Film: Der Diktator saugt immer noch Blut

Nr. 36 –

Pinochet kann nicht sterben, seine Kinder wollen endlich erben: Am Filmfestival Venedig zeigte Regisseur Pablo Larraín eine dunkle Farce über die chilenische Diktatur.

Still aus dem Film «El conde»
«El conde», Netflix

Die Idee leuchtet augenblicklich ein: Augusto Pinochet als Vampir, der nicht wirklich gestorben ist und nachts weiter die Herzen der chilenischen Bevölkerung aussaugt. Das ist die Prämisse von Pablo Larraíns neuem Film «El conde», mit dem der Regisseur von «Spencer» und «Jackie» zu jenem Thema zurückkehrt, das sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht: die chilenische Diktatur und wie sie die Gesellschaft bis heute prägt.

Pinochet starb 2006 eines natürlichen Todes, ohne Reue und im stolzen Alter von 91 Jahren. Der Diktator sei straffrei ausgegangen, das habe ihn gleichsam unsterblich gemacht, so schilderte Larraín anlässlich der Premiere beim Filmfestival in Venedig die Genese seiner Idee zu «El conde». Pinochet als Blutsauger, der nicht sterben kann: Das illustriert nicht nur den Gedanken einer Vergangenheit, die nicht vergehen kann, solange sie unbewältigt bleibt. Larraín will damit auch jede eventuelle Empathie für seine zentrale Figur verhindern.

Familie Pinochet auf der Ranch

Er geht gar noch einen Schritt weiter: Der tattrige Vampir, den der 87-jährige chilenische Volksschauspieler Jaime Vadell mit farcenhafter Dumpfheit verkörpert, mag sich zwar «El conde» (der Graf) nennen, aber der Film entlarvt ihn als Marionette von Mächten, über die er selbst kaum Bescheid weiss. In einer weit ausholenden Vorgeschichte steht er zunächst als monarchistischer Soldat auf der falschen Seite der Geschichte der Französischen Revolution: Lüstern leckt er das Blut von der Klinge der Guillotine, mit der soeben Marie Antoinette geköpft wurde. Dann macht er sich nach Lateinamerika davon, wo sich mit dem vor den Bolschewisten geflohenen Weissgardisten Fjodor (Alfredo Castro) ein anderer Reaktionär zu ihm gesellt. Erzählt wird das alles von einer Frauenstimme aus dem Off, deren britischer Akzent Hinweise gibt auf eine weitere «Blutsauger»-Verwandtschaft des chilenischen Diktators.

Von Marie Antoinette bis Margaret Thatcher öffnet Larraín so den Assoziationsraum, noch bevor die eigentliche Handlung einsetzt. Da versammelt sich in der Gegenwart die Familie Pinochet auf einer abgelegenen Ranch, weil die fünf längst erwachsenen und nutzlosen Kinder es nicht abwarten können, endlich zu erben. Doch das Wesen der Untoten ist es nun mal, dass sie nicht abtreten können. Die katholische Kirche beauftragt unterdessen eine junge Nonne (Paula Luchsinger), den Alten zu exorzieren und gleichzeitig nach einem Vermögen Ausschau zu halten, das man abgreifen könnte. Aber es kommt, wie es in einem Vampirfilm kommen muss: Das junge Blut wird zum Objekt der Begierde.

Von Kameramann Ed Lachman in düster-schmutzigem Schwarzweiss gefilmt, kommt «El conde» als Genrestück nie richtig in Gang. Zu schwer wiegt der intellektuelle Überbau mit seinen vielen historischen und theoretischen Assoziationen: Der Film will gleichzeitig den Neoliberalismus als Treiber des Putschs, die Komplizenschaft der katholischen Kirche und das Wiedererstarken der Rechten heute zum Thema machen. Das Vergnügen an der Farce bleibt so gedämpft wie das Licht in diesem fahlen Film. Aber genau das könnte ganz im Sinn von Larraín sein.

Dieser hat schon in «Tony Manero» (2008), seinem ersten internationalen Erfolg, ein irritierend anderes Bild der Zeit der chilenischen Diktatur gezeichnet. Alfredo Castro spielte dort einen von «Saturday Night Fever» besessenen Soziopathen, der für seinen Erfolg als Tänzer auch vor Mord nicht zurückschreckte. Der Film war nicht nur ein Porträt der Unterdrückung, er widersprach auf subversive Art auch der Geschichtsschreibung, die das Juntaregime als eines von «Recht und Ordnung» ausgab.

Gegen den Strich erzählen

Es folgte eine weitere verstörende Studie eines Mitläufers und «Nebengewinnlers» der Diktatur: «Post Mortem» (2010) zeigte den Tag des Putschs gegen Allende aus der Sicht eines Angestellten eines Leichenschauhauses. Den Abschluss von Larraíns Trilogie zum Thema bildete «No» (2012), der in optimistischen Tönen von der Volksabstimmung erzählte, die 1988 das Ende des Pinochet-Regimes einleiten sollte. Trotz vermeintlichem Happy End zeigte sich auch hier Larraíns Sinn dafür, etwas gegen den Strich zu erzählen. Mit dem Fokus auf die Werbekampagne gegen Pinochet legte der Film dar, wie die Anliegen der Opposition entpolitisiert wurden. Um zu gewinnen, warb die «No»-Kampagne mit leerem Optimismus, der die Diktatur gar nicht erst ansprach – und deren Opfer damit abermals zum Verschwinden brachte.

Larraín, Sohn einer schwerreichen Familie, war damals zwölf Jahre alt, seine Eltern hatten sich für Pinochet ausgesprochen. In den letzten Jahren bekleideten sie verschiedentlich hohe Ämter in rechtskonservativen Regierungen. Ihre politische Haltung hat Larraín offenkundig nicht geerbt. Und im «Hollywood Reporter» macht er deutlich, dass er mit «El conde» in der Tat kein Amüsement im Sinn hat: «Es ist ein Klischee, aber es ist so wichtig, dass wir es wiederholen müssen: Faschismus beginnt mit einem Lächeln, geht über in Angst und mündet in Gewalt.»

«El conde» läuft ab 15. September 2023 bei Netflix. «No» gibts im Streaming bei Filmingo.