Antiautoritärer Kongress: «Saint-Imier ist weltweit ein Code für den Anarchismus»

Nr. 28 –

Der Historiker Florian Eitel hat die Geschichte der anarchistischen Uhrmacher:innen im Jura neu geschrieben. Sie erfrechten sich, Karl Marx zu stürzen. Und politisierten sich über die Musik.

Zeichnung: Augustin Rebetez
Zeichnung: Augustin Rebetez


WOZ: Florian Eitel, wir möchten über den anarchistischen Kongress von Saint-Imier 1872 sprechen. Natürlich wollen wir auch die Frage aufwerfen, warum sich ausgerechnet in der Schweiz diese fulminante und vor lauter Rütli-Gedenken leider etwas vergessene Weltgeschichte ereignete: die Ausrufung der Antiautoritären Internationale. Aber nähern wir uns der Sache auf leisen Sohlen und beginnen mit dem Bahnhof von Les Convers. Eine Postkarte davon haben Sie an den Anfang Ihres Buches über die Geschichte der anarchistischen Uhrmacher:innen im Jura gestellt. Was verrät uns dieser Bahnhof über das Tal von Saint-Imier in jener Zeit?

Florian Eitel: Die Frühphase des Anarchismus hängt sehr stark mit der Veränderung der Zeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen. Analog zur heutigen Globalisierung bezeichnen sie Historiker:innen als «moderne Globalisierung»: Neue Technologien wie die Eisenbahn oder der Telegraf veränderten den Alltag der Menschen. Sie schufen Netzwerke, über die eine sich als global verstehende und agierende Bewegung wie der Anarchismus erst entstehen konnte. Der Bahnhof von Les Convers war ein Knotenpunkt in einem solchen Netzwerk: ein Umsteigebahnhof, an dem drei Bahnlinien aus den Zentren Neuchâtel, Saint-Imier und La Chaux-de-Fonds zusammenfanden. Die Mitglieder der Juraföderation, also der anarchistischen Sektionen im Jurabogen, nutzten ihn als Treffpunkt: Sie führten dort Diskussionen und beschlossen Aktionen.

Es war bestimmt auch ein guter Ort, um sich klandestin zu treffen.

Genau. Weil der Bahnhof nicht in einem Dorf lag und nur zum Umsteigen diente, konnten Treffen diskret abgehalten werden.

Die neuen Technologien veränderten die Wahrnehmung von Zeit und Raum – wie nun beeinflussten sie die Verbreitung von anarchistischen Ideen?

Bisher wurde in der Forschung die Entstehung des Anarchismus stark aus einer ideengeschichtlichen Perspektive betrachtet: Ein grosser Denker wie Michail Bakunin kommt in die Schweiz und bekehrt an seinen Vorträgen ein paar Uhrmacher:innen, und die werden dann zu Anarchist:innen. Das ist für mich eine sehr verkürzte Erzählung. Viel wichtiger war der Kontext der Zeit, in dem sich radikalste Veränderungen ereigneten: technologisch, ökonomisch, sozial und kulturell. Die Eisenbahn hat nicht nur entlegene Orte verbunden, sie hat das Raumverständnis völlig verändert und die wahrgenommene Zeit beschleunigt. Der Leitspruch der ersten Internationale, die 1864 in London gegründet wurde, lautete bekanntlich: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Das war nur mit der Eisenbahn möglich. Auch der in Bern gegründete Weltpostverein war ein Geburtshelfer der internationalen Arbeiter:innenbewegung. Anarchist:innen bauten darauf ein globales Korrespondent:innennetzwerk für ihre Zeitungen auf. In meinem Buch spreche ich von einem «anarchistischen Reuters».

Die konkreten Verbindungen haben also überhaupt erst die Vorstellung einer internationalen Solidarität geschaffen?

Einerseits wurde die Logistik praktisch genutzt. Andererseits bewirkten die Technologien einen Dreh im Denken, der zu einer Verbundenheit von Leuten führte, die sehr weit voneinander entfernt lebten. Denn wie kann man erklären, dass ein Uhrmacher in Saint-Imier im Jahr 1874 für streikende Küfer in Katalonien Geld spendete oder für Eisenbahner in Baltimore oder Mineure in Belgien? Das ist nur erklärbar, weil über die Netzwerke ein kollektives Bewusstsein, eine translokale Gemeinschaft entstanden sind.

Dagegen kann man einwenden, dass die Netzwerke neutral waren und darüber jede Ideologie hätte verbreitet werden können.

