Türkische Opposition: Immer noch da, immer noch laut

Nr. 19 –

Die Zivilgesellschaft in der Türkei hat nie aufgehört, die fragile Demokratie zu verteidigen. Entsprechend nervös ist der Staatsapparat im Hinblick auf die Wahlen am Sonntag.

Polizei sperrt den Zutritt zum Taksim-Platz am 1. Mai ab und geht gegen Aktivist:innen vor
Kein Zutritt zum Taksim am 1. Mai: Weil auf dem Platz 2013 die Gezi-Proteste begannen, lässt ihn die Regierung seither absperren. Foto: Cemal Yurttaş, Getty

Die Bilder wiederholen sich: Jedes Jahr zum 1. Mai versuchen Demonstrant:innen, auf den Istanbuler Taksim vorzudringen. Der bekannteste Platz des Landes, der mit dem Tahrirplatz in Kairo oder dem Maidan in Kyjiw verglichen wird, ist dann jeweils wie eine Festung weiträumig abgesperrt. U-Bahnen und Busse lassen den Halt aus; Absperrgitter, Polizist:innen und Wasserwerfer sollen die Menschen davon abhalten, auf den Platz zu gelangen.

Seit den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013, die auf dem Taksim ihren Anfang genommen hatten, werden 1.-Mai-Kundgebungen auf dem Platz stets verboten. Doch Jahr für Jahr gab und gibt es Menschen, die sich nicht davon beeindrucken lassen. Auch dieses Mal meldeten die Gewerkschaften und Anwaltsvereinigungen Dutzende Festnahmen. Arzu Çerkezoğlu, Präsidentin der Gewerkschaft Disk, die es auf den Taksim geschafft hatte, sagte dort mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen, dies sei der letzte 1. Mai, an dem Arbeiter:innen der Zugang zum Platz verwehrt werde.

Gemeinsam eine Ära beenden

Am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Umfragen sagen ein knappes Rennen um die Präsidentschaft zwischen dem seit zwanzig Jahren regierenden Autokraten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP voraus. Der Sozialdemokrat tritt mit der nationalistischen Iyi-Partei und vier kleineren Parteien verschiedenster Lager an. Im Bündnis sind mit Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan auch ehemalige Spitzenpolitiker der regierenden konservativ-islamischen AKP. Wegen eines drohenden Parteiverbots tritt die prokurdische HDP unter dem Banner der Grünen Linkspartei an. Kurz: Noch nie war die Opposition so geschlossen in ihrem Vorhaben, die Ära Erdoğan zu beenden.

Entsprechend nervös ist der Staatsapparat. So wurden bei landesweiten Razzien mehr als hundert Menschen wegen angeblicher Verbindungen zur als terroristisch eingestuften, verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK) festgenommen – darunter Menschenrechtsaktivistinnen, Journalisten, Anwält:innen und Mitglieder der HDP. Ein am 3. Mai, dem Tag der Pressefreiheit, veröffentlichter Bericht des Independent Communication Network hält fest, dass achtzig Prozent der türkischen Medien von der Regierung kontrolliert werden. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres standen 195 Journalist:innen wegen ihrer Arbeit vor Gericht.

Trotz aller Repressalien geht die AKP nach zwei Jahrzehnten an der Macht erstmals nicht als Favoritin ins Rennen – ein Ziel, auf das viele Türk:innen lange hingearbeitet haben. Ihr Engagement fing nicht erst mit den Gezi-Protesten an, doch bei den Demonstrationen, die im Spätsommer 2013 das Land aufrüttelten, konnte die ganze Welt dabei zuschauen, wie Millionen «Hükümet istifa!» – Regierung, tritt zurück! – riefen und von der Polizei niedergeknüppelt wurden. Bis heute werden Menschen wegen ihrer Teilnahme an den Protesten als angebliche «Verschwörer» verurteilt. Noch 2022 beschimpfte Staatspräsident Erdoğan die Gezi-Demonstrant:innen als «Flittchen».

Insbesondere seit Gezi und vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 haben die Türk:innen mitansehen müssen, wie Verwandte, Freundinnen, Partner und Kolleg:innen inhaftiert wurden, das Land verlassen mussten, ihre Jobs verloren, von regierungsnahen Medien auf den Titelseiten zur Jagd freigegeben wurden. Sie haben gesehen, wie Oppositionspolitiker:innen in Gerichtsverfahren, die rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechen, zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie haben in sozialen Netzwerken mitverfolgen können, wie regierungskritische Redaktionen gewaltsam geschlossen und der Regierung nicht genehme Bücher aus Bibliotheken verbannt wurden. Trotzdem, die Zivilgesellschaft hat nie aufgegeben, die fragile türkische Demokratie zu verteidigen.

