Vom wert der Gastronomie: Die gute Kneipe von nebenan

Nr. 32 –

Corona zeigt, wie elementar die Gastronomie für eine Gesellschaft ist – besonders Lokale, die sich als sozial verstehen. Wie blicken sie in die Zukunft? Drei Beispiele.

Ein kleines Freiluftparadies: Diesen Sommer ist die Strasse vor dem Café Kairo in Bern für den Verkehr gesperrt.

Erster Halt: «Kreuz», Solothurn

Treffen mit Felix Epper (54), Geschäftsleitungsmitglied im «Kreuz», der ältesten selbstverwalteten Genossenschaftsbeiz der Deutschschweiz. Drei Agenden liegen auf dem Tisch – für die Beiz, das Hotel und die Sitzungsräume, alle handgeschrieben. «Wir sind immer noch analog. Und ja, wir sind privilegiert», sagt Epper, Quereinsteiger, einstiger Germanistikstudent, auch literarisch unterwegs, seit zwanzig Jahren im «Kreuz».

Dass der Heimstättenverein Solothurn die Liegenschaft an der Aare 1973 günstig habe erwerben können, erweise sich für die Genossenschaft gerade auch in der Coronazeit als Glücksfall. So wurde die Miete für das Haus – Beiz, Hotel, Veranstaltungs- und Banketträume – in den Monaten, als der Betrieb coronabedingt geschlossen war, auf Eis gelegt. «Der Sommer 2020, als wieder geöffnet werden konnte, lief ausserordentlich gut – auch weil wir mehr Platz auf der Strasse nutzen durften.» 2021 sei insbesondere der Ausfall der Film- und der Literaturtage zu spüren. Allein die zehn Filmfestivaltage machen zwölf Prozent des Jahresumsatzes aus.

Rund vierzig MitarbeiterInnen sind im «Kreuz» beschäftigt. Von der Lohngleichheit hat man sich verabschiedet, bemüht sich aber, die Schere klein zu halten: 1,7-mal so viel verdient der Meistverdienende im Verhältnis zu ungelernten AnfängerInnen, die als Grundlohn zwanzig Franken pro Stunde erhalten (mit Ferienzuschlägen und 13.  Monatslohn rund 24 Franken), etwas mehr als den gesamtarbeitsvertraglich festgelegten Mindestlohn. Mit den Jahren und der Übernahme weiterer Aufgaben erhöht er sich. Ist das nicht doch etwas wenig für einen Betrieb, der sich dem Ideal einer gerechten Gesellschaft verschrieben hat? Ja, gesteht Epper, zumal im Lockdown (bei einer Kurzarbeitsentschädigung von achtzig Prozent) auch das Trinkgeld wegfalle.

«Wir stecken in einem Dilemma», sagt Epper. «Einerseits wollen wir eine nachhaltige, gute Küche bieten, andererseits anständige Löhne zahlen und auch für ärmere Leute da sein. Und schliesslich übernehmen wir ja auch soziale Aufgaben.» Das zeige sich dieser Tage gleich vor der Tür. «An diesen Wochenenden stehen doppelt so viele Teenager wie sonst vor den Lokalen – zwei Jahrgänge auf einmal quasi, von denen einer das verlorene letzte Jahr nachholt. Doch für das Aufräumen der Strasse, den Umgang mit Randständigen und dafür, dass wir dafür schauen, dass es nicht eskaliert, zahlt uns niemand.»

Ein wenig seien sie «Opfer des eigenen Erfolgs» geworden: «Während sich immer mehr konventionelle Betriebe den Charme des Alternativen verleihen, bewegen wir uns zunehmend in Richtung einer normalen Essbeiz. Damit haben wir ein Alleinstellungsmerkmal verloren. Vielleicht wäre es mit etwas weniger Nostalgie echter – die Leute, die hier verkehren, sind ja auch nicht mehr die gleichen.»

Waren es in den siebziger Jahren die Leute der damaligen Linkspartei Poch, die den Diskurs bestimmten, so treffen sich heute SP und Grüne in den Sitzungsräumen. Soziale Bewegungen haben hier oft ihre Anfänge genommen, zuletzt – nach einer Pause – der Frauenstreik. «Junge Politgruppen können immer noch gratis Sitzungsräume benutzen. Wir verstehen uns als offenes Haus – selbst die SVP war schon da.»

Was ist uns die Gastronomie wert? Das sei die Frage, die sich die Gesellschaft stellen müsse. «Trinkgeld allein kann es ja nicht sein – das hat immer einen Schuhputzergestus. Und dass in unserer Branche der Anteil der Nichtschweizerinnen und der Frauen so hoch ist, ist ja auch kein Zufall. Doch die Gewerkschaften fokussieren sich primär auf die Gelernten. Kein Wunder, ist der Organisationsgrad so tief.»