In der Tat hat die Globalisierung den Anarchismus ausgelöst, weltweit aber auch eine Stärkung des Nationalismus bewirkt. Beide Denkrichtungen waren eine Antwort auf die damalige Veränderung der Raum- und Zeitvorstellung. Interessant ist, dass die Globalisierung vor Ort nicht zu einer Homogenisierung führte, sondern zu einer Heterogenisierung: Es entstand plötzlich eine Distanz zwischen Nachbar:innen, weil der eine zum Anarchisten wurde – und der andere zum Nationalisten.

Florian Eitel
Florian Eitel

Der Anarchismusforscher

Der Historiker Florian Eitel (41) hat mit seinem Buch «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz» (Transcript, 2018) die Forschung zum Thema auf eine neue Grundlage gestellt. Die mikrohistorische Studie, die den Anarchismus im Tal von Saint-Imier als Folge der Globalisierung im 19. Jahrhundert beschreibt, diente mit ihren zahlreichen Materialien auch als Vorlage für den Film «Unrueh» von Cyril Schäublin. Eitel arbeitet als Kurator am Neuen Museum Biel.

Können Sie die Hinwendung zum Anarchismus an einer konkreten Person beschreiben, zum Beispiel an Adhémar Schwitzguébel, der die Juraföderation an den Kongressen der Internationale vertrat?

Schwitzguébel ist ein exemplarischer Fall: Er war wie viele im Jura ein Einwanderer, seine Familie kam aus dem Berner Oberland. Sein Vater war noch ein klassischer Freisinniger. Die junge Generation radikalisierte sich, Schwitzguébel machte einen Schritt hin zum Sozialismus. Er war ein Autodidakt, der bald analytische Texte schrieb. Etwa zur Frage, wie man mit Krisen der Weltwirtschaft umgehen sollte: eben nicht wie der Nationalstaat mit Protektionismus und Patenten, sondern mit Kooperationen zwischen den Produzent:innen weltweit. Gleichzeitig blieben in seinen Texten Denkmuster des Republikanismus stark präsent: der Antiklerikalismus etwa oder der Föderalismus. Der Anarchismus entwickelte sich nicht losgelöst von der übrigen Geschichte, sondern ist wie der Liberalismus ein Erbe der Französischen Revolution.

Wie können wir uns den Alltag von Schwitzguébel vorstellen: Am Tag hat er als Uhrmacher gearbeitet und in der Nacht anarchistische Traktate verfasst?

Dafür müssen wir zuerst das Bild des Uhrmachers genauer umreissen. Das war nicht einfach eine Person, die eine Uhr zusammensetzte. Die Produktion war hochgradig spezialisiert: Es brauchte hundert Arbeitsschritte und etwa gleich viele Berufe für eine Uhr. Schwitzguébel arbeitete als Graveur, verzierte also die Uhrengehäuse. Allgemein kann man sagen, dass die Anarchist:innen in der Arbeitshierarchie nicht ganz unten standen und eher komplexere Berufe ausübten. Doch sie spürten den Sog nach unten. In der Regel hatten sie einen Arbeitstag von bis zu dreizehn Stunden. Die anarchistische Arbeit verrichteten sie nicht nach, sondern vor allem während der Arbeit. Man las Traktate und sang zusammen Lieder, während man an den Uhren arbeitete.

Zeichnung: Augustin Rebetez
Zeichnung: Augustin Rebetez

Zeichnungen von Augustin Rebetez

Die auf diesen Seiten abgedruckten Kohlezeichnungen stammen vom Künstler Augustin Rebetez. Er wurde 1986 im ländlichen Jura geboren, wo er noch heute lebt und arbeitet; seine Werke wurden in Metropolen auf der ganzen Welt gezeigt. Über diverse Medien hinweg arbeitet Rebetez unentwegt an einem künstlerischen Universum, das zuweilen dämonisch wirkt, aber auch von einem feinen bis anarchischen Humor gebrochen wird.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass die Beschäftigten unter einem neuen bürgerlichen Zeitdiktat arbeiten mussten, das die religiöse Gestaltung des Tagesablaufs ablöste. In Saint-Imier gab es neben der Ortszeit sogar eine Fabrikzeit, nach der sich die Arbeiter:innen zu richten hatten. Wie interpretierten sie diese beschleunigte Zeit?

