Krise des Konservatismus: «Sie tappen in die Falle rechter Populist:innen»

Nr. 33 –

Die konservativen Kräfte befänden sich im Niedergang, diagnostiziert Thomas Biebricher. Der Politologe sieht darin eine Gefahr für die Demokratie.


WOZ: Herr Biebricher, in Ihrem aktuellen Buch sehen Sie die Konservativen in der Krise. Woran machen Sie das fest?

Thomas Biebricher: Viele traditionell konservative Parteien erleben einen Schwundprozess. Sie sind zum Regieren auf Koalitionen mit rechtspopulistischen Parteien angewiesen, teilweise gar zur Nischenexistenz zusammengeschrumpft – und viele driften selber nach rechts ab.

Wo beobachten Sie das konkret?

Die Républicains in Frankreich waren unter Präsident Jacques Chirac bis in die nuller Jahre eine prägende Partei. Diese hat sich jedoch stark nach rechts radikalisiert – und einen dramatischen Niedergang erlebt: Bei der Präsidentschaftswahl 2022 scheiterte ihre Kandidatin Valérie Pécresse gar an der Fünfprozenthürde! Die Vorherrschaft rechts der Mitte liegt heute bei Marine Le Pens Rassemblement National. Auch die britischen Tories werden bei den nächsten Wahlen ihre Mehrheit kaum verteidigen können. Gleichzeitig sind sie zu einer solch radikalen Brexit- und Antimigrationspartei mutiert, dass sie selbst die rechtspopulistische Ukip verdrängt haben. Oder nehmen Sie Finnland: Seit Juni regieren die Konservativen dort mit den rechtsextremen Wahren Finnen.

Sie sagen, Le Pens Partei sei rechts die dominierende Kraft. Doch da ist auch noch Macrons Renaissance.

Es ist richtig, dass Macron einen grossen Teil seines Spitzenpersonals von den Républicains rekrutiert hat. Die Partei ist ideologisch jedoch schwer einzuordnen, weil sie stark auf Macron fokussiert.

Gibt es auch in der Schweiz eine Krise des Konservatismus?

Trotz ihres speziellen Politsystems zeigen sich in der Schweiz ähnliche Entwicklungen wie anderswo. Mit der SVP hat sich eine starke Rechtsaussenpartei etabliert, die die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien verdrängt hat.

Sie sehen den kürzlich verstorbenen Silvio Berlusconi als Verkörperung dieser Krise. Warum?

Ja, bei ihm zeigt sich erstmals die starke Personalisierung, die viele Parteien übernommen haben. Berlusconi hat auf Grundlage seines Firmenimperiums mit der Forza Italia eine auf ihn zugeschnittene Partei aus dem Boden gestampft. Diese blieb ideologisch extrem flexibel. Wenn es ihm passte, schoss Berlusconi scharf gegen die EU, dann stellte er sich wieder hinter sie. Er entwarf auch die für heute typische Antipolitik: Er spielte den Unternehmer, der mit dem alten Politsystem bricht – und eine Politik betreibt, die wie eine Firma Wohlstand bringt. Donald Trump ist in vielerlei Hinsicht Berlusconis Abbild, bis hin zur Auseinandersetzung mit der Justiz.

Der Politikwissenschaftler

Thomas Biebricher (48) ist Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus» (Suhrkamp-Verlag) befasst sich der Politologe mit den Umwälzungen innerhalb der traditionellen bürgerlichen Parteien in Frankreich, Grossbritannien und Italien. In seinem vorangehenden Buch, «Geistig-moralische Wende», hat er die «Erschöpfung» der deutschen CDU analysiert.

 

Warum liegt Ihnen das Wohlergehen der Konservativen am Herzen?

Ich betrachte sie für liberale Demokratien als wichtig. Der rapide Wandel der Gesellschaft führt bei gewissen Leuten zu Verlustängsten, Verunsicherung und Desorientierung – bis hin zu Ressentiments. Konservative können solche Gefühle in Milieus, die für die Linke unerreichbar sind, aufnehmen und moderieren – und zwar so, dass sie die liberale Demokratie nicht untergraben. Ohne sie übernimmt die äussere Rechte den Lead, die die Ressentiments weiter schürt.

Ihre Beschreibung trifft vielleicht auf Konservative nach dem Zweiten Weltkrieg zu, die Hand für einen Sozialstaat boten. Seit dreissig Jahren fahren Konservative aber einen harten Wirtschaftskurs, der die Gesellschaft eher zerrüttet.

Ja, sie nehmen diese Rolle immer weniger wahr – was auch der Grund für die Krise ist, in der sie stecken. Ihre Begeisterung für einen deregulierten, globalisierten Kapitalismus führt zu Umwälzungen, die nur schwer mit ihrem bewahrerischen Impuls in Einklang zu bringen sind.

Ist es heute nicht die Linke, die Grundrechte und sozialen Ausgleich zu bewahren oder Klima und Lebensräume zu retten sucht, die eigentlich konservative Kraft?

Teilweise. In der Klimapolitik etwa fordert sie aber grössere Umwälzungen. Die konservative Position bestünde darin zu sagen, dass der Klimawandel real sei, man jedoch behutsam vorgehen müsse, um keinen Backlash zu provozieren. Ich erinnere an die Gelbwesten in Frankreich, die sich gegen Macrons Klimapolitik wandten. Worüber wir bisher nicht geredet haben, sind gesellschaftliche Fragen: Hier herrscht ein Kulturkampf.

