Musik unter den Taliban: Energydrinks verkaufen statt Tabla spielen

Nr. 37 –

In Afghanistan werden Musiker:innen systematisch gegängelt. Dabei hören die herrschenden Extremisten selber Lieder – auch wenn sie dies bestreiten.

zwei junge Männer teilen sich im Frühjahr 2014 an einer Kabuler Bushaltestelle einen Kopfhörer
Ein Bild aus der Vergangenheit: Zwei junge Männer teilen sich im Frühjahr 2014 an einer Kabuler Bushaltestelle einen Kopfhörer. Foto: Anja Niedringhaus, Keystone

Der Sikhtempel in Chārābat, einem Quartier in der Kabuler Altstadt, steht leer und ist verriegelt. «Die sind schon längst in Indien oder in Kanada», sagt ein Händler, der neben dem Tempel arbeitet. Einst lebten in diesem Viertel viele Sikhs und Hindus. Mittlerweile haben die meisten Mitglieder dieser religiösen Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung Afghanistan verlassen.

Die letzten Jahrzehnte haben das Leben in Kabuls Gassen verändert: Während ihre einstigen Bewohner:innen vor Krieg und Terror geflüchtet sind, haben sich andere – meist deutlich ärmere Afghan:innen aus anderen Provinzen – in der Hauptstadt niedergelassen. Diese Entwicklung hat unter anderem zu einem rasanten Anstieg der Einwohner:innenzahl geführt. Und wer durch Chārābat läuft, hört die unterschiedlichsten Dialekte: Einige Bewohner:innen sprechen Paschto, andere Farsidialekte aus den nördlichen Regionen des Landes. Das originale Kabuli, sprich der persische Dialekt der afghanischen Hauptstadt, ist etwas rarer geworden.

Ein Meister seiner Zunft

«Hier hat sich vieles verändert, doch solange wir hier sind, wird vieles auch gleich bleiben», sagt Asadullah Cheschti lächelnd. Er trägt ein sauberes weisses Langhemd – dieses wird Peran Tumban genannt –, darüber eine grün schimmernde Weste, und hat seine langen, weissen Haare elegant zurückgekämmt. Cheschtis Vorfahr:innen sind, ähnlich wie die meisten «echten Chārābati», vor Jahrhunderten von Indien nach Afghanistan gekommen – und haben ihre traditionelle Musik hierhergebracht. Bis heute ist Chārābat bekannt als das ehemalige ehrwürdige Musikerviertel Kabuls. Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bachsch, stammten von hier. Der sechzigjährige Cheschti gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheschti ist praktisch mit den zwei Trommeln aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Chārābat: Mohammad Haschem Cheschti. Dessen Beinamen hat er aus Respekt vor seinem Meister angenommen.

Heute sollte es eigentlich Asadullah Cheschti sein, der die nächste Generation der Tablaspieler Chārābats ausbildet. Doch seitdem die militant-islamistischen Taliban im August 2021 abermals die Macht im Land übernommen haben, wird hier weder ein Instrument gespielt noch ein Lied gesungen. Bereits während des ersten Talibanregimes der neunziger Jahre erliessen die Extremisten ein Musikverbot. Fernsehgeräte oder Kassetten wurden beschlagnahmt und zerstört, Musiker:innen verbannt.

Nur noch Koranverse

Fünf Jahre lang herrschte in Afghanistan Totenstille. Heute scheint nicht alles so schlimm zu sein wie damals, doch die «neuen» Taliban sind in vielerlei Hinsicht weiterhin die «alten». Ihre Ideologie sei mit Musik nicht vereinbar, behaupten sie. In einigen Regionen des Landes wurden Instrumente zerstört und Musiker gefoltert. Wer im Auto mit Musik erwischt wird, hat nicht immer, aber meist mit Problemen oder zumindest dummen Sprüchen seitens der Talibanfusssoldaten zu rechnen. Radiosender spielen nur noch Koranverse. Auf Hochzeiten darf keine Livemusik mehr gespielt werden, weshalb die eigenen Youtube-Playlisten herhalten müssen. Hierfür muss man sich im Vorfeld meist mit den lokalen Talibankämpfern arrangieren und sie gegebenenfalls mit einer warmen Mahlzeit oder Bargeld schmieren.

Alle Musiker, auch Asadullah Cheschti und seine Söhne in Chārābat, sind arbeitslos geworden und müssen sich anderweitig über Wasser halten. «Wir haben nichts anderes gelernt», beschwert sich Cheschti, er sei praktisch zum Scheitern verurteilt. Viele seiner Zunft hätten das Land verlassen, doch er wollte diesmal bleiben.

Keine billigen Hochzeitssänger

Wie viele Afghan:innen lebte einst auch Cheschti jahrelang als Geflüchteter im Nachbarland Pakistan. In den neunziger Jahren musizierte er während des Bürgerkriegs in seiner Heimat in den Flüchtlingslagern Peschawars oder in den Gasthäusern Wasiristans. Sein Handwerk wurde geschätzt, vor allem während der Amtszeit von Präsident Hamid Karzai, als Cheschti nach Kabul zurückkehrte. Die damalige Situation im Land fand er nicht schlecht, obwohl weiterhin Krieg herrschte. «Es gab gewisse Freiheiten, und klassische Musik wurde gefördert», sagt Cheschti.