Der Historiker Reinhart Koselleck unterscheidet zwischen einem Erfahrungsraum und einem Erwartungshorizont. In der Globalisierung des 19. Jahrhunderts wurde der Erfahrungsraum immer kleiner, weil man in immer kürzeren Zeitabschnitten neue Erfahrungen machte. Gleichzeitig steigerte sich dadurch die Erwartung, dass Veränderungen auch schnell passieren. Die Anarchist:innen glaubten deshalb nicht nur an eine Revolution zu Lebzeiten, sondern daran, dass sie unmittelbar bevorstehe. Dass sich die Antagonismen zwischen Arbeit und Kapital immer mehr zuspitzten und sich in einer Revolution entladen würden. Die internationalen Nachrichten über Aufstände, Streiks und Revolten irgendwo auf der Welt haben zu dieser Wahrnehmung beigetragen. Die Beschleunigung hat vor allem bei jungen Leuten höhere Erwartungen ausgelöst: Viele der Anarchist:innen waren erst Mitte zwanzig. Es war eine sehr junge Bewegung.

Ausgerechnet die Beschäftigten in der Uhrenindustrie, die für die Vermessung der Zeit zuständig waren, stellten die herrschende Zeitordnung infrage: Besteht da ein Zusammenhang?

So weit würde ich nicht gehen, weil wir sonst nicht erklären können, warum auch Leute, die keine Uhrmacher:innen waren, zu Anarchist:innen wurden. Was ich aber sagen würde: Um auf die revolutionäre Schiene zu kommen, brauchten die Leute ein globales Bewusstsein. Und das erhielten sie erst, wenn sie Erfahrungen in einem globalen Markt wie der Uhrenindustrie mit seinen extremen Schwankungen gemacht hatten.

In dieser Geschichte sind bisher namentlich nur Männer aufgetaucht. Was war mit den Frauen?

Ein Drittel der Arbeit in der Uhrenindustrie wurde damals von Frauen verrichtet. Sie arbeiteten jedoch in den Berufen, die weniger gut gewerkschaftlich organisiert waren und entsprechend schlecht dokumentiert sind. Leider finden wir im Jura in den Quellen keine Anarchistin wie etwa die bekannte Französin Louise Michel. Auch mentale Gründe trugen zum Fehlen der Frauen in den vordersten Reihen der jurassischen Anarchist:innen bei: Diese sagten zwar klar, sie müssten auch das Patriarchat bekämpfen. Doch sie schoben diesen Kampf auf die Seite, weil es ihnen schon schwierig genug schien, andere gedankliche Barrieren wie den Regionalismus oder den Patriotismus zu überwinden.

Kommen wir zum Kongress in Saint-Imier, der eigentlich mit einem frechen Rundschreiben begann: 1871 schickte die Juraföderation einen Brief aus Sonvilier an die Internationale, in dem sie das autoritäre Gehabe des Generalrats kritisierte. Worum ging es bei der Auseinandersetzung?

Das Rundschreiben war ein Frontalangriff auf Karl Marx. Zwar wird er nicht namentlich genannt, aber alle wissen, dass mit der im Brief angeprangerten «Zentralisierung» und «Diktatur» Marx gemeint war. Letztlich ging es um die Ausdifferenzierung des Sozialismus in eine reformistische, eine kommunistische und eine anarchistische Richtung. Marx verkörperte die Idee, dass die Revolution einer straffen Partei bedürfe, die von oben nach unten geführt werde. Die Anarchist:innen warfen Marx vor, dass er die Internationale missbrauche. Es sei nicht am Generalrat, den Weg zur Revolution festzulegen. Die einzelnen Föderationen könnten darüber entscheiden, welche politischen Mittel den lokalen Gegebenheiten entsprächen, ganz im Sinn des Föderalismus eben. Das Schreiben erschütterte die Internationale.

Was waren die Folgen?

Am nächsten internationalen Kongress in Den Haag 1872 wurden alle Anarchist:innen ausgeschlossen, darunter auch Bakunin und Schwitzguébel. Nur eine Woche später versammelten sie sich alle in Saint-Imier zu einem Antikongress. Dass sie sich im Jura trafen, hatte mit der geografischen Lage in der Mitte Europas zu tun. Was man auch nicht vergessen darf: In der Schweiz galten damals Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit, in den Monarchien rundherum nicht.

Wer traf nun alles in Saint-Imier ein?

