Messerattacke in Zürich: «Der Antisemit ist immer der andere»

Nr. 10 –

In Zürich wurde am Samstagabend ein Mann aus judenfeindlichen Motiven lebensbedrohlich verletzt. Antisemitismusforscherin Christina Späti zur historischen Tragweite der Attacke, zum gesellschaftlichen Kontext – und zur verhaltenen Reaktion vieler Linker.

Mahnwache in Zürich nach dem Mordversuch an einem Juden
«Sobald der Nahostkonflikt Thema ist, nehmen die Vorfälle zu»: Mahnwache in Zürich nach dem Mordversuch an einem Juden. Foto: Alain Picard, SIG

WOZ: Frau Späti, wann fühlten sich Jüd:innen in der Schweiz zuletzt so unsicher wie heute?

Christina Späti: Das Sicherheitsempfinden ist unter den 18 000 Jüd:innen in der Schweiz natürlich sehr individuell. Grundsätzlich lässt sich aber durchaus sagen, dass die Unsicherheit schon lange nicht mehr so gross war wie jetzt. Judenfeindliche Schmierereien und verbale Anfeindungen gab es hierzulande bereits seit den fünfziger Jahren wieder, aber die Situation hat sich zuletzt nochmals spürbar verschlechtert. Für ein vergleichbares, explizit antisemitisches Gewaltverbrechen müssen wir bis 1942 zurückgehen, als in Payerne der Viehhändler Arthur Bloch ermordet wurde, weil er Jude war. Die Tragweite der Messerattacke vom Samstag in Zürich ist enorm – vor allem auch wegen des gesellschaftlichen Klimas, in dem sie verübt wurde.

Wie meinen Sie das?

Dieser Fall lässt sich nicht isoliert von gegenwärtigen Tendenzen betrachten. In den letzten Jahren, und insbesondere seit den Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober und dem darauffolgenden Angriff der israelischen Streitkräfte auf Gaza, verzeichnen jüdische Organisationen in der Schweiz einen deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle: verbale Anfeindungen – im öffentlichen Raum, online oder in Form von Sprayereien – sowie physische Tätlichkeiten. Leider war damit zu rechnen, dass gewaltsame Angriffe, wie sie etwa in Frankreich schon länger zu beobachten sind, eines Tages auch hierzulande verübt werden. Es ist die Kombination aus antisemitischen Tendenzen in der breiten Gesellschaft und einem gezielten Hassverbrechen, die diesen Moment so beängstigend macht. Dazu trägt auch bei, wenn an propalästinensischen Demos teilweise wenig reflektiert antisemitische Parolen zirkulieren.

Antisemitismusforscherin

Die Historikerin Christina Späti (53) ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Antisemitismus, Antizionismus und Orientalismus in der Schweiz sowie der Holocaust und seine Nachgeschichte. In ihrer Dissertation hat Späti das Verhältnis der schweizerischen Linken zum Nahostkonflikt untersucht.

 

Portraitfoto von Christina Späti
Foto: Meinrad Schade

Besteht in der historischen Analyse eine Korrelation zwischen antisemitischen Vorfällen hierzulande und der Situation im Nahen Osten? Gibt es mehr Angriffe, wenn sich der Konflikt in einer kriegerischen Phase befindet?

Es korreliert tatsächlich. Einerseits lässt sich dies ganz einfach darauf zurückführen, dass Jüd:innen in der Schweiz im Alltag viel stärker wahrgenommen werden, sobald Israel, Palästina und der Nahostkonflikt medial Thema sind. Dann äussern sich tendenziell auch Leute, die sonst gar keine starke Meinung dazu haben.

Andererseits verstehen manche die Kriegssituation als vermeintliche Erlaubnis, tief gehegte antisemitische Ressentiments nach aussen zu kehren. Das heisst: Weil Israel jetzt Gaza bombardiert, fühlen sie sich ermutigt, Jüd:innen in der Schweiz unverhohlen zu diskriminieren.

Antisemitismus ist immer da, hat aber mehr oder weniger Konjunktur?

Ja, das kann man so sagen. Alle wissen, dass Antisemitismus nach 1945 zu einem Tabu geworden ist. Dass also nicht immer und in jedem Kontext alles gesagt werden darf. In manchen Momenten kommt in der Mehrheitsgesellschaft dann aber das Gefühl auf, dass gewisse Dinge über Jüd:innen nun eben doch gesagt werden dürfen – dann brechen altbekannte Vorurteile hervor, und es zirkulieren antisemitische Verschwörungstheorien.

Hassverbrechen in Zürich

Unweit des Zürcher Bahnhofs Selnau wurde am Samstagabend ein fünfzigjähriger orthodoxer Jude auf offener Strasse durch einen Messerangriff lebensgefährlich verletzt. Der fünfzehnjährige Täter konnte umgehend gefasst werden, das Opfer ist mittlerweile ausser Lebensgefahr. Schon am Sonntag war klar, dass der Angriff explizit antisemitisch motiviert war. Der Täter hatte seinen Angriff mit Verweis auf einen Aufruf der Terrororganisation Islamischer Staat online angekündigt.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) sprach von einer «neuen erschreckenden Eskalationsstufe», die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) von einer «Zäsur». Am Sonntagabend gab es in Zürich eine Mahnwache mit Hunderten Teilnehmer:innen. Die Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich verurteilte die Attacke unter dem Titel «Nicht in unserem Namen!».

In Ihrer Forschung unterscheiden Sie verschiedene Ausprägungen des Antisemitismus: «traditionellen» und «israelbezogenen» Antisemitismus sowie einen relativierenden Umgang mit dem Holocaust. Lässt sich das sauber trennen?