Selbst die Taliban wissen, dass die Musiker Chārābats keine billigen Hochzeitssänger sind, die mittels Autotune und Youtube nach Berühmtheit und viel Geld lechzen, sondern echte Meister, deren Gesänge und deren Musik meist mit vielen Aspekten des spirituellen Islam und des Sufismus zusammenfliessen. «Sie kamen hierher, sahen unsere Instrumente und meinten etwas ehrfürchtig, dass von nun an nicht mehr gespielt werden dürfe», sagt Asadullah Cheschti, während einer seiner Söhne in einem kleinen Kiosk sitzt und einem Kunden Energydrinks und Zigaretten verkauft.

Den Kiosk hat Cheschti mit seinem letzten Ersparten gekauft, um die Existenz seiner Familie zu sichern. Früher war der Tablameister ausgebucht, und seine Söhne studierten die Musik, um irgendwann in die Fussstapfen des Vaters zu treten.

Während die Taliban der bekannten afghanischen Musik den Krieg erklärt haben und Musikern wie Asadullah Cheschti das Leben erschweren, hören sie ironischerweise selbst Musik. «Die Taliban haben Musik verbannt. Doch ihre Kämpfer hören an ihren Checkpoints Musik. Können Sie das erläutern? Was für Musikvorlieben haben Sie?», fragte eine ausländische Journalistin den Talibansprecher Zabihullah Mudschahid letztes Jahr während eines Interviews, das in den sozialen Medien verbreitet wurde. Mudschahid hatte daraufhin die Antwort parat, dass er gar keine Musik höre und dass dies auch bei seinen Kämpfern nicht der Fall sei. Vielmehr würden sie sich religiösen Kampfgesängen widmen, sogenannten Taranas, die meist über Talibankanäle verbreitet werden. Diese würden allerdings gar keine Musik im eigentlichen Sinn darstellen.

Dem widerspricht der afghanische Musikologe Mirwaiss Sidiqi, der einst klassische Musik in Kabul unterrichtete und in den letzten zwanzig Jahren vor Ort für verschiedene Institutionen wie die Agha-Khan-Stiftung tätig war. Sidiqi wirkte und studierte unter anderem in Frankreich, Grossbritannien und Deutschland. Er ist ein weltgewandter Kosmopolit, der neben Persisch und Paschto Deutsch, Französisch und Englisch spricht. «Die Taliban hören Musik, aber sie wollen es nicht zugeben. Ihre Taranas sind nichts anderes als Musik», sagt Sidiqi während einer Veranstaltung im vergangenen Juni in Wien. Dann erklärt er, dass sich die Taliban an bekannten Melodien orientierten, um ihre eigene Musik zu komponieren. «Sie wenden sich hierfür sogar an bekannte Sänger und verlangen von ihnen, Taranas zu produzieren», so Sidiqi.

Während seines Vortrags an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst zeigt Mirwaiss Sidiqi Videoausschnitte von privaten Konzerten und Hochzeiten aus dem Kabul der siebziger und achtziger Jahre, dem Zeitalter der afghanischen Popmusik. Besonders prägnant ist etwa eine Aufzeichnung der bekannten Sängerin Hangama, die damals offenes, kurzes Haar und westliche Kleidung trug. Ein Anblick, der nicht nur heute unter dem Taliban-Regime, sondern auch im Kabul der letzten zwanzig Jahre unvorstellbar gewesen wäre.

Die Vorstellung von Heimat

Während Sidiqi die Szenen und die Musik beschreibt, wird er für wenige Momente emotional. Ähnlich verhält es sich mit vielen Afghan:innen im Publikum, die aufgrund von Sidiqis Vortrag in ihrer eigenen Nostalgie schwelgen. Damals das vermeintlich friedvolle Kabul, in dem musiziert und getanzt wurde. Heute das dunkle Regime der Männer mit den schwarzen Turbanen. Die Vorstellung von Heimat innerhalb der afghanischen Diaspora unterscheidet sich meist in vielerlei Hinsicht von den Realitäten der Menschen vor Ort: Der Beruf des Musikers und der Musikerin wird etwa nicht nur von den Taliban verachtet und abgelehnt, sondern auch von weiten Teilen der traditionell-konservativen Gesellschaft. Und singende Frauen werden nicht nur von Fundamentalistinnen und Fanatikern mit Prostituierten gleichgesetzt.

Bekannte afghanische Musiker wie Sadiq Fitrat, hauptsächlich bekannt als «Nashenas» (der Unbekannte), sangen jahrelang, während sie gleichzeitig die Wut ihrer Väter fürchteten und deshalb anonym blieben. Auch die einstigen Veranstaltungen mit Popikonen wie Hangama oder ihrem bekannten musikalischen Partner, Ahmad Wali, waren nicht repräsentativ für ganz Afghanistan, sondern nur für eine kleine, bürgerliche Blase in Kabul.

Asadullah Cheschti kennt alle bekannten Musiker:innen Afghanistans. Doch sein Metier unterscheidet sich, ähnlich wie sein ganzes Leben, deutlich von jenem einer Hangama, die seit Jahrzehnten in Kanada lebt, während der Tablameister in der Gasse von Chārābat verblieben ist. Dass die Taliban trotz vehementen Leugnens tatsächlich Musik hören, bestätigt auch Cheschti. Lächelnd sagt er: «Natürlich ist auch das, was sie hören, eine Form von Musik. Vielleicht sehen sie das irgendwann ein und gestatten uns dann wieder, unserer Berufung nachzugehen.»