Insgesamt kennen wir die Namen von 43 Delegierten. Sie kamen aus den Hochburgen des Anarchismus: aus Spanien und Italien, auch aus Russland, England, Holland oder Frankreich. Auch einige Frauen waren darunter. Hinzu kamen wohl Hunderte von Teilnehmer:innen aus der lokalen Bevölkerung. Wir müssen uns das Ganze nicht nur als Kongress vorstellen, sondern als Riesenfest. Es wurde auch viel demonstriert und gesungen. Die Erfahrungen und die Netzwerke der Anarchist:innen verdichteten sich auf einzigartige Weise – und gingen von Saint-Imier in die Welt hinaus.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Auch russische Studentinnen aus Zürich nahmen am Kongress teil. Sie kamen in die Schweiz, um hier Medizin zu studieren und sich auf die Revolution vorzubereiten. Die Spur von Olga Ljubatowitsch etwa lässt sich von der Universität Zürich zum Kongress verfolgen und später weiter zu einer Untergrundorganisation, die 1881 bei einem Attentat in St. Petersburg den Zaren Alexander II. ermordet hat.

Die vier Resolutionen, die in Saint-Imier beschlossen wurden, gelten bis heute als Charta des Anarchismus. Was wurde gefordert?

Der Anarchismus war schon damals keine homogene Bewegung, man muss deshalb von einem Kompromiss sprechen. Die Beschlüsse der Internationale in Den Haag wurden für nichtig erklärt und der Zentralismus des Generalrats verworfen. Fortan gab es zwei Internationalen. Eine Resolution legte den Schwerpunkt auf die Gewerkschaftsarbeit, auf das Hinarbeiten auf einen Generalstreik. Eine andere setzte auf spontane Aktionen, die den Umsturz herbeiführen sollten. Damit waren sowohl der syndikalistische wie auch der aufständische Anarchismus in den Beschlüssen angelegt. Saint-Imier bleibt denn auch für die weitere Entwicklung des Anarchismus ein Referenzpunkt – der Ortsname wird weltweit zu einem Codewort dafür.

Bemerkenswert ist: Das Wort «Anarchismus» kommt in den Resolutionen gar nicht vor.

Der Begriff musste sich tatsächlich noch entwickeln. In Debatten in Spanien und Italien wurde er zwar schon gebraucht. Die Uhrmacher:innen im Jura bezeichneten sich aber lieber als antiautoritär oder föderalistisch. Das konnte auch strategische Gründe haben: Das Wort «Anarchismus» war negativ konnotiert und wurde vor allem auch von jenen verwendet, die anarchistische Ideen diskreditieren wollten. Wie auch immer sie sich selbst bezeichneten: Die Anarchist:innen wurden in den nächsten Jahrzehnten zur grössten revolutionären Arbeiter:innenbewegung. Das vergisst man oft, wenn man die Geschichte rückwärts betrachtet. Aber damals war alles ergebnisoffen. Erst mit der Oktoberrevolution 1917 setzte sich der Kommunismus durch und radierte auch gleich seine Gegenspieler:innen und deren Geschichte aus.

Die Juraföderation löste sich schon viel früher auf: nach der grossen Wirtschaftskrise von 1874 bis 1879.

So schnell, wie die Juraföderation aufgestiegen war, fiel sie auch wieder. Sicher hat die Entwicklung mit der Wirtschaftskrise und der Mobilität der Leute zu tun, die den Aufbau langfristiger Strukturen erschwerte. Ich vermute aber auch, dass die Erwartungshaltung eine Rolle spielte: Die Revolution war nicht eingetreten. Und je höher die Erwartungen liegen, desto grösser ist bekanntlich die Enttäuschung.

Dieses Schicksal ereilte auch Adhémar Schwitzguébel: Er wurde vom Revolutionär zum sozialdemokratischen Arbeitsinspektor.

Verkürzt kann man sagen, er habe die Seite gewechselt. Vielmehr aber wurde Schwitzguébel wegen seiner Gesinnung in den Ruin getrieben. Mit sieben Kindern war er dringend auf die Stelle beim reformistischen und staatlich finanzierten Schweizerischen Arbeitersekretariat angewiesen. Ein Stück weit setzte er dabei auch seine bisherige Tätigkeit fort: Er machte Erhebungen über den Arbeitsmarkt, Statistiken waren den Anarchist:innen immer wichtig. Zudem stand er massgeblich hinter der Gründung der Fédération ouvrière horlogère. Das war schweizweit der erste Dachverband einer Branche und ein Vorläufer der Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (Smuv). Der Name Schwitzguébel sollte in der Schweizer Gewerkschaftsbewegung viel bekannter sein, als er es heute ist.

