Durch den Monat mit Dagmar Pauli (Teil 3): Ist trans eine Modeerscheinung?

Nr. 28 –

Dass sich heute mehr Jugendliche als trans oder nonbinär bezeichnen, wird in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Wie man sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Zürich mit diesem Phänomen auseinandersetzt, erklärt Chefärztin Dagmar Pauli.

Dagmar Pauli in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Zürich
Dagmar Pauli: «Die meisten transgender ­Erwachsenen sagen heute: Ich fühlte mich schon als Kind so. Aber ich hatte keine Anlaufstelle. Niemand hat mir geholfen.»

WOZ: Frau Pauli, was passiert, wenn Jugendliche in Ihre Praxis kommen, die das Gefühl haben, im falschen Geschlecht aufzuwachsen?
Dagmar Pauli: Dazu muss ich etwas ausholen: Die Geschlechtsidentität bildet sich bei den allermeisten Menschen zwischen vier und sechs Jahren aus. Da weiss man: Man ist ein Mädchen oder ein Junge und fühlt sich damit auch ganz wohl. So ist es bei weit über neunzig Prozent der Menschen, und das bleibt konstant. Auch Kinder, die trans sind, wissen das häufig schon in dem Alter. Nur eine sehr kleine Gruppe, früher vielleicht ein, heute drei Prozent, fragen sich im Jugendalter nochmals: Was bin ich denn? Da die meisten ganz früh auf männlich oder weiblich festgelegt sind, sind das sehr wenige. Mit diesen und ihren Eltern führen wir erst einmal viele Gespräche.

Sich trans oder nonbinär zu fühlen, halten viele für eine durch Social Media befeuerte Modediagnose. Wie denken Sie darüber?
Das als Modeerscheinung oder Hype abzutun, ist viel zu kurz gegriffen! Menschen haben sich schon immer als transgender geoutet, aber früher taten sie es nur im Erwachsenenalter, nicht als Jugendliche. Weil das Thema jetzt so stark öffentlich diskutiert wird, kommen die Menschen früher zu uns. Die meisten transgender Erwachsenen sagen heute: Ich fühlte mich schon als Kind so. Aber ich hatte keine Anlaufstelle. Niemand hat mir geholfen, und jetzt sehe ich halt so aus, wie ich aussehe. Jetzt bin ich eine trans Frau mit tiefer Stimme, und ich finde das schlimm. Trans Männer waren früher manchmal in der Lesbenszene unterwegs. Aber es stimmt natürlich, dass Jugendliche in einer allgemeinen Identitätskrise auch auf die Idee kommen könnten, sie seien trans oder nonbinär. Man muss das dann unterscheiden.

Wie unterscheiden Sie das? Wenn ein Mädchen Angst vor der Pubertät hat und glaubt, lieber ein Mann sein zu wollen – ist das keine Gefahr?
Natürlich ist das eine Gefahr, man kann ja immer denken, man sei trans, und irrt sich. Aber der Wunsch, eine Transition rückgängig zu machen, ist zum Glück sehr selten. Wenn ein dreizehnjähriges Kind zu uns kommt und sagt, ich will jetzt mal ein anderes Geschlecht sein, dann machen wir das natürlich nicht sofort! Wir müssen bei den frühen Behandlungen sehr vorsichtig sein. Das streite ich nicht ab.

Aber wir können den jungen Leuten auch nicht sagen: Jetzt mach mal deinen Stimmbruch und dann gucken wir weiter, du könntest dich ja irren. Und ebenso wenig können wir suizidalen Jugendlichen, die seit Jahren schwer unter einer Körperunzufriedenheit wegen der Geschlechtsmerkmale leiden, sagen: Du wartest jetzt, bis du achtzehn bist. Das geht ja auch nicht.

Was tun Sie in solchen Fällen?
Im Einverständnis mit den Eltern verordnen wir nach sorgfältiger Abklärung pubertätsblockierende Medikamente. Das ist eine reversible Massnahme. Wenn ein junger Mensch spürt, dass das doch nicht stimmt, kann er oder sie im Geburtsgeschlecht weiterleben. Man muss im individuellen Fall nicht nur die medizinischen Vor- und Nachteile, sondern auch die Konsequenzen für den Lebensverlauf sehr genau besprechen: Ist es wirklich nötig? Wie hoch ist der Leidensdruck? Wir haben immer eine Lösung gefunden – mit den Eltern zusammen.

Warum nimmt das Thema in der Gesellschaft so viel Raum ein?
Heute fragen sich halt viel mehr Jugendliche: Was heisst es denn, eine Frau oder ein Mann zu sein? Die stellen das Konzept infrage – Mann ist so und Frau ist so, und sonst gibt es nichts. Die sehen, dass es auch soziale Identitäten dazwischen gibt. Das heisst ja nicht, dass sie eine medizinische Behandlung brauchen.

Ähnlich war es bei der Sexualität: Früher gab es hetero und sonst nichts. Homo war schlecht, und man hat sein Leben damit verbracht, hoffentlich nicht homosexuell zu sein, war vielleicht suizidal und hat sich frühestens als Erwachsener geoutet. Homosexuell durfte man dann irgendwann sein, später kam noch bi dazu und die Erkenntnis: Man muss sich gar nicht entscheiden – es gibt ein Spektrum.

An schwul, lesbisch und bi hat sich der grösste Teil der Gesellschaft gewöhnt. Wie erklären Sie sich den heftigen Widerstand beim Thema transgender?
Der Widerstand ist ja nicht kleiner, als er bei der Sexualität war, nur sind wir in dem Thema jetzt schon weiter. Einerseits regen sich die Konservativen auf, weil jetzt Frauen Männer und Männer Frauen sind; sie glauben, die traditionelle Familie sei infrage gestellt. Aber es regt sich auch ein Teil der Feministinnen auf, zum Beispiel Alice Schwarzer. Warum fühlen die sich von dieser Minderheit so bedroht? Anscheinend wird ihre Identifikation als Frau infrage gestellt – eine Frau ist benachteiligt, also kann nicht jeder Mensch mit Penis kommen und sagen, er ist jetzt auch eine Frau und benachteiligt und möchte dazugehören. Offenbar kann man sich da nicht reindenken oder findet es nicht wichtig, sich reinzudenken. Diese Gruppe müsste mal mit den jungen Leuten reden und zuhören, was die heute beschäftigt!

Zur Transition bei Jugendlichen zitiert Dagmar Pauli (58) den Deutschen Ethikrat: Die Behandlung beinhalte ein gewisses Risiko, weil sie in die psychosexuelle Entwicklung eingreife. Doch für Betroffene sei es auch ein grosses Risiko, eine zur Verfügung stehende Behandlung zu verweigern.