Nein, so einfach ist es nicht. Die traditionellen antisemitischen Stereotype – also etwa die Darstellung des Juden als reich, mächtig und hinterhältig – stammen aus den Jahrhunderten vor dem Holocaust, und sie waren für das Welt- und Selbstbild europäischer Gesellschaften wesentlich. Nach 1945, also nach dem Nationalsozialismus und der Shoah, wurde der Antisemitismus zwar tabuisiert – verschwand aber nicht. Er geistert weiterhin herum, und wenn er hervortritt, dann oft in Form derselben traditionellen Stereotypisierungen.

Manche Ereignisse wirken als Auslöser. Und dann vermischen sich die Formen. Wenn zum Beispiel aus Mitgefühl mit den Palästinenser:innen, die derzeit den Horror der israelischen Bombardements erleben, Ressentiments gegen Jüd:innen in der Schweiz geäussert werden, dann offenbart sich ein israelbezogener Antisemitismus – der aber oft in Form traditioneller Stereotypisierungen daherkommt. Oder wenn die Situation der Menschen in Gaza mit dem Warschauer Ghetto verglichen wird, dann spielt auch Holocaustrelativierung hinein.

Angesichts des Angriffs vom Samstag: Mancherorts wird suggeriert, dass es eine weitere spezielle Form des Antisemitismus gebe – nämlich eine muslimische. Halten Sie das für zulässig?

Die Zuschreibung ergibt schon deshalb keinen Sinn, weil die Muslim:innen auf der Welt eine sehr grosse, überhaupt nicht homogene Gruppe sind. Ich sage nicht, dass es keine Muslime gibt, die antisemitisch denken und handeln, auch in der Schweiz. Manche begründen ihre Haltung sogar mit ihrer Religion. Aber dieser Antisemitismus hat keine völlig eigenen Charakteristiken. Vielmehr könnte man sagen, dass er auf Versatzstücken eines traditionellen europäischen Antisemitismus aufbaut.

Es liesse sich argumentieren, dass manche Ressentiments derzeit einem aufrichtig empfundenen Mitgefühl mit den Menschen in Gaza entspringen. Offenbar nahmen die Übergriffe aber bereits unmittelbar nach dem Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober zu, noch vor dem flächendeckenden Vergeltungskrieg der israelischen Streitkräfte. Was sagt dies aus?

Es zeugt von dem, was ich bereits gesagt habe: Sobald der Nahostkonflikt Thema ist, nehmen die Vorfälle zu. In diesem Fall also noch bevor Israel irgendetwas unternommen hat. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich verurteile das Vorgehen des israelischen Militärs. Geht es allerdings um die Situation der Jüd:innen in Europa, kann Israel letztlich machen, was es will – sobald es hier Thema wird, tritt der Antisemitismus hervor.

Seit Samstag hat es sehr viele Reaktionen auf die Messerattacke gegeben. Es scheint, dass Antisemitismus als ernstes Problem anerkannt wird?

Das stimmt, aber jetzt muss mehr kommen: Die Antisemitismusbekämpfung sollte endlich überall als öffentliche Aufgabe anerkannt werden. Es ist doch speziell, dass die jüdischen Gemeinden antisemitische Vorfälle selbst registrieren und auswerten müssen. Wäre es nicht Aufgabe von Bund oder Kantonen, Melde- und Anlaufstellen einzurichten? Entsprechende Vorstösse hat es zuletzt gegeben, aber wie ernst es den Akteur:innen damit ist, wird sich zeigen, wenn es um die Finanzierung geht.

Am Montag kam es im Zürcher Kantonsparlament zum Eklat: Als der SVP-Fraktionschef den Antisemitismus in der Schweiz in der «antikapitalistischen Linken» und den «oftmals muslimisch geprägten Migrantenmilieus» verortete, verliess die Ratslinke den Saal. Was offenbart die Szene über den Stand der Antisemitismusdebatte in der Schweiz?

Ich sehe darin ein Muster, das schon seit den dreissiger Jahren auftaucht: Der Antisemit ist immer der andere. Damals hiess es, Antisemitismus gebe es nicht bei uns – zumindest nicht, solange noch nicht zu viele Juden in der Schweiz seien. Wenn die SVP nun auf Linke und Muslim:innen zeigt, dann auch, um vom Antisemitismus in den eigenen Reihen abzulenken. Erwiesenermassen hat die Partei wenig Berührungsängste gegenüber rechtsextremen, antisemitischen Milieus.

Und mit Blick auf die Linke?

Wir wissen, dass der Antisemitismus auch in Teilen der Linken eine lange Tradition hat. Zwar hat diesbezüglich mittlerweile vielerorts ein Lernprozess stattgefunden. Was ich allerdings noch immer wahrnehme, ist das weitverbreitete Selbstverständnis, wonach Antisemitismus in den eigenen Reihen gar kein Thema sein kann – weil man ja links ist. Zudem empfinde ich die Reaktionen auf antisemitische Vorfälle oft als irritierend: Diese werden von links zwar entschieden verurteilt, aber oft reflexartig in einen grösseren Kontext mit anderen Diskriminierungsformen gesetzt und damit ein Stück weit relativiert. Als wäre Antisemitismus kein eigenständiges Problem, das als solches zu bekämpfen ist.

Es stimmt sicher, dass rechte Akteure antisemitische Vorfälle für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Teilweise wirkt es aber so, als wollten die Linken nun vor allem über diese Instrumentalisierung reden – und nicht über den Antisemitismus selbst.