Buch über Bolsonaro: Der Präsident als Hetzer

Nr. 35 –

Vor den Wahlen in Brasilien ordnet der Journalist Niklas Franzen den Aufstieg des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro ein – und zeigt auch, welchen Widerstand dessen Politik weckt.

Es ist das grösste Land Lateinamerikas, das Land mit der zweitgrössten Schwarzen Bevölkerung der Welt, das grösste katholische Land der Welt. Das Land, das am zweitmeisten Soja produziert und am meisten Rindfleisch exportiert. Und seit bald vier Jahren hat Brasilien, dieses Land der Superlative, einen rechts­populistischen Präsidenten.

Im Oktober stellt sich Bolsonaro zur Wiederwahl – gegen den linken Expräsidenten Lula. In seinem Buch «Brasilien über alles» zeichnet nun der deutsche Journalist Niklas Franzen, der mehrere Jahre in São Paulo lebte, den Aufstieg Bolsonaros nach und ordnet ihn in den Kontext der brasilianischen Gesellschaft ein. Franzen besuchte Golds­ucher:in­nen im Regenwald und Soja­bäuer:in­nen auf ihren Farmen, die Bewegungen der Landlosen und der Wohnungslosen. Diese Stimmen aus der Bevölkerung belegen, wie vielschichtig und wie weit voneinander entfernt manche Positio­nen sind.

Empfohlen von Evangelikalen

Franzen zeigt auf, wie Bolsonaros Wahl mit Angriffen auf die Pressefreiheit – die der ­Autor selbst erlebt – zusammenhängt, mit der Zerstörung des Regenwalds oder dem Aufstieg der ultrakonservativen Freikirchen. Inzwischen sind 32 Prozent der Bevölkerung evangelikal. Sie lehnen Homosexualität ab, kämpfen gegen Abtreibungen und verteufeln den Feminismus. Ein Pastor, den Franzen in seiner evangelikalen Kirche in Belém besucht, sagt über Bolsonaro: «Er ist der erste Präsident, der die Nähe zu uns gesucht hat.» Bei den Wahlen 2018 haben die grossen evangelikalen Kirchen mit Bolsonaro erstmals gemeinsam einen Kandidaten unterstützt, jede fünfte Person wählte nach der Empfehlung von Pas­tor:in­ne­­­­­­­n.

Auch die fehlende Aufarbeitung der Kolonialzeit kommt Bolsonaro gelegen. «Die Narben werden von Generation zu Generation weitergegeben», sagt die Bewohnerin eines Quilombo, einer selbstverwalteten Siedlung von Schwarzen Bra­sili­aner:in­nen, in der sich während der Kolonialzeit geflohene Sklav:in­nen niederliessen. Nur neun Prozent aller Quilombo-Gemeinden sind formell als Schutzgebiet anerkannt. Bolsonaro forderte Land­besitzer:in­nen auf, ihre Waffen zu gebrauchen, sollten Quilombo-Be­woh­ner:in­nen in ihre Gebiete eindringen.

In den vergangenen Jahren hat sich eine neue Generation politisiert.

51 Prozent der Bevölkerung Brasiliens sind Schwarz. Trotzdem sind sie in Parlamenten, Wirtschaft und Redaktionen untervertreten, haben schlechtere Bildungschancen und eine tiefere Lebenserwartung. Die neue Verfassung von 1988 enthält zwar Antidiskriminierungsklauseln, es wurden staatliche Organisationen gebildet, die Rassismus bekämpfen sollten. An der Situation der Schwarzen Bevölkerung änderte dies trotzdem wenig.

Widerstand gegen Unterdrückung gab es in der Geschichte Brasiliens immer wieder, und in den letzten Jahren hat sich eine neue Generation politisiert. Zu ihr gehört Erika Hilton, die erste trans Politikerin, die in den Stadtrat von São Paulo gewählt wurde. Franzen deutet das jedoch nicht nur optimistisch: «Dass in Zeiten eines beispiellosen Rechtsruckes mit Hilton eine schwarze, sozialistische trans Frau zum politischen Popstar avanciert, zeugt von der inneren Zerrissenheit Brasiliens.»

Keine Sozis, keine Monster

Der Autor wiederholt sich streckenweise und verliert sich manchmal in unpräzisen Verallgemeinerungen, die er nicht belegt – etwa wenn er schreibt, dass das Bildungssystem «wie kaum irgendwo sonst auf der Welt» die bestehenden Ungleichheiten zementiere. Dennoch gelingt es ihm, das Spezifische der brasilianischen Gesellschaft herauszuarbeiten, wobei er auch ähnliche Tendenzen in anderen Regionen der Welt im Blick behält. So gibt «Brasilien über alles» Einblick in die Logiken und die Ursachen rechtsextremer Politik in einer Demokratie. Die wenigsten Bra­sili­a­ner:in­nen hätten für Lula gestimmt, weil sie überzeugte So­­zia­list:in­nen gewesen seien, schreibt Franzen. «Doch genauso wenig wählten sie Bolsonaro, weil sie rechtsextreme Monster sind.» Viele Bra­sili­a­­ner:in­nen hätten kein klares ideologisches Profil. Viele arbeiten zwölf Stunden am Tag – es fehlt ihnen die Zeit, um sich mit Wahlprogrammen und politischen Positionen auseinanderzusetze­n.

Eine entscheidende Rolle für den Ausgang der Wahlen 2018 schreibt Franzen denn auch den sozialen Medien zu. Bolsonaro habe es verstanden, die Logik der Algorithmen und der Empörung für sich zu nutzen, ähnlich wie Donald Trump in den USA, die AfD in Deutschland oder die Brexiteers in England: «Je radikaler, provozierender und menschenverachtender er online auftrat, desto bekannter wurde er», schreibt Franzen. Die Nutzungszahlen der sozialen Medien waren hoch, Faktenchecks gab es kaum – so sei es einfacher geworden, Lügen zu verbreiten. Für die Wahlen im kommenden Oktober wird laut Franzen also mitentscheidend sein, ob auch die Linke das Netz für sich zu nutzen weiss.

Der Autor liest am Donnerstag, 1. September 2022, um 19 Uhr im Restaurant de la Place in Brig.

Buchcover von «Brasilien oder alles»

Niklas Franzen: «Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte». Assoziation A. Berlin/Hamburg 2022. 240 Seiten. 29 Franken.