Wahlen in der Türkei: Erdoğans Mantra verfängt

Nr. 20 –

Es ist ein ernüchterndes Ergebnis. Nach rund zwanzig Jahren an der Macht muss sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zwar einer Stichwahl stellen, bei der Doppelwahl am Sonntag konnte er keine absolute Mehrheit erreichen. Doch sein Ergebnis war besser, als alle Umfragen vorausgesagt hatten – und sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, Kandidat eines breiten Bündnisses aus sechs Parteien, schnitt schlechter ab als erwartet.

Wer glaubte, dass die Wirtschaftskrise, der wachsende Autoritarismus, die zahlreichen Korruptionsvorwürfe, die vielen politischen Gefangenen, die Besetzung des gesamten Staatsapparats mit Loyalist:innen, der politisch tolerierte Pfusch am Bau, durch den Tausende Menschen beim Erdbeben im Februar starben, für einen Wechsel ausreichen würden, wurde eines Besseren belehrt. Trotz dieser eigentlich idealen Grundvoraussetzungen ist es der Opposition wieder nicht gelungen, den Langzeitherrscher im ersten Wahlgang aus dem Amt zu heben.

Ihr bescheidenes Abschneiden hat auch mit unfairen Voraussetzungen zu tun: Mehr als achtzig Prozent der Medien werden von der Regierung gelenkt. Es gibt keine freie Justiz, und staatliche Mittel werden für die Regierungspartei eingesetzt. Erdoğan bezichtigte seine Gegner:innen als «Terroristen». Auf Wahlkampfveranstaltungen wurden offensichtliche Fakevideos mit Kılıçdaroğlu gezeigt, und der Präsident behauptete, dieser würde von der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK Anweisungen erhalten. Die Opposition hingegen vermied in einer positiven Kampagne weitgehend Aggressionen. Aber sie kam nicht gegen den mächtigen Staatsapparat an, ihre Unterstützer:innen wurden eingeschüchtert, bedroht: «Wenn es sein muss, werden wir, wie in der Nacht des 15. Juli [2016], unsere Freiheit und unsere Zukunft zum Preis unseres Lebens verteidigen», hatte Erdoğan gewarnt.

Seit den Gezi-Protesten 2013 hat der ­«lider» – der «Führer», wie seine Anhänger:innen ihn nennen – Proteste niederknüppeln lassen, die Meinungsfreiheit immer weiter eingeschränkt. Nach dem Putschversuch 2016 liess er Tausende Kritiker:innen festnehmen und den Friedensprozess mit den Kurd:innen einfrieren. Eine Tragödie für all diejenigen, die unter Erdoğans Herrschaft leiden – für seine Wähler:innen hingegen ein Zeichen der Stärke. Der konservative Präsident und seine AKP geniessen bei vielen religiösen Türk:innen, die jahrzehntelang von einer säkularen Regierungselite an den Rand gedrängt wurden, immer noch grossen Rückhalt; sie weisen auf die Erfolge Erdoğans hin: Infrastrukturprojekte, eine Reislamisierung und zahlreiche aussenpolitische Abenteuer. «Die Türkei ist nicht mehr ein Land, das Befehle entgegennimmt, sondern ein Land, das Befehle erteilt», wiederholte Erdoğan im Wahlkampf immer wieder – ein Mantra, das verfängt.

Neben Erdoğan ist die extreme Rechte Gewinnerin des ersten Wahlgangs: Sinan Oğan von der ultranationalistischen Ata-Allianz landete abgeschlagen auf dem dritten Platz. Trotzdem gilt er nun als Königsmacher. Sollte er eine Wahlempfehlung aussprechen, könnte dies entscheidend für den nächsten Urnengang sein. Zwar hält sich Oğan, der einst bei der ultrarechten MHP, der Koalitionspartnerin der AKP, Mitglied war, bisher zurück. Doch die linke, prokurdische HDP lehnt er dezidiert ab: «Unsere Grundlogik ist, dass die HDP nicht im System sein sollte», sagte er am Wahlabend dem «Spiegel». Damit ist ein Schulterschluss mit Kılıçdaroğlu unmöglich. Dieser hatte sich zuvor gegen eine pauschalisierende Diffamierung der Kurd:innen gestellt; er ist auf deren Stimmen angewiesen.

Im Parlament können Erdoğans AKP und die MHP ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten. Bei einem in die Ferne gerückten Sieg Kılıçdaroğlus bei einer Stichwahl könnten sich Parlament und Präsident blockieren. Dies hätte unweigerlich eine Regierungskrise zur Folge – ein Szenario, das Erdoğan schon jetzt für sich zu nutzen weiss. Bei der Stichwahl, so der Präsident, sei er sich sicher, dass die Wähler:innen «Sicherheit und Stabilität» bevorzugen würden. Da er alles daransetzen wird, sein Ziel zu erreichen, werden die Tage bis zum 28. Mai sehr aufreibend sein – Hetze inklusive.