Bevor wir dazu kommen, eine Nachfrage zu den Gelbwesten: Auch hier ist es die Linke, die verlangt, dass Klimamassnahmen nicht auf Kosten der Ärmeren gehen.

Das ist richtig, da gibt es tatsächlich eine Überschneidung zwischen den Linken und einer traditionell konservativen Position.

Portait Biebricher
Thomas Biebricher Foto: Heike Steinweg

Die feministische und die LGBTIQ+-Bewegung stellen in den letzten Jahren vermehrt Forderungen. Sie sagen, dass Konservative diese Themen aufnehmen und diskutieren sollten, statt Ressentiments zu schüren.

Konservative tappen in eine Falle, wenn sie den Kulturkampf und die Feindbilder der Rechtspopulist:innen übernehmen. Unter Präsident Nicolas Sarkozy haben die Konservativen in den nuller Jahren begonnen, immer mehr die nationale Identität zu beschwören, und der Verschleierung den Kampf angesagt. Zuerst war die Abgrenzung gegen Links-Grün erfolgreich, doch dann wanderte ein Teil der Wähler:innenschaft zu Le Pen ab. Hier liegt die Gefahr der Radikalisierungsstrategie.

Sehen Sie irgendwo noch traditionelle konservative Kräfte?

Die CDU unter Angela Merkel, die einen hochpragmatischen Mitte-Rechts-Kurs gefahren ist und kulturelle Wandlungsprozesse letztlich mitgetragen hat. Stichwort «Ehe für alle», die sie letztlich akzeptiert hat. Im Moment sind diese Kräfte aber weitgehend verschwunden, auch die CDU ist auf der verzweifelten Suche nach einem Profil.

Verklären Sie Merkel nicht? Nach der Finanzkrise 2008 hat sie Ländern wie Griechenland einen eisernen Sparkurs diktiert.

Man muss differenzieren: Tatsächlich war sie federführend beim Austeritätsprogramm, das Europa aufgedrückt wurde. Innenpolitisch hat Merkel jedoch keine besonders neoliberale Politik verfolgt. Nach dem neoliberalen Kurs ihres Vorgängers Gerhard Schröder sah sie wohl auch keinen Bedarf.

Wo sehen Sie den Grund für die Krise der Konservativen?

Es gibt je nach Land verschiedene Gründe. Allerdings sehe ich in den gesellschaftlich disruptiven Auswirkungen des zunehmend deregulierten Kapitalismus schon einen gemeinsamen Nenner. Er führt in gewissen Milieus zu einem Gefühl der Verunsicherung, der Überforderung und der Unübersichtlichkeit. Allerdings sind auch rechtspopulistische Akteure nötig, die Kapital daraus schlagen – und mit denen für Konservative eine Konkurrenz entsteht.

Liegt ein wichtiger Grund nicht darin, dass die Rechte eine Wirtschaftspolitik betreibt, die gegen die Interessen vieler Menschen verstösst – und sie deshalb mit rechten Parolen zu punkten versucht? So wie Trump oder die SVP?

Da ist sicher etwas dran. Der Fokus der Politik hat sich stark von wirtschaftlichen hin zu kulturellen Fragen verschoben. Die meisten Parteien wollen an den grossen materiellen Fragen nicht mehr gross rütteln und versprechen sich in den Auseinandersetzungen auf kulturellem Terrain grössere Erfolge.

Sie beschreiben das als Krise. Ist die Verschiebung des Koordinatensystems nach rechts nicht ein Erfolg für die Konservativen? Die klassische Rechte muss kaum mehr für ihre Wirtschaftspolitik hinstehen und inszeniert sich als ausgleichende Mitte …

Ja, der klassische Fall war Jacques Chirac, der 2002 gegen Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl kam und als Verteidiger der Republik auch viele Linke hinter sich brachte. Auch rechtsradikale Kräfte inszenieren sich gerne als die Mitte, um anschlussfähig zu werden. Marine Le Pen hat versucht, ihre Partei zu entdiabolisieren. Die AfD geht allerdings den gegenteiligen Weg: Sie radikalisiert sich und will, dass das auch wahrgenommen wird. Le Pens Weg ist ja auch gefährlich, weil sie so den radikaleren Teil der Basis verprellt. Die offene Bereitschaft der spanischen Vox zum Beispiel, nach den Wahlen mit den Konservativen zu regieren, hat der Partei sicher geschadet.

Was raten Sie den Konservativen?

Sie sollten nicht auf den Kulturkampf der Rechtspopulist:innen aufspringen. Sie dürfen Themen wie Migration nicht totschweigen, doch sie sollten sie nicht selber ständig auf die Agenda setzen. Sie müssen von den Rechtspopulist:innen unterscheidbar bleiben. Ich würde auf einfache Mittelschichtspolitik setzen, Antworten auf die Frage geben, wie Volkswirtschaften ökologisch umgebaut werden können, ohne dass sie an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, oder Bildungspolitik betreiben. Es gibt Milieus, die sich von links nicht angesprochen fühlen, aber offen sind für seriöse, konservative und halbwegs staatstragende Antworten. Angesichts ihres Niedergangs müssten sich die Konservativen fragen, ob ihr Rechtskurs wirklich in ihrem Interesse ist.