschaft. Dabei vermischt sich – wie in ihren späteren, eigenen Filmen – Fiktion und Dokumentarisches: Der Sohn im Taxi ist Akbaris eigener Sohn Amin Maher, die Schwester ihre leibliche Schwester Roya Akbari. Mania Akbari ist geschieden vom Vater ihres Sohnes – eine Trennung, die der Neunjährige seiner Mutter während der Taxifahrten immer wieder vorhält. Diesen Film zu schauen, schmerze sie noch heute, sagte Akbari vergangenes Jahr in einem Interview, denn sie könne die reale Mutter-Sohn-Beziehung nicht von der Mutter-Sohn-Beziehung auf dem Bildschirm trennen, und das stelle sie noch heute vor grosse Fragen zu ihrer Identität als Frau und als Mutter.

Identität, sexuelle Identität, Schmerz, Lust und Körperlichkeit sind die Themen von Akbaris Kunst und von ihren Filmen. Dabei geht es immer auch um die Existenz des weiblichen Körpers in einer patriarchalen Welt. Oder wie sie im wunderschönen Essayfilm «Life May Be» sagt, den sie 2014 mit dem britisch-irischen Filmemacher und Filmkritiker Mark Cousins realisierte: «Ich habe seit meiner Kindheit gelernt, dass mein Körper eine Belästigung ist, dass ich ihn bedecken muss.» Wie radikal sie sich durch ihre Arbeit von diesen patriarchalen Strukturen emanzipiert hat, die über den weiblichen – aber auch über den männlichen – Körper bestimmen, zeigt sie in einem 2018 realisierten Videointerview. Sie betritt ein Atelier, in dem Bilderrahmen an die Wand gelehnt sind, zieht sich aus, setzt sich nackt auf einen Stuhl und sagt: «Manchmal bedeutet ein Interview nicht einfach, über deine Kunst zu sprechen, sondern auch, deinen Körper und deine Ideen zu performen.»


Mania Akbari, durch Ihre Filme und Ihre Kunst ist Ihr Körper ein öffentlicher Körper geworden.
Ja, mein Körper gehört nicht mir, er ist ein kollektiver Körper. Er ist ein geopolitischer Körper, voller Verwüstung, Zerstörung und Wiederaufbau.

Ihr Körper hat extrem viele Schmerzen durchlitten – wie viel Schmerz kann ein Körper ertragen?
Der körperliche Schmerz ist – genau wie der Körper selber – das unbekannteste Prinzip überhaupt. Vielleicht ist es das Wissen um den Schmerz, das uns unser Inneres und Äusseres erkennen lässt. Ich habe kaum Antworten auf meine Schmerzen, deshalb mache ich Bilder. Vielleicht gelingt es mir mit meinen Bildern, die Schmerzen einzufangen und sie in Schach zu halten.

«10 + 4», 2007 und «A Moon for My Father», 2019

Ist es die künstlerische Arbeit, die Ihre Schmerzen überhaupt ertragbar macht?
Wir alle leiden, wir versuchen verzweifelt, uns auszudrücken – manchmal schreien wir. Jeder Mensch hat seine eigene Weise, um in Würde zu überleben. Meine Strategie ist es, den Schmerz auszubauen und auszustellen. Dass ich dadurch selber zu einer Art Skulptur werde, hilft mir. Wir alle sind sprechende Skulpturen mit den Spuren der Zeit auf unseren Körpern – wie ein Baumstamm oder ein Gemälde.

Andersherum gefragt: Hätten Sie die schmerzhafte Brusttransplantation und die Hormonbehandlung auch ohne filmische Dokumentation gemacht, oder war der Film notwendig, um das Ganze zu überstehen?
Der Körper verändert sich ständig, doch es ist uns nicht möglich, diese Veränderungen genau zu erkennen. Unser Körper ist ein Mysterium, das mit der Zeit ringt: eine interessante Ausgangslage, denn es ist ein komplexer Kampf. Nur die Kunst kann dieses Zerrinnen der Zeit überhaupt aufzeichnen. Ich will eine Verbindung herstellen zwischen dieser Verwandlung und dem Lauf der Zeit. Das Kino ist mein Instrument, um dies aufzuzeichnen.


