Literatur: Der Industriepionier und die Kommunistin

Nr. 11 –

Roger Nicholas Balsiger wühlt mit dem Roman «Der Uhrmacher des Zaren» in der Geschichte der Familie Moser, der er selbst entstammt.

historisches Foto: Henri Moser posiert mit Dolch
Der Sohn des Uhrmachers: Statt in die Fussstapfen des fordernden Vaters zu treten, unternahm Henri Moser weite Reisen durch den Orient. Foto: AKG

Heinrich Moser lebte als junger Uhrmacher im russischen St. Petersburg, als er 1828 den Auftrag erhielt, die Lieblingsuhr des Zaren zu reparieren. Von seinem Vater, dem Stadtuhrmacher von Schaffhausen, hatte er sorgfältiges Arbeiten gelernt, und so brachte er die kaiserliche Uhr tatsächlich wieder in Gang – etwas, das fünf seiner Berufskollegen vor ihm nicht gelungen war. Moser nutzte das daraus resultierende Prestige, um eine Uhrenfabrik mit internationalem Vertrieb aufzubauen.

Dass Heinrich Moser als Industriepionier von Schaffhausen in die Geschichte einging, verdankte er aber vor allem dem Wasserkraftwerk, das er gegen viele Widerstände in Neuhausen am Rheinfall errichten liess. 1866 wurde es eingeweiht, es brachte dem 61-Jährigen den lang ersehnten Ruhm in seiner Vaterstadt. Glücklich war er dennoch nicht: Vor Jahren schon hatte er seine erste Frau verloren und war hilflos im Umgang mit seinen fünf minderjährigen Kindern. Sein einziger Sohn Henri fühlte sich vernachlässigt und rebellierte gegen die Pläne des Vaters, der wollte, dass dieser in seine Fussstapfen tritt.

Weg vom elterlichen Milieu

Roger Nicholas Balsiger beschäftigt sich seit langem mit der Geschichte seiner Familie: Er selbst ist der Enkel von Mentona Moser, die aus der späten zweiten Ehe Heinrich Mosers mit der jungen Baronin Fanny Sulzer-Wart stammt. Mentona verliess früh das Milieu ihrer reichen Eltern, wurde in England Sozialarbeiterin, trat der Kommunistischen Partei bei, und als sie ihren Anteil am Erbe erhielt, liess sie in der Sowjetunion ein Waisenhaus bauen. Dass auf diese Weise ein Teil des Geldes wieder dorthin zurückkehrte, wo der Reichtum der Familie Moser seinen Ursprung hatte, ist eine schöne Pointe dieser spannenden Familiengeschichte.

Balsiger interessiert sich auch für das politische und gesellschaftliche Umfeld, in dem sich seine Vorfahren bewegten. Er schildert die Stadtgesellschaft von Schaffhausen im frühen 19. Jahrhundert, als die Bürger in der Weinstube um Posten schacherten. Grosse Aufregung herrschte, als der russische Zar Alexander I. der Stadt einen Besuch abstattete. In Balsigers Roman wechselt der kleine Heinrich Moser sogar ein paar Worte mit ihm. Historisch verbürgt ist das – anders als der Besuch des Zaren – nicht. Alexander versprach damals der Stadt, die unter den durch die Strassen ziehenden Truppen während der Napoleonischen Kriege litt, seinen Schutz und setzte sich im Wiener Kongress für die Neutralität der Schweiz ein.

Fasziniert zeigt sich Balsiger vom Leben seines Grossonkels Henri. Dieser verzweifelte an den Forderungen seines Vaters und flüchtete auf weite Reisen. Er sammelte Objekte orientalischer Handwerkskunst, die teilweise heute auf dem Stammsitz der Mosers, dem Museum Schloss Charlottenfels in Neuhausen am Rheinfall, zu sehen sind. Da er umgänglich war und viele Sprachen sprach, wurde er mit diplomatischen Aufgaben betraut. 1893 wurde er Generalkommissär für Bosnien und Herzegowina, damals Provinzen des Habsburgerreichs, und machte deren Kultur an den Weltausstellungen in Brüssel und Paris bekannt.

Henri war schon siebzig, als eine ihm unbekannte Frau in Charlottenfels vor der Tür stand. Es war seine Halbschwester Mentona, die erst kurz davor von der Existenz ihrer Halbgeschwister erfahren hatte. Sie war vierzig, geschieden und lebte zur Zeit des Ersten Weltkriegs als Alleinerziehende mit einer Tochter und einem kranken Sohn mehr schlecht als recht in Zürich. Von ihrer Mutter bekam sie kaum Unterstützung, ebenso wenig von ihrem Exmann. Henri und Mentona waren einander sehr zugetan, es folgten noch einige Besuche auf Charlottenfels, aber dann brach der Kontakt aus ungeklärten Gründen ab.

Engagement für die Armen

Mit Mentona Moser nimmt die Geschichte dieser gut betuchten Familie eine neue Wendung. Balsiger beschreibt ihr Engagement für die Armen und ihre Arbeit in Zürich. Er kann auf eigene Gespräche mit seiner Grossmutter sowie auf ihre (leider vergriffene) Autobiografie zurückgreifen. Sie gab Kurse für soziale Arbeit, gründete einen Blindenverein sowie eine Fürsorgestelle für Tuberkulosekranke, ausserdem plante sie Arbeitersiedlungen und Kinderspielplätze. Einer, der damals noch mit der Hilfe ihres Ehemanns Hermann Balsiger realisiert wurde, existiert heute noch hinter der St.-Jakobs-Kirche in Zürich und trägt den Namen Mentona-Moser-Anlage.

1921 nahm Mentona Moser am Gründungskongress der Kommunistischen Partei der Schweiz teil, und als sie vier Jahre später über ihr Erbe verfügen konnte, verlegte sie ihren Wohnsitz nach Berlin. Sie arbeitete für die Kommunistische Partei Deutschlands und die Rote Hilfe, 1933 floh sie gerade noch rechtzeitig in die Schweiz. Von hier aus war sie im Widerstand tätig – leider ist über ihr Leben in dieser Zeit wenig bekannt. Auch Balsigers Familienroman endet im Jahr 1925, dabei müsste der Autor von seinem Vater, dem Fotografen Edouard Balsiger, doch noch Interessantes aus Mentona Mosers Zeit in Berlin und während der NS-Zeit erfahren haben.

Leider fehlt nach wie vor eine fundierte Biografie Mentonas – noch ein Grund, weiter über diese Familiengeschichte zu forschen und zu schreiben.

Buchcover von «Der Uhr- ­macher des Zaren. Der Lebensroman des Industriepioniers Heinrich Moser und seiner Kinder Henri und Mentona»
Roger Nicholas Balsiger: «Der Uhr- ­macher des Zaren. Der Lebensroman des Industriepioniers Heinrich Moser und seiner Kinder Henri und Mentona». Limmat Verlag. Zürich 2023. 574 Seiten. 44 Franken.