Wahlkampf in Frankreich: Die Stunde des Untergangs

Nr. 50 –

Vier Monate vor den französischen Präsidentschaftswahlen gibt der rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour den Takt vor. Mit einer rassistisch-rückwärtsgewandten Vision verschiebt er jetzt schon die politische Kultur des Landes.

Ein Vorgeschmack auf seine Politik? An einer Wahlkampfveranstaltung für Éric Zemmour am 5. Dezember in Villepinte bei Paris prügeln dessen Anhänger auf antirassistische Aktivist:innen ein. Videostill: Colin Bertier, Aurélia Moussly, Lara Diav / Getty

Es ist Punkt 12 Uhr an diesem Dienstag. Es ist der 30.  November, und eigentlich sollten die Scheinwerfer in der französischen Hauptstadt allesamt auf das Panthéon am linken Seineufer gerichtet sein, auf den Tempel der Republik, in dem die Gebeine grosser Persönlichkeiten beigesetzt werden, ein Ort, der für die Werte der Republik steht, für Freiheit, für Gleichheit und Brüderlichkeit. An diesem Tag zumal wird mit Josephine Baker die erste Schwarze Frau in die heiligen Hallen aufgenommen und damit ihre Bedeutung für das kulturelle, kollektive Gedächtnis unterstrichen. Allein deswegen ist es ein besonderer, ein historischer Tag.

Doch plötzlich herrscht in den Redaktionen noch aus einem anderen Grund Aufregung. Punkt 12 Uhr geht auf Youtube ein Video online, in dem der 63-jährige rechtsextreme Publizist Éric Zemmour das tut, was viele befürchtet und vorausgesagt hatten: Er kündigt nach einem zehnminütigen Untergangsszenario – in dem er vor Überfremdung, vor der Herrschaft des Islam und dem Verlust der französischen Identität warnt – an, bei den französischen Präsidentschaftswahlen anzutreten. Zeitgleich postet er die Ankündigung auch auf Twitter. Diese Inszenierung liefert viele Anhaltspunkte für die Vision, die Zemmour für der Zukunft des Landes entwirft: Bei den dramatisch-düsteren Klängen von Beethovens 7. Symphonie spricht er, über ein Papier gebeugt, in ein Retromikrofon, hinter ihm ein Bücherregal. Alles erinnert an die Bilder von General de Gaulle, der während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg von London aus im Radio zum Widerstand aufrief und das «freie Frankreich» beschwor.

Selbstinszenierter Retter

Auch Éric Zemmour will das Land befreien: von Migrant:innen, von «woken» Ideologen, von «schädlichen» Gendertheoretikerinnen, von Islamisten oder besser noch von Muslim:innen insgesamt. Und wie schon de Gaulle vor achtzig Jahren sieht er sich als der Retter Frankreichs. Nach wenigen Stunden hatten bereits Hunderttausende das Video gesehen, Tausende diesen kruden Mix aus Handybildern geteilt und kommentiert. Bilder, die glauben machen, es herrsche Krieg auf Frankreichs Strassen, gepaart mit Filmausschnitten aus den fünfziger und sechziger Jahren und Bildern von französischen Chansonniers und Filmstars. Ein Gesellschaftsmodell von gestern, als Vati früh zur Arbeit ging, Mutti die Stube ausfegte und die vier natürlich weissen Kinder zu hüten hatte. Als zu den katholischen Feiertagen noch Gänseleberpastete und Rotwein gereicht wurden und man sich für sein motorisiertes Vehikel oder seinen Fleischkonsum noch nicht schämen musste. Auch wenn sie dieses Frankreich nicht selbst erlebt hätten, so wendet sich Zemmour an die Zuschauer:innen, so fühlten sie doch, dass es ihnen fehle. Dass die Rechtsextreme Marine Le Pen mit ihrem Rassemblement National dagegen fast schon gemässigt wirkt, könnte ihr jetzt zum Verhängnis werden, wenn sich Wähler:innen dem noch radikaleren Zemmour zuwenden.

In den Abendnachrichten schien es fast so, als gäbe es heute zwei Frankreiche: hier Josephine Baker im Panthéon, dort ein Aufhetzer im Untergangsmodus, der Frankreich zu erobern sucht. Doch mit seiner Vision einer Welt von gestern scheint Zemmour immerhin bei einem Teil der Bevölkerung einen Nerv zu treffen. Es gelingt ihm, noch rechts von Marine Le Pen, die eigentlich wichtigen Zukunftsthemen, wie Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, das marode Gesundheitssystem, die Zukunft der Rente oder des öffentlichen Dienstes, völlig aus der Debatte zu verdrängen und stattdessen die Themen Identität, Einwanderung und Islam in den Vordergrund zu stellen. Und das führt dazu, dass die Bewerber:innen, nicht zuletzt der amtierende Präsident, auch wenn er seine Kandidatur noch nicht offiziell gemacht hat, unter Zugzwang geraten. Nun haben auch noch die Republikaner:innen mit Valérie Pécresse eine Ultrakonservative aufgestellt.

So verschieben sich die Themen und der Tonfall. In Interviews stellen Journalist:innen plötzlich Fragen nach dem, was denn nun «typisch französisch» sei, statt nach sozialpolitischen Plänen. Fragen nach dem drohenden Verlust der Identität, nach möglichen Flüchtlingswellen in der Zukunft verdrängen Klimawandel und Dezentralisierung. Es ist, als gäbe es in diesem Wahlkampf bereits schon jetzt einen Verlierer: die eigentlich relevanten Inhalte, über die nun nicht mehr gestritten wird.

Prügeleien und Parolen

Szenenwechsel. Sonntag, 5.  Dezember, 17.40 Uhr. Éric Zemmour betritt die Bühne in der Veranstaltungshalle Villepinte im Nordosten von Paris. Bereits seit zwei Stunden haben Vorredner:innen die 13 000 Menschen auf seinen Auftritt eingestimmt. Die Stimmung ist euphorisch, lautstark, teilweise aggressiv. Nur drei Tage nach der Ankündigung seiner Kandidatur musste man die Veranstaltung wegen zu grosser Nachfrage in eine grössere Halle verlegen. Den meisten der wartenden Zuschauer:innen ist indes entgangen, dass der Kandidat gerade auf dem schmalen, von einer Menschenmenge gesäumten Weg zur Bühne von einem Mann angegriffen und dabei leicht verletzt wurde.

Es ist nur ein erster Vorgeschmack auf das Klima, in dem seine Auftritte wohl stattfinden werden. Und obwohl Zemmour in den kommenden anderthalb Stunden seines Auftritts nicht müde wird, hasserfüllt gegen die etablierten Medien zu schimpfen, füllt die Berichterstattung über das Meeting den ganzen Nachmittag die Sendeplätze aus. Zemmour sorgt für Quote, er fasziniert genauso, wie er abstösst. Dass der Sohn jüdisch-algerischer Einwanderer heute mit Verve vor Überfremdung warnt, gehört ebenso zu seinen Widersprüchen wie die Tatsache, dass er als Medienhasser seine Popularität den Medien zu verdanken hat. Vincent Bolloré, seines Zeichens rechter Unternehmer und Milliardär, hat Zemmour mit einer Talkshow auf dem Sender CNews erst gross gemacht. Ununterbrochen erhielt er dort Gelegenheit, seine islam- und ausländerfeindlichen Parolen zu wiederholen. Die Einschaltquote hat sich so vervierfacht – fast eine Million Franzosen und Französinnen schauten zuletzt den Hasstiraden zu –, und auch Zemmours in Eigenregie verlegtes Buch «La France n’a pas dit son dernier mot» (Frankreich hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen) gehörte innerhalb weniger Tage zu den Bestsellern. Der französische Journalistenverband warnte bereits vor einer «Zemmourisation» des Wahlkampfs, vor dem Phänomen also, Zemmour eine immer grössere mediale Bühne einzuräumen, ihn zum entscheidenden Element des Wahlkampfs zu machen und seinen Erfolg damit nur zu vergrössern.

In Villepinte ist Zemmour indes zu Höchstform aufgelaufen. Er verspricht, als Präsident Sozialleistungen für Ausländer:innen zu kürzen, kriminelle und arbeitslose Ausländer:innen abzuschieben und das Recht auf Asyl nur auf eine Handvoll Menschen anzuwenden. Plötzlich gibt es weiter hinten in der riesigen Veranstaltungshalle Tumult. Einige Zuschauer:innen sind aufgestanden, haben sich in einer Reihe formiert und haben ihre Pullover ausgezogen. Nun bilden die Buchstaben auf ihren T-Shirts den Slogan: «Non au racisme», Nein zu Rassismus. Als sie beginnen, die Parole zu skandieren, werden sie bereits von Umstehenden niedergeknüppelt, es fliegen Stühle, sie werden mit Fusstritten attackiert. Dora, eine der Aktivist:innen von SOS Racisme, sagte später gegenüber den Medien: «Es war unglaublich gewalttätig. Mehrere meiner Freunde lagen auf dem Boden, wurden geschlagen. Ich konnte nur noch versuchen, mich zu schützen.» In den darauffolgenden Tagen wird davon die Rede sein, dass auch viele identitäre, gewaltbereite Gruppen unter den Zuschauer:innen waren.

So gelingt es momentan einem Politikneuling und Medienprofi, talentierten Rhetoriker und Islamhasser – kurzum einem Feind der Demokratie –, den Diskurs über Frankreichs Zukunft zu dominieren. Diese Zukunft gerät tatsächlich immer mehr in Gefahr, wenn die Franzosen und Französinnen nicht bald merken, welche Bedrohung Zemmour und Marine Le Pen darstellen.