Krieg und Bürgerkrieg im Hunnengürtel

Was hat das ehemalige Jugoslawien mit den Ländern an der Südflanke der alten Sowjetunion gemeinsam? Wie weit reicht der Balkan?

Aufs Neue eskaliert im Kaukasus der Konflikt zwischen Russland und Tschetschenien, und diesmal greift er auch auf die angrenzende russische Republik Dagestan über. Armenien und Aserbaidschan rüsten für den nächsten Waffengang. Osseten und Inguschen werden nur mit Mühe von russischen Truppen auseinander gehalten. Weiter südöstlich bedroht der Bürgerkrieg in Afghanistan das benachbarte Tadschikistan.
KarteNicht nur auf dem Balkan wird ethnisch gesäubert, vertrieben, werden Krieg und Bürgerkrieg um territoriale, religiöse und nationale Ansprüche geführt. Die ganze Südflanke der ehemaligen Sowjetunion und das nordwestliche China stehen immer wieder mit ähnlichen Schlagzeilen in den Medien.
Die Mehrzahl der Konfliktherde liegt auf jenem geografischen Gürtel von China bis zum Mittelmeer, auf dem die Völker Asiens – Hunnen, Mongolen, Türken – immer wieder ihren Weg nach Westen suchten und auf dem heute tradierte östliche Kulturen mit westlicher technischer Zivilisation eine neue Verbindung eingehen.

Der Zug nach Westen

Die Hunnen, selbst ein turk-tatarisches Völkergemisch, brachen im zweiten Jahrhundert im Osten auf, trieben andere Völker vor sich her und erreichten im fünften Jahrhundert unter Attila das damalige Europa. Sie lösten die erste grosse Völkerwanderung aus. Im Kampf mit den Hunnen bildete sich der europäische Feudalismus als Abwehrfront heraus. Nach Attilas Tod blieben am Don, an der Donau, an der Wolga – überall entlang des Steppengürtels bis hinein in den Balkan – asiatische Völker in der neuen Umgebung zurück.
Die Mongolen folgten etwa siebenhundert Jahre später, auch sie wieder als treibendes Element einer gewaltigen Völkerwanderung. Sie zerschlugen zahllose sesshafte Kulturen Asiens, des Orients und Russlands, hunderte von Völkern zogen mit ihnen, Millionen Menschen flüchteten vor ihnen. Zweihundert Jahre lang verband das mongolische Weltreich die damals bekannte Welt von China bis zum Mittelmeer.
Ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts versuchen die Türken, einst mit Dschingis Khans Reitern nach Westen gezogen, von Kleinasien aus immer wieder Europa zu stürmen. Das Europa, das wir heute kennen, formierte sich im Abwehrkampf gegen diese Herausforderungen aus dem Osten. «Europa», schrieb der Historiker Dan Diner kürzlich in einem Beitrag der «Frankfurter Rundschau» zum Kosovo-Krieg, «wurde immer aus dem Osten bestimmt.» Aber Europa ist nicht nur Westeuropa: Russland hatte in diesen Kämpfen die Rolle des vorgeschobenen westlichen Postens. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte es sich dabei – neben dem Osmanischen Reich im Süden Europas – zum Ordnungsfaktor, der das Zusammenleben in dem vielfältigen, grossenteils noch nomadisierenden Völkergemisch stabilisierte. Auf der Höhe seiner Entfaltung beherrschte das russische Imperium, das nach 1917 zur Sowjetunion wurde, mehr als 150 Völker. Selbst im Wolgaraum, der als Herz Russlands gilt, werden auf den Dörfern turk-tatarische Sprachen (Tschuwaschisch, Tatarisch, Baschkirisch, Utmurtisch usw.) gesprochen, das Russische dient lediglich als Stadt- und Kanzleisprache.
Russisches Imperium und Osmanisches Reich wuchsen zu Konkurrenten heran, die gleichwohl gemeinsam die Stabilität des Steppengürtels garantierten. Auf dem Balkan und im Kaukasus überschnitten sich die Sphären der beiden Vielvölkerstaaten direkt: Die Geschichte des 17., 18. und 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet vom russisch-türkischen Gegensatz, der sich in einer endlosen Reihe grausamer Kriege austobte, in deren Verlauf die Türkei mehr und mehr Gebiete an Russland abtreten musste.
Für die Völker vor Ort änderte sich dadurch zumeist nicht viel, sie wechselten nur die Herren. Ein allmächtiges Zentrum forderte militärische Gefolgschaft und Tribut, und sofern die Völker dem nachkamen, konnten sie nach eigenen Traditionen und entsprechend ihrer eigenen Religion leben.

Erzwungene Modernisierung

Erst in sowjetischen Zeiten wurden auch diese Völker einer industriellen Modernisierung unterworfen, deren Grundlage die systematische Zwangsansiedlung und -umsiedlung bis dahin nomadisierender Völker war. Heute sind die Völker des Steppengürtels weitgehend sesshaft, urbanisiert, industrialisiert, alphabetisiert und beruflich spezialisiert. Regionale Wirtschaftsräume haben sich herausgebildet, wenn auch durch Monoproduktion verzerrt. Der kulturelle Pluralismus blieb davon jedoch weitgehend unberührt.
Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und seines Gesellschaftsmodells werden die Völker des Steppengürtels jetzt in eine erneute Modernisierungsphase gestossen. Die Schutzräume, in denen sich lokale Wirtschaften ohne Konkurrenz entwickeln, die Nischen, in denen Minderheiten überleben konnten, brechen nun auf. Örtliche Wirtschaften müssen sich auf dem Weltmarkt behaupten, Minderheiten müssen ihre Existenzberechtigung beweisen. Dem Erhalt der eigenen Identität, der Abgrenzung gegenüber dem Konkurrenten kommt unter diesen Umständen ein extremer Stellenwert zu, bei dem die Besinnung auf die eigene Kraft, auf die eigenen Ressourcen, auf die eigene Tradition sehr schnell in aggressiven und zerstörerischen Nationalismus umschlagen kann.
In Zentralasien versuchen sich die ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan und Kirgisistan, die seit 1991 der Unions-Nachfolgerin «Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten» (GUS) angehören, als eigener Wirtschaftsraum zwischen China, Russland, dem Iran und der Türkei zu etablieren. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür sind durchaus vorhanden. Soeben kündigten sie bereits das gemeinsame Verteidigungsbündnis der GUS. Von Homogenität eines turkmenischen Raumes kann allerdings noch keine Rede sein: Vielfältige Überschneidungen zwischen sprachlichen, ethnischen und politischen Grenzen führen zwischen den einzelnen Staaten immer wieder zu gegenseitigen Territorialforderungen, die mit Waffengewalt ausgetragen werden. Vor allem Tadschikistan droht trotz der gegenwärtigen Bemühungen um einen politischen Kompromiss in blutigen