Sichtbar wird das jeden 8. März, wenn weltweit der Internationale Frauenkampftag gefeiert wird. Meist werden die feministischen Demonstrationen in den von der AKP dominierten Städten und Vierteln verboten. Auch dieses Jahr waren in Istanbul die Proteste zum 8. März vom Gouverneur in der Innenstadt nicht genehmigt und nur abgelegene Orte als Versammlungsort ausgewiesen worden. Dennoch versammelten sich Tausende Frauen in der Nähe des abgesperrten Taksim und demonstrierten insbesondere gegen den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention, einem völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. «Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht. Feministischer Widerstand», skandierten die Teilnehmer:innen.

Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu hat bereits angekündigt, dass bei einem Wahlsieg die Istanbul-Konvention wieder gelten soll. Auch der Christopher Street Day wird seit 2014 regelmässig verboten. Trotzdem lassen sich die LGBTIQ*-Aktivist:innen nicht davon abhalten, auch wenn die Regierung einen immer härteren Kurs gegenüber der Community einschlägt. Um konservative Wähler:innen zu erreichen, sagte Erdoğan kürzlich: «Diese Nation hat keine LGBT», und drohte, den Aktivist:innen, eine «Lektion» erteilen zu wollen. Am 18. September vergangenen Jahres, als der Pride-Umzug in Istanbul wieder einmal nicht zugelassen worden war, wagten sich dennoch Tausende mit Regenbogenflaggen auf die Strassen – während zeitgleich in einem anderen Bezirk der Metropole die genehmigte Gegenkundgebung unter dem Motto «Grosse Familienversammlung» stattfand, auf der Tausende eine Zerschlagung von LGBTIQ*-Organisationen forderten.

Jurist:innen in den Trümmern

Zur mutigen Zivilgesellschaft gehören ebenso die Berufsvereinigungen, die sich den Mund nicht verbieten lassen: Die Anwaltskammer etwa, deren Mitglieder nach dem verheerenden Erdbeben vom Februar mit über 50 000 Toten versuchten, Beweise für Pfusch am Bau zu sichern, bevor diese bei den Aufräumarbeiten verschwinden. Dutzende Jurist:innen kletterten in die Trümmer hinunter, untersuchten das Baumaterial und machten Fotos. Zudem klagt die Organisation immer wieder gegen Regierungsvorhaben, 2021 beispielsweise gegen eine Anordnung der Polizeidirektion, mit der Bild- und Tonaufnahmen von Sicherheitskräften bei Demonstrationen unterbunden werden sollen. Die Polizei habe keine Befugnis für solche Anweisungen, hiess es in der Klage der Kammer beim Verwaltungsgericht. Zudem verstosse das Verbot gegen die Pressefreiheit.

Die Ärztekammer schaltet sich ebenfalls regelmässig ein und prangert die Gesundheitspolitik der Regierung an. Auch deswegen wurde die Chefin der Ärztekammer, die Menschenrechtsaktivistin Şebnem Korur Fincancı, im Januar von einem Istanbuler Gericht zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Nur wegen der bereits vorausgegangenen Untersuchungshaft muss die regierungskritische Ärztin nicht erneut ins Gefängnis. Denn die Staatsanwaltschaft sah es als erwiesen an, dass Fincancı in einem TV-Interview für die PKK geworben habe. Sie hatte eine Untersuchung der Vorwürfe gefordert, dass das türkische Militär Chemiewaffen im Kampf gegen die PKK im Nordirak einsetzt.

Liebe Grüsse aus dem Gefängnis

Die Architektenkammer wiederum schrieb 2014 einen Brief an Papst Franziskus vor dessen Türkeibesuch und forderte das Kirchenoberhaupt auf, Erdoğan nicht in seinem damals neuen Präsidentenpalast in Ankara zu besuchen. Sie listete dabei mutmassliche Rechtsverletzungen beim Bau des umstrittenen Gebäudes auf – es wurde allem Anschein nach unter Missachtung von Naturschutzbestimmungen in einem Waldgebiet gebaut. Im Dezember bestätigte derweil ein Berufungsgericht, dass die Verurteilung der Generalsekretärin Mücella Yapıcı rechtens sei. Die Architektin wurde mit sieben weiteren Angeklagten wegen Beihilfe zu einem versuchten Regierungsumsturz während der Gezi-Proteste zu achtzehn Jahren Haft verurteilt.

Doch auch jetzt im Gefängnis hört Yapıcı nicht damit auf, die AKP zu kritisieren. Zu ihrem Geburtstag vor wenigen Tagen trafen sich Unterstützer:innen Yapıcıs zu einem Picknick in einem Istanbuler Park und feierten die Gefängnisinsassin. Sie teilten ein Foto des Beisammenseins in den sozialen Netzwerken und schrieben dazu, dass sie mit einer Festtafel draussen auf die Inhaftierte warten würden.