Auch heute leben wir in einer Zeit der Globalisierung und von grossen technologischen Umwälzungen. Worin liegt für Sie die Aktualität des Anarchismus?

Bestimmt war es kein Zufall, dass mit dem Aufkommen des Internets auch eine anarchistische Ikone weltberühmt wurde: Subcomandante Marcos von den Zapatist:innen in Chiapas. Sicher ist der Anarchismus heute weit davon entfernt, eine Massenbewegung zu sein. Der Grundsatz der Anarchist:innen, global zu denken und lokal zu handeln, ist aber auch für die heutige Zeit sehr nützlich. Wir dürfen zudem nicht vergessen, dass viele Prinzipien und Praktiken, die heute in der Linken selbstverständlich sind, von den Anarchist:innen stammen: der Generalstreik, die Propaganda der Tat, die direkte Aktion, der zivile Ungehorsam oder die Selbstorganisation. Auch die antiautoritäre Erziehung gehört dazu oder die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Und selbst der Föderalismus, der in der Schweiz stark mit dem Kantönligeist verbunden ist, liesse sich anarchistisch neu entdecken.

Nun findet vom 19. bis zum 23. Juli erneut ein anarchistischer Kongress in Saint-Imier statt. Sie halten dort einen Workshop über die Funktion von Musik und Liedern im Anarchismus. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?

Ich finde, dass nicht nur beim Anarchismus die Bedeutung der Musik in der politischen Geschichte unterschätzt wird. Sie trägt viel zur Bildung und zur Politisierung bei. Auf die Schnelle wird in Liedern ein ganzes Programm durchgegeben. In der «Jurassienne» heisst es im Refrain: «Arbeiter, eigne dir die Maschine an! Bauer, nimm dir das Land!» Man muss nicht tausend Seiten Bakunin lesen – dieses Lied reicht, um die Aneignung der Produktionsmittel zu verstehen.

Gibt es ein Lied, das Sie selbst politisiert hat?

Ironischerweise für mich als Anarchismusforscher war es ein kommunistisches: «Contessa», eine Hymne der 1968er-Bewegung in Italien. Ich bin in der italienischsprachigen Schweiz aufgewachsen, und wir haben es jeweils gesungen, als wir für das autonome Jugendzentrum Molino in Lugano demonstrierten. In einer neuen Fassung der Modena City Ramblers.

Zusammenkunft in Saint-Imier : Der kurze Sommer der Anarchie

«Und als ich die Berge nach gut einer Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir liess, standen meine sozialistischen Ansichten fest. Ich war ein Anarchist»: So schrieb es der russische Theoretiker Pjotr Kropotkin in seinen Memoiren. Wer sich ebenfalls vom Anarchismus überzeugen lassen will, hat bald an Ort und Stelle Gelegenheit dazu: In Saint-Imier findet vom 19. bis zum 23. Juli die «Anarchy 2023» statt. Damit wird – wegen Corona um ein Jahr zeitversetzt – auch der 150. Jahrestag der Antiautoritären Internationale von 1872 gefeiert.

«In einer Welt, die den radikalen Protest immer mehr zu neutralisieren scheint, scheint es notwendig zu sein, sich physisch zu treffen, als Anarchist:innen», begründen die Veranstalter:innen die geplante Zusammenkunft. Statt bloss «eines historischen Ereignisses zu gedenken», gehe es ihnen allerdings darum, über «lebendige Kämpfe» zu sprechen. Zu diesem Zweck finden in Saint-Imier fünf Tage lang Workshops und Vorträge, Lesungen und Theatervorführungen, Filmscreenings und Konzerte statt. Auch ein «autonomes Radiostreaming» ist vorgesehen.

Ob ein Vortrag über die «jüdischen Einflüsse auf den Anarchismus», ein feministischer Blick auf Pjotr Kropotkin oder «antiautoritäre Perspektiven auf den Krieg gegen die Ukraine»: Das Programm ist äusserst vielfältig – was im Vorfeld aber auch für Kritik sorgte. So wurden auf dem autonomen welschen Infoportal «Renversé» «verschwörungstheoretische, esoterische oder ableistische Tendenzen» bemängelt. Die Veranstalter:innen kündigten an, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um jene Workshops abzusagen, die «den Werten des Kongresses schadeten».

Wer einen Workshop vorschlagen, sich als Dolmetscher:in oder freiwillige:r Helfer:in einbringen will, findet alle Infos unter www.anarchy2023.org. Um die Kosten zu decken, sind die Veranstalter:innen zudem dringend auf Spenden angewiesen. 

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