Israelische und palästinensische Diaspora: Schreie im Herzen

Nr. 42 –

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und den israelischen Bomben auf Gaza sind Angst, Wut und Verzweiflung auch in der Schweiz gross.

Pro-Palästina-Demonstration auf der Schützenmatte in Bern
Ständig droht die nächste Schreckensnachricht: Pro-Palästina-Demonstration am Samstag auf der Schützenmatte in Bern. Foto: Marcel Bieri, Keystone
Solidaritätskundgebung auf dem Zürcher Münsterplatz mit Regierungsratspräsident Mario Fehr auf der Bühne
Furchtbare Angst um die Geliebten in Israel: Eine Solidaritätskundgebung auf dem Zürcher Münsterplatz. Auf der Bühne: Regierungsratspräsident Mario Fehr. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Der Angriff der Hamas, die im Süden Israels mindestens 1400 Menschen getötet und schätzungsweise 200 weitere als Geiseln entführt hat, trifft auch die israelische Diaspora in der Schweiz bis ins Mark. Gleichzeitig bangen Menschen mit palästinensischer Migrationsgeschichte seit Tagen um ihre Angehörigen im Gazastreifen, wo deutlich über 3000 Zivilist:innen von israelischen Bomben getötet wurden und Hunderttausende vor einer möglichen israelischen Bodenoffensive flüchten.

Wie sich die aufgeladene Stimmung in der Schweiz niederschlägt, zeigte sich mitunter am vergangenen Freitag: Aus Sicherheitsbedenken untersagten die Behörden Kundgebungen in verschiedenen Städten ­– etwa in Bern, Basel und Zürich. Die traditionelle Mahnwache «für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina», die Aktivist:innen bis dahin seit bald zwanzig Jahren jeden zweiten Freitag im Monat abgehalten haben, fand vergangene Woche nicht statt. Die Hamas hatte für besagten Freitag zum Tag der Gewalt gegen Jüd:innen und Israelis aufgerufen.

Wie inmitten dieser Ereignisse, aus der Distanz und trotzdem so nah, mit den eigenen Gefühlen, der eigenen Ohnmacht umgehen? In diesen Tagen mit israelischen und palästinensischen Menschen in der Schweiz zu sprechen, ist nicht einfach. Die Erschütterung ist gross, und viele haben Angst, falsch verstanden zu werden. Diejenigen, die zu einem Gespräch mit der WOZ bereit waren, möchten anonym bleiben, um nicht erkannt zu werden. Über allem steht die Trauer um die Opfer – und die Furcht vor weiteren.

Alte und neue Verletzungen

Wie zum Beispiel bei Shira Mizrahi*. Im Norden Israels aufgewachsen, lebt und arbeitet sie seit fünf Jahren als Musikerin in Basel. Am Telefon erzählt sie vom Schock nach dem Terrorangriff der Hamas: «Jeden Tag höre ich von weiteren Opfern. Es sind nicht nur die Zahlen, die fassungslos machen, sondern auch die schrecklichen Details der Massaker. Ich habe furchtbare Angst um meine Geliebten in Israel.» Und auch um sich selbst: Vergangenen Freitag, am Tag des Gewaltaufrufs durch die Hamas, sei sie den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen.

Bereits seit 2020 gibt es in der Schweiz wieder eine Zunahme antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. Nun droht sich das noch zu verschärfen. Mizrahi beschreibt die letzten Tage als besonders verunsichernd – und auch politisch erschütternd. Der israelischen Regierung und ihrer Besatzungspolitik stehe sie sehr kritisch gegenüber. «Ich bin für die Befreiung Palästinas», sagt sie. Aber wenn sie jetzt in Basel die «Free Palestine»-Graffiti sehe, empfinde sie etwas Neues: «Jetzt machen mir die Graffiti Angst.» Es falle ihr im Moment schwerer als sonst, mit den Palästinenser:innen mitzufühlen. Weil die Tragödie auf israelischer Seite so unermesslich sei, habe sie nicht genug Kapazitäten, «um weitere Trauer in mir zu tragen». Rational sei sie entsetzt über die Bomben, die derzeit auf Gaza niedergehen. «Doch auf emotionaler Ebene ist es jetzt schwieriger, Mitgefühl und Trauer zu empfinden.» Ihr helfe in diesen Tagen, aktiv zu bleiben. So nahm Mizrahi an Mahnwachen Teil und half bei Sammelaktionen für Opfer in Israel. «Das hat mir das Gefühl gegeben, dass wir von hier aus etwas tun können.»

Ständig getriggert

Hilfe von der Schweiz aus: Das ist auch das Ziel von Organisationen wie Medico International. Die NGO versucht, den Kontakt zur Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu halten, ihre Partner vor Ort organisieren Hilfsgüter, Medikamente und medizinische Ausrüstung. Der Kontakt gestalte sich zunehmend schwierig, sagt eine Mitarbeiterin von Medico, die ebenfalls anonym bleiben möchte. Die Menschen könnten ohne Strom das Handy nicht aufladen, und im nördlichen Teil gebe es kein Internet. Medizinische Arbeit sei im Gazastreifen ohnehin gerade schier unmöglich.