Wie also sähe eine wirtschaftlich gesunde, soziale, nachhaltige Gastronomie der Zukunft aus? Staatliche Unterstützung? Neue Formen gesellschaftlicher Beteiligung? Auf jeden Fall, so Epper, brauche es eine Offensive: «Zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum überlegen wir uns, ein Symposium zur alternativen Gastronomie zu veranstalten.»

Zweiter Halt: Café Kairo, Bern

Auch Wirtin Trine Pauli (54) ist keine gelernte Gastronomin. Die diplomierte Lehrerin arbeitete aber schon in jungen Jahren in Beizen. 1998 gründete sie das Café Kairo mit. Seither hat sich der Betrieb in der Lorraine landesweit einen Namen gemacht. Auch hier zahlt sich aus, dass das Haus einer Genossenschaft gehört, die dem «Kairo» die Räume preiswert vermietet. «Jetzt haben wir grad eine Schlechtwetterphase hinter uns. Doch insgesamt haben wir die Pandemie gut überstanden. Auf Kosten der Kultur allerdings, die ja eigentlich zentraler Bestandteil ist: Seit wir den Kulturbetrieb zurückgefahren haben, machen wir weniger Verluste.»

Für alle vierzehn MitarbeiterInnen konnten Kurzarbeitsentschädigungen organisiert werden. «In der zweiten Runde wurde es aber kompliziert: Für neue MitarbeiterInnen, die noch keine sechs Monate hier waren, wollte das Amt zuerst keine Entschädigung bewilligen. Erst als wir erfuhren, dass die Person B für Person A gerechnet werden kann, da es sich um die gleiche Stelle handelt, fand sich eine Lösung.» Generell sind die Löhne eher tief: 24 Franken (inklusive Feriengelder und 13.  Monatslohn) pro Stunde, ab dem Alter von 45 Jahren 26 Franken. «Wenn wir Gewinne machen, schauen wir für eine gerechte Verteilung.»

Kompliziert wurde es auch bei den Härtefallgeldern. Erst vor zwei Monaten wurden sie überwiesen: Weil der Take-away-Betrieb während des Lockdowns im Frühling 2020 so gut lief, verpasste man eine Umsatzeinbusse von vierzig Prozent, die es dafür gebraucht hätte. Rund hundert Menüs à 23 Franken wurden jeweils dienstags verkauft. «Dabei haben wir das vor allem gemacht, um der Vereinsamung vieler etwas entgegenzusetzen. Und da das Wetter mitspielte, konnten wir Tische und Bänklein aufstellen. Das war richtig schön.» Dass die Härtefallgelder doch noch kamen, lag daran, dass das «Kairo» während der ganzen Coronazeit über vier Monate geschlossen bleiben musste.

Diesen Sommer ist die Strasse vor dem Lokal jeweils von Freitag bis Sonntag für den Auto- und Veloverkehr gesperrt – ein kleines Freiluftparadies inklusive Pingpongtisch, das mit dem Verein Läbigi Lorraine initiiert wurde. Ist es das, was Pauli meint, wenn sie Peter Alexanders Schlager «Die kleine Kneipe» (1976) erwähnt – da, «wo das Leben noch lebenswert ist»? Vielleicht. Quartierbeiz sei aber auch, so Pauli, «wenn sich zwei ältere Damen nach fünfzig Jahren zufällig vor der Tür des Lokals erstmals wiedersehen – und seither regelmässig zum gemeinsamen Käfelen kommen». Gastronomie jedenfalls, so Pauli mit einem Seitenhieb auf die Politik, sei «mehr als nur eine Nachtruhestörung. Was hättet ihr für ein Gschiss, wenn wir nicht immer so für die Psychos geschaut hätten? Jede Beiz, die einigermassen lustig ist, hat ihre Spinner, die sie hütet.»

Was aber braucht es, damit solche Orte ihre Funktion beibehalten können? «Bessere Rahmenbedingungen!», antwortet Trine Pauli dezidiert. «Tiefere Preise für die Benutzung öffentlichen Bodens zum Beispiel. Und allgemein: weniger Schulmeisterei – und mehr Wertschätzung.» Und nicht zu vergessen: Solidarität. «Im Lockdown haben uns einige Gäste gesagt: Schickt uns eure Kontonummer!»

Aber braucht es nicht auch einen neuen Verband, um die Interessen einer solchen Gastkultur zu bündeln? Pauli, die sich auch am Gastrostreik beteiligt, dem in der Coronazeit entstandenen Zusammenschluss von Gastroleuten in Bern, sieht dafür die nächste Generation am Zug. Vielleicht sogar in der eigenen Familie: Zwei ihrer Kinder arbeiten im «Kairo» – die beiden anderen springen bei Bedarf ein.

