Wahlen in Frankreich: Niemand kann es besser als Macron, niemand schlechter

Nr. 25 –

Bei den Regionalwahlen hat sich gezeigt, in welch tiefer Krise Frankreichs Linke steckt. Immerhin: Der befürchtete Siegeszug der extremen Rechten ist ausgeblieben. Die grössten Erfolge feierten die bürgerlich-konservativen RepublikanerInnen. Eindrücke eines trägen Wahlsonntags.

Die Pariser Caféterrassen sind gut besucht an diesem sonnigen Sonntagmittag. Später am Abend sollen Gewitter aufziehen, und so gönnen sich viele HauptstädterInnen nach dem langen Warten auf ein Stück Normalität einen Restaurantbesuch. Noch sind pandemiebedingt kaum TouristInnen in der Stadt, selten bietet sich an den Uferpromenaden entlang der Seine ein solch entspanntes Bild. Vor den Cafés wehen Frankreichfähnchen. Es ist Fussballeuropameisterschaft, und seit einigen Tagen ist die Maskenpflicht im Freien aufgehoben. Ein Hauch von Freiheit, Erleichterung und Ferienstimmung weht durch die Stadt.

Fast könnte man vergessen, dass es in der politischen Landschaft des Landes alles andere als idyllisch zu- und hergeht und dass am heutigen Tag 48 Millionen Franzosen und Französinnen aufgerufen sind, ihre VolksvertreterInnen für die Regionen zu wählen. Vereinzelt nimmt man hier und da noch Wahlplakate wahr, von denen viele längst beschmiert, zerrissen oder vom Regen verwaschen sind. Ansonsten hört man beim Vorbeigehen mehr Kommentare zum unerwarteten Unentschieden der favorisierten Équipe Tricolore, wie die französische Fussballnationalmannschaft genannt wird, gegen Ungarn als zum letzten Urnengang vor den Präsidentschaftswahlen im nächsten Frühjahr.

Rückenwind für 2022

Der Eingang zum Wahlbüro Nummer 1 des 1. Arrondissements, gleich gegenüber dem berühmten Louvre-Museum, ist nur schwer zu finden. Clément und seine Freundin Mathilde laufen etwas verloren im Quartier herum. «Eigentlich wählen wir immer dort drüben, im Rathaus, aber da wird wohl gerade gebaut. Scheint denen ja nicht besonders wichtig, dass wir zur Wahl gehen», scherzt Mathilde. Ihr kleiner Sohn strampelt sich mit seinen Fahrradstützrädern über altehrwürdige Pariser Pflastersteine, hier im historischen, gutbürgerlichem Zentrum der Stadt, wo Armut und prekäre Lebensverhältnisse sehr weit weg sind. «Wir spazieren noch eine Runde, denn wir wissen noch gar nicht, für wen wir stimmen werden», erzählt Clément, der Anfang dreissig ist. «Es ist der letzte Stimmungstest vor den Präsidentschaftswahlen; deswegen hat die Wahl schon eine gewisse Signalwirkung. Na ja, und hier in der Gegend sind wir wahrscheinlich die Einzigen, die sich tatsächlich eine linkere Politik wünschen. Aber ganz ehrlich: Überzeugt sind wir von keiner Partei!»

Dass die Partei Rassemblement National (RN, vormals Front National) von Marine Le Pen heute Abend stärkste Partei werden könnte, sorgt bei dem Pärchen wie bei vielen Franzosen und Französinnen nur noch für Schulterzucken. «Wir haben uns daran gewöhnt», gesteht Mathilde. «Ich weiss schon, im Ausland schockt das die Menschen immer; dann heisst es, Frankreich sei rechtsextrem, oh Gott, Le Pen wird Präsidentin. Aber dieses Szenario gehört irgendwie schon dazu. Die Partei gewinnt zwar Wahlen, aber eigentlich kann sie durch das Mehrheitswahlrecht und die Stichwahlen politisch nicht wirklich etwas ausrichten.» Ob sie keine Angst hätten, dass die Tochter des Parteigründers, Rechtsextremisten und Antisemiten Jean-Marie Le Pen am Ende nicht doch 2022 Präsidentin werden könnte? «Das ist unwahrscheinlich. In letzter Konsequenz stimmt die Mehrheit in der Stichwahl immer für die andere Seite, und ihr Gegner heisst mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit Emmanuel Macron, wie beim letzten Mal, 2017.»

Nach einigem Hin und Her ist das winzige Wahllokal doch noch gefunden. Die drei Kabinen sind mehr als ausreichend, denn – so berichtet der Leiter dieses Büros – «von 1029 hier Wahlberechtigten haben jetzt, kurz nach 13 Uhr, erst 159 ihre Stimme abgegeben. Ich mache das hier schon ein paar Jahre, aber so leer wie heute war es noch nie.» Man rätselt belustigt, ob es am Fussballkater vom Vortag, am schönen Wetter oder einfach daran liegt, dass in einem derart zentralistischen Land auf lokaler und regionaler Ebene kaum Bedeutsames entschieden werden kann.

Gerade kommt Marie-José aus der Kabine, die das Wählen trotz ihrer neunzig Jahre als erste Bürgerpflicht ansieht. «Ich finde, der Präsident gibt eigentlich eine stattliche Figur ab. Er ist so typisch französisch, das gefällt mir.» Ob es nicht eigentlich um die Frage gehe, wer in Zukunft an der Spitze der Metropolenregion Île-de-France stehen wird und welche Entscheidungen dann für immerhin zwölf Millionen BewohnerInnen im Grossraum Paris getroffen werden? «Ich glaube, das interessiert die meisten gar nicht. Wer weiss schon genau, über was ein Regionalrat eigentlich entscheiden kann. Ich glaube eher an den Schneeballeffekt des Wahlausgangs. Wer jetzt gewinnt, kann in den kommenden Monaten stärker werden. Voilà, deswegen gebe ich Macron heute Rückenwind.»

Dass eigentlich gar nicht der Präsident gewählt wird, sondern in zwei Wahlrunden die dreizehn Regionalräte, die in Frankreich zuallererst für die Infrastruktur und für wirtschaftliche Entwicklung und den Bau von Schulen zuständig sind, ist für Marie-José wie für die meisten Franzosen und Französinnen nebensächlich. Darum erstaunt es nicht, dass die Parteien in den letzten Wochen in Fernsehrunden und auf Marktplätzen versucht haben, mit Themen wie der inneren Sicherheit zu punkten, wenngleich diese gar nicht in den Kompetenzbereich der Regionen fällt. So warb das Rassemblement National mit Sprüchen wie «Le choix de la sécurité» (Die Wahl für Sicherheit). Marine Le Pens Leute versuchten einfach in gewohnter Manier, das Gefühl zu nähren, Frankreich sei in Gefahr und nur Le Pen könne das Land vor dem Untergang bewahren. Der Kampf um die Präsidentschaft hat längst begonnen.

Linkes Durcheinander

Szenenwechsel. Auch im 19. Pariser Arrondissement sucht man vergeblich nach Schlangen vor den Wahllokalen. Hier, im Multikultiviertel mit seinen vielen Sozialwohnungen, bietet sich das gleiche Bild wie beim Louvre: gähnende Leere. Nur etwas mehr als fünfzehn Prozent der Wahlberechtigten sind am frühen Nachmittag an die Urnen gegangen, dabei würden gerade die hier lebenden Menschen von besserer Infrastruktur und besser ausgestatteten Schulgebäuden profitieren.

Die 25-jährige Thérèse will dieses Mal die Grünen wählen, denn «irgendwer muss ja die Führungsrolle der Linken übernehmen, und was die Regierung bislang in Sachen Klimaschutz auf den Weg gebracht hat, ist beschämend.» Allerdings seien die französischen Grünen jedes Mal, wenn sie in die Regierung geholt wurden, eine Enttäuschung gewesen und hätten ihre Ideale verraten. Dabei hätte die Linke in einem gemeinsamen Bündnis der Bewegung La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon, der Grünen unter Yannick Jadot (EELV), der SozialistInnen (PS) und der Kommunistischen Partei durchaus Chancen, regional und national Mehrheiten zustande zu bringen. So ergab das wöchentliche Politikbarometer Harris Interactive Anfang Juni, dass die Kandidaten Mélenchon (11 Prozent), Jadot (6 Prozent) und die mögliche sozialistische Kandidatin Anne Hidalgo (7 Prozent) im Zusammenschluss immerhin in die Nähe der derzeit vorausgesagten 25 Prozent für Macron und der 28 Prozent für Marine Le Pen in der ersten Wahlrunde kommen könnten.

Doch stattdessen bietet sich auf der linken Seite das Bild eines unversöhnlichen Lagers, in dem es mehr um das Ego von überwiegend männlichen, weissen, mittelalten Männern geht als um gemeinsame politische Interessen. Dabei könnte eine vereinte Linke gemäss einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP zur stärksten politischen Kraft im Land werden, und über siebzig Prozent der SympathisantInnen der linken Parteien wünschen sich für die Präsidentschaftswahl eineN EinheitskandidatIn.

Beliebt sind unter den AnhängerInnen der SozialistInnen die ehemalige Justizministerin Christiane Taubira oder die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, zwei Frauen, die durchaus das Potenzial besitzen, alte und neue WählerInnen an sich zu binden. Bislang haben sich allerdings beide noch nicht offiziell zu einer möglichen Kandidatur geäussert. Jean-Luc Mélenchon, der die linke Bewegung La France Insoumise anführt, hat indes bereits angekündigt, wie schon 2012 und 2017 ins Rennen um die Präsidentschaft zu steigen, doch vielen moderaten linken WählerInnen ist der talentierte Redner zu populistisch und spalterisch. Der bekannte Philosoph Raphaël Enthoven sorgte kürzlich für Empörung, als er auf Twitter schrieb, er würde in der zweiten Wahlrunde eher Le Pen als Mélenchon wählen, weil ihm Trump immer noch lieber als Chavez sei.

Mit solchen Debatten und ihrem Zögern und Zaudern verspielt die Linke zusätzlich das Vertrauen der eigenen Anhängerschaft und somit möglicherweise die Chance auf einen politischen Wechsel. Genug gute Argumente gegen den amtierenden Präsidenten Macron hätte sie dabei durchaus: Nicht nur die Steuervorteile für Superreiche oder die geplante Rentenreform (die wegen der Pandemie auf Eis gelegt wurde), die harte Hand der Staatsgewalt gegen die Gelbwesten und das chaotische Management zu Beginn der Coronapandemie haben das Bild des Präsidenten, der einst mit dem Versprechen angetreten war, weder links noch rechts zu sein, in Teilen der Bevölkerung unwiderruflich beschädigt. Nach vier Jahren an der Macht wird Emmanuel Macron im linken Lager für seinen neoliberalen Kurs, mit dem er Frankreich in eine Start-up-Nation umbauen will, regelrecht gehasst. Der Präsident profitiert derzeit jedenfalls stark von der Schwäche, der Unentschlossenheit und der Sturheit des politischen Gegners auf linker Seite und von der ebenfalls noch nicht entschiedenen Personaldiskussion bei den konservativen RepublikanerInnen. Auf die Frage, welcheR der KandidatInnen es besser könnte als Macron, schafft es in einer Umfrage des Instituts Yougov nur Marine Le Pen auf 24 Prozent, während die meisten anderen möglichen PräsidentschaftskandidatInnen zwischen 6 und 14 Prozent liegen und somit derzeit chancenlos erscheinen. Die grösste Zustimmung bei den Franzosen und Französinnen bekommt allerdings die Aussage, dass es momentan keiner besser oder schlechter könnte als Macron. Das sagt viel über den Zustand des politischen Personals im Land aus.

Extrem niedrige Wahlbeteiligung

Unter dem Vorzeichen dieser kompletten politischen Desillusionierung hätte es eigentlich niemanden überraschen müssen, dass am Ende dieses Wahlsonntags – noch bevor die Ergebnisse feststehen – fast nur über eine Zahl geredet wird: 66! 66 Prozent aller Wahlberechtigten sind nicht an die Urne gegangen. Eine derart hohe Wahlenthaltung gab es noch nie seit dem Bestehen der Fünften Republik. Die Franzosen und Französinnen, so wirkt es, sind nach langen Monaten der Pandemie und nach vier Jahren unter Präsident Macron so erschöpft, politikverdrossen und desillusioniert wie nie zuvor. Es fehlt an Begeisterung für Politik, für den demokratischen Wettstreit um Ideen und für eine Zukunft, die durch die Pandemie nicht einfacher geworden ist. Vor allem aber fehlt es an fähigen Persönlichkeiten, die als Alternative zum aktuellen Präsidenten infrage kommen. Persönlichkeiten, die mobilisieren können, die zukunftsweisende Ideen präsentieren und am Ende eben auch Wahlen gewinnen könnten.

Die grösste Profiteurin dieses Mankos und des Verdrusses in der Bevölkerung hiess in den letzten Jahren bei nahezu allen Urnengängen Marine Le Pen. Eine Politikerin, die sich neuerdings am liebsten mit ihren Katzen und adretter Frisur fotografieren lässt. Die sich als harmlos, gar charmant inszeniert und die auch vom «Frexit», vom Ausstieg Frankreichs aus der EU, abgerückt ist, um ihr radikales Image zu glätten.

Doch als an diesem Sonntag um 20 Uhr nicht nur die ersten Regenschauer über Paris niedergehen, sondern auch die ersten Hochrechnungen aus den Regionen eintrudeln, wird schnell klar: Dieses Mal sind auch die AnhängerInnen von Le Pen zu Hause geblieben. Mit 19 Prozent landen die RechtspopulistInnen zwar immer noch auf dem zweiten Platz hinter den Konservativ-Bürgerlichen, doch das Wahlziel, stärkste Partei zu werden, verfehlt das Rassemblement National. Fast überall liegen die derzeit regierenden Regionalräte vorn oder haben für die zweite Wahlrunde gute Aussichten, sich im Amt zu halten. Das gilt in erster Linie für die Konservativen (Les Républicains), aber sogar der klinisch tot geglaubte Parti Socialiste (PS) erhielt landesweit noch 16 Prozent der Stimmen und wird in den südlichen Regionen wie Occitanie oder Nouvelle-Aquitaine wiedergewählt. Politische Wechselstimmung sieht anders aus.

Macron faktisch ohne Partei

Aber wo um alles in der Welt steckt Macrons Partei, die immerhin damit rechnet, dass ihr Gründer 2022 erneut zum Präsidenten gewählt wird? Die Bewegung En Marche, mittlerweile zur Partei LREM (La République en Marche) geworden, mit der Macron noch 2017 die politische Landschaft des Landes umkrempelte, landet noch hinter den Grünen abgeschlagen auf dem fünften Platz. Zunächst sah es so aus, als habe die Macron-Partei sowohl im linken als auch im rechten Lager bewirkt, dass der traditionelle Zweikampf zwischen den Konservativen und den SozialistInnen zugunsten seiner Partei der Mitte auf lange Zeit hinfällig würde. Bei den Parlamentswahlen einige Monate nach Amtsantritt Macrons erlebten die SozialistInnen einen historischen Tiefpunkt und fielen auf unter 10 Prozent, ebenso wie die Konservativen. Fast schien es, als habe Macron tatsächlich ein neues politisches Kraftzentrum in der Mitte geschaffen. Doch die zusammengewürfelte Truppe mit wenig politischer Erfahrung konnte sich im Land nie wirklich als ernst zu nehmende Kraft etablieren und war schon bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr nahezu bedeutungslos. So steht Macron faktisch ohne Partei da. Gut möglich, dass dies für die Präsidentschaftswahlen selbst jedoch gar nicht ausschlaggebend ist, denn bei dieser Wahl geht es um die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts, die Fähigkeit, der Nation vorzustehen. Das Präsidialsystem in Frankreich will traditionell diese Fokussierung auf eine Person. Und deswegen werden die VertreterInnen der LREM an diesem Wahlabend nicht müde zu betonen, dass die regionalen Wahlen nicht von nationalem Belang seien; lieber diskutieren sie über die hohe Wahlenthaltung als Gefahr für die Demokratie.

So wird nach diesem ernüchternden Wochenende die Frage umso dringlicher, ob sich die Linke in den nächsten Monaten doch noch dazu durchringen kann, ein gemeinsames Bündnis zu schliessen, in dem es um progressive Ideen und nicht um persönliche Ambitionen geht. Bleibt die Wahl Macrons die einzige Möglichkeit, um 2022 Marine Le Pen einigermassen Paroli zu bieten, dann ist zu befürchten, dass auch im nächsten Frühjahr wieder zwei von drei Franzosen und Französinnen aus Enttäuschung und Frust zu Hause bleiben. Es wäre ein beschämendes Szenario für diese Nation mit ihrer stolzen revolutionären Vergangenheit, von der für ganz Europa ein Zeichen für eine echte sozialpolitische, linke Wende ausgehen könnte. Derzeit bringen die Franzosen und Französinnen ihre Begeisterung und Hoffnung jedenfalls lieber für ihre Fussballnationalmannschaft als für ihre politische Führung auf.