Auch Samer Hamdan* befürchtet weitere Opfer. Der Palästinenser lebt seit fünf Jahren in der Schweiz. Nach seiner Flucht aus Gaza wurde er in Gruppen aktiv, die sich für einen Austausch zwischen Palästinenser:innen und Israelis einsetzen; auch in den letzten Tagen hielt er mit den Friedensaktivist:innen in der Schweiz Kontakt. Für welche Organisation und an welchen Orten Hamdan aktiv ist, möchte er nicht in der Zeitung veröffentlicht sehen – zu gross ist seine Angst, dass dadurch Rückschlüsse auf seine Person möglich wären. Auf seinem Handy zeigt er Videoaufnahmen von einem zerstörten Quartier in Gaza-Stadt, in dem er aufgewachsen ist. Auf einer anderen Aufnahme sind nebeneinanderliegende Leichen zu sehen – daneben steht, von der Kamera gestreift: ein Freund von ihm. Hamdan sagt, er habe in den letzten Tagen weder richtig geschlafen noch richtig gegessen. «Ich bin ständig getriggert, alte Bilder kommen hoch, wie ein Film.»

Wenn er Nachrichten lese, sehe er viel Solidarität mit Israel und kaum Empathie mit Palästinenser:innen. «Da ist ein Schrei in meinem Herz: Sind wir keine Menschen?» Wie viele Palästinenser:innen in der Schweiz habe auch er Angst, sagt er. «Ich habe hier verbale Attacken erlebt. Jemand sagte mir, Gaza solle ausgelöscht werden.» Er will versuchen, das Gespräch mit Israelis und jüdischen Gemeinden aufrechtzuhalten, wie er es in den letzten Jahren getan hat. Hoffnung zu schöpfen, sei aber gerade schwierig, in seiner Arbeit habe er es mit vielen Verletzungen und Traumata zu tun. Er klammere sich an seine Vision: dass die nächsten Generationen ohne Gewalt aufwachsen können.

Auch Samira Mansour* ist sichtlich erschöpft, aufgelöst – und wütend. Die Palästinenserin, die 2017 aus dem Westjordanland in die Schweiz kam, hat in diesen Tagen kaum Kontakt zu ihrer Familie, weil das Internet in den besetzten Gebieten auf ein bis zwei Stunden am Tag limitiert wurde. Sie hat Freund:innen im Gazastreifen verloren und fürchtet weitere Opfer. Als sie ihr Handy hervorholt, um die Nachrichten einer Freundin zu zeigen, ist bereits die nächste schlimme Nachricht eingetroffen. «Sie hat mir gerade geschrieben, dass ihre Schwester und ihr Neffe getötet wurden.»

Wie Hamdan hat auch Mansour den Eindruck, dass die Realität der palästinensischen Zivilist:innen kaum gehört werde: «In der ersten Minute, in der ich vom Anschlag der Hamas hörte, habe ich meine israelischen Freunde gefragt, wie es ihrer Familie geht», sagt sie. Auch sie selbst werde von engen Freund:innen gefragt, wie es ihr gehe. Darüber hinaus herrsche aber oft Schweigen. Umso wichtiger sei es ihr, «auf die Lebensrealität der palästinensischen Bevölkerung aufmerksam zu machen».

Friedensarbeit trotz allem

Besorgnis, Frust und tief sitzende Verletzungen ziehen sich durch alle Gespräche mit hier ansässigen Israelis und Palästinenser:innen. Tamar Bitton*, aufgewachsen in Israel und in der Schweiz als Aktivistin und Forscherin für Friedensarbeit tätig, sagt bei einem Treffen: «Für Israelis lässt der beispiellose Angriff der Hamas den Schrecken des Holocaust wiederaufleben, die Ängste vor Verfolgung, die über Generationen weitergegeben wurden.» Auch sie erlebe Momente, in denen sie sich fürchte, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, zum Beispiel mit ihrer Tochter. «Ich weiss, dass das irrational ist, eine emotionale Reaktion.» Angesichts der Gewaltspirale sei es aber auch schwierig, jetzt über Frieden zu sprechen – das klinge für beide Seiten gerade völlig verrückt. Trotzdem glaubt sie, dass Frieden das Wichtigste und die einzige langfristige Lösung sei – denn Rache sei auf jeden Fall keine gute Strategie.

Bitton will an ihrem politischen Aktivismus festhalten. Die relative Sicherheit und Freiheit in der Schweiz böten die Möglichkeit dazu. Die Arbeit in gemischten Diasporagemeinschaften sei eine grosse Chance: Hier könne sie Palästinenser:innen auf Augenhöhe treffen. In Israel selbst sei das wegen der physischen, gesetzlichen und psychologischen Barrieren eher schwierig: Sie dürfe nicht in die Westbank reisen, und ihre palästinensische Freundin aus der Westbank, die sie in der Schweiz kennengelernt hat, umgekehrt nicht nach Israel. Bitton betont, wie bedeutsam es für sie sei, gerade jetzt einer Palästinenserin die Hand zu reichen: «Zu fragen, wie es geht, und zu sagen, dass es schrecklich ist, was passiert.»

Mitarbeit: Sarah Schmalz.

* Name geändert.