Dritter Halt: «Chez Babette», Zürich

Samstagnachmittag im «Babette», beim Idaplatz im Kreis 3. Der Gast wähnt sich irgendwo in der Bretagne. Nicht nur, weil es sich um ein formidables Bistro handelt – und es grad so schön regnet: An der Wand ein Tintin-Filmplakat, daneben eine blaue Chocolat-Grison-Plakette – und aus der Küche der Duft von Crêpes.

Noch immer etwas durchnässt setzt sich Inhaber und Chefkoch Andreas Handke (40) an den Tisch. Mit ihm und seinem Compagnon Timon Ruther sind im «Babette» insgesamt fünf MitarbeiterInnen fest angestellt, Handke selbst nur zu vierzig Prozent – daneben ist er Berufsschullehrer für angehende KöchInnen. Zudem engagiert er sich in einem Kompetenzzentrum für nachhaltige Gastronomie, berät die Stadt Zürich im Hinblick auf die Ernährungsstrategie 2030, ist Mitglied bei Cuisine sans frontières, Mitgründer der Schweizer Sektion der Social-Gastronomy-Bewegung – und kocht einmal im Monat vor dem Bundesasylzentrum auf dem Duttweiler-Areal.

Schon seine Mutter führte ein Restaurant. «Ich bin in der Beiz gross geworden», sagt Handke. Nach der Lehre arbeitete er zwei Jahre in St. Moritz. Dort aber löschte es ihm ob der fehlenden Wertschätzung durch die Kaviar-High-Society ab. Im «Neuhof» von Patrick Honauer, einem Pionier der nachhaltigen Gastronomie, habe sich sein heutiges Menschenbild weiterentwickelt und verfestigt.

Vor zehn Jahren übernahmen er und Ruther das «Mühletal», eine hundertjährige Arbeiterbeiz im Zürcher Industrieviertel. Hier probten sie die Neuerfindung der Quartierbeiz: nachhaltiges und doch preisgünstiges Essen sowie Geselligkeit für alle. Nach vier Jahren aber war Schluss: Die Besitzerin sanierte das Haus und vermietete das Lokal an eine Galerie. Mit dem «Holzschopf» – nur eine Tramstation vom «Mühletal» entfernt – fanden Handke und Ruther ein neues Lokal und reanimierten auch dieses zu einem Quartiertreff. Doch auch hier wurden sie, nach vier Jahren, Opfer der Stadtaufwertung.

Das «Babette» sieht Handke als neue Plattform. Von hier aus zieht er die Fäden. Armutsbekämpfung, Biodiversität, Landwirtschaft, faire Löhne: «Das sind seit zwanzig Jahren meine Themen.» Und auch hier, mitten im Viertel, das trotz fortgeschrittener Gentrifizierung seinen Charme behalten hat: Der Austausch mit der Nachbarschaft – Chornlade, Autogaragist, Veloflicki – funktioniert.

Dass der Betrieb die Coronazeit einigermassen überstanden hat, sei auch der Vermieterin zu verdanken: Die Hälfte der Miete hat sie durch den ganzen Lockdown erlassen, den ersten Monat vollständig. Das sei umso wichtiger gewesen, als der Lockdown sie im zweiten Betriebsjahr traf – wo doch das zweite und dritte Jahr oft darüber entscheiden, ob ein Lokal überleben kann oder nicht. Zusätzlich geholfen habe – neben den Kurzarbeitsentschädigungen – ein zinsloser Notkredit: «Meine Frau ist Infektiologin, und wir lebten eine Zeit lang in Bergamo – so war ich früh gewarnt, was auf uns zukommen könnte.»

Lohntechnisch bewegt sich das «Babette» im selben Rahmen wie «Kreuz» und «Kairo»: 24 Franken pro Stunde (Ferienzuschläge und 13.  Monatslohn inklusive) erhält eine Anfängerin nach der Probezeit. Und nach einem Jahr 25, nach zwei Jahren 26 Franken – sowie Trinkgeld nach fairem Schlüssel. Der Mindestmonatslohn mit Lehrabschluss: 4600 Franken.

Und die Zukunft? «Sicher ohne Gastrosuisse. Wir denken vielmehr daran, einen alternativen Verband zu gründen.» Da soll es auch um neue Formen des Wirtschaftens gehen: um Solidarität, gemeinsame Werte und den Ausbau bestehender Netzwerke. «Es gibt heute so viele coole junge Gastroleute, die sich aufs Wesentliche zurückbesinnen. Zürich ist, auch dank der Klimabewegung, im Wandel.»

Am Nebentisch sitzt eine ältere Dame, vor sich ein Glas Rotwein. Sie freut sich auf das Menü, das ihr demnächst serviert wird. Daran, dass auch ärmere Leute aus dem Quartier hier essen können, kann man sich übrigens beteiligen: An der Bar steht ein Kässeli.