Das filmische Festhalten ihrer körperlichen Veränderung begann 2007. Akbari war damals an Brustkrebs erkrankt und entschied sich, während ihrer Chemotherapie einen Film zu drehen. Als Grundlage diente ihr Kiarostamis Film «Ten» – wobei sie bereits drei Jahre zuvor eine Art radikalisiertes Sequel von «Ten» realisiert hatte: «20 Fingers». Darin übernahm sie Kiarostamis filmische Anlage, erweiterte sie aber formal und inhaltlich: Sie liess einen Mann und eine Frau im Auto, in einer Gondelbahnkabine, auf einem Mofa, in einem Zugabteil oder in einem Restaurant diskutieren und streiten. Alle ProtagonistInnen werden entweder von ihr selbst oder vom Schauspieler Bijan Daneshmand dargestellt, der den Film auch produzierte. Sie verkörpern Paare aus unterschiedlichen sozialen Schichten, in ihren Diskussionen geht es um Liebe und Sex, um Untreue und Homosexualität. Und stets dringt das omnipräsente Machtgefälle zwischen Mann und Frau durch. «Ich war mit einer Frau zusammen, und es war gut», sagt Akbari in einer Szene zum konsternierten männlichen Gegenüber, «und weisst du, warum? Weil ich mich mächtig fühlte.»

Der Film war international erfolgreich, im Iran selber wurde er jedoch nie gezeigt. Trotzdem machte Akbari weiter, noch radikaler und intimer. Den 2007 gedrehten Film nennt sie nun «10 + 4», der Bezug zu Kiarostami ist hier also bereits im Titel gegeben. Sie inszeniert vierzehn Begegnungen auf engstem Raum, zum Teil mit den gleichen ProtagonistInnen wie in «Ten». Sie diskutieren im Auto, in der Gondelbahnkabine, im Spitalzimmer. Fährt sie zu Beginn noch selber ihren Sohn Amin durch die Strassen – mit kahl geschorenem Kopf und bleichem, jedoch schön geschminktem Gesicht –, sitzt sie bald schon auf der Rückbank. Später liegt sie im Spitalbett, dann bei einer Freundin, die sie pflegt, im Schlafzimmer. Doch immer wieder blitzt ihr unbedingter Lebenswille auf, ihre unglaubliche Energie dringt durch ihre Müdigkeit und ihre unbändige Lust an diesem Spiel, das Leben heisst.

«Dieser Film hat mich während der gesamten Chemotherapie begleitet», sagte sie vor mehreren Jahren im Deutschlandfunk. «Für mich war dieser Film ein Anreiz, wieder gesund zu werden. Er war eine Aufgabe, die ich zu Ende führen wollte.» Sie überlebte, arbeitete weiter, machte Fotoarbeiten. Und sie realisierte 2011 einen weiteren Film, der von einer Frau erzählt, deren Gesicht durch einen Unfall zur Hälfte entstellt wurde. Kurz darauf verliess sie den Iran fluchtartig.


Mania Akbari, warum haben Sie den Iran verlassen?
Während ich im Ausland an einem Festival war, behaupteten die Machthaber der Islamischen Republik, dass ich HIV-positiv und lesbisch sei. Einmal mehr griff das politische System den weiblichen Körper und das weibliche Geschlecht an, um das Schicksal dieses Körpers zu verändern – was dann ja auch passierte. Aber jede Veränderung bedeutet Zerstörung und Erneuerung zugleich, und die Mächtigen kennen die Widerstandskraft des weiblichen Körpers nicht.

Der Körper der Frau wird seit jeher von Männern beherrscht, dominiert, bestimmt …
Der weibliche Körper ist stets ein Ort der Rebellion und des politischen Kampfes, der sich in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen zeigt. Und zwar zu jeder Zeit, egal ob er gerade küsst oder nicht, ob er gedemütigt, bedroht oder kontrolliert wird. In der Vergangenheit wurde stets versucht, den weiblichen Körper zu besitzen und zu kontrollieren.

Allerdings denke ich nicht darüber nach, ob ich eine Frau oder ein Mann bin. Das Problem liegt jenseits des Körpers – durch die Betonung des biologischen Geschlechts wird die Diskussion nur eingeengt.

Sie leben seit mehreren Jahren im Exil in England. Verändert sich der Körper an einem neuen Ort?
Geografie, Raum, Architektur, Farben, Gerüche, Formen – all das wirkt sich auf die Emotionen, das Gehirn und den Körper aus. All das verändert sogar die Gestalt und die Bewegungen des Körpers. In der Tat schreibt sich Migration als Erfahrung in den Körper ein.

Sie sagten einmal, Sie hätten kein Zuhause, Kreativität sei Ihr Zuhause: «Ich habe meine Erinnerung und meine Vergangenheit.» Wie zentral ist Ihr Körper in diesem Zusammenhang?
Unsere Identität wird durch unsere Erinnerungen geprägt. Stellen Sie sich vor, jemand verliert plötzlich alle Erinnerungen. Ich werde durch meine Erinnerungen definiert, diese Form der Vergangenheit formt mich.

Ist Ihr Körper Ihr Zuhause?
Dein Zuhause ist dort, wo du dich sicher fühlst. Wenn du dich in deinem Körper sicher fühlst, ist dein Körper dein Zuhause. Aber mein Körper ist ein Ort voller gefährlicher Erinnerungen – ich bin nicht sicher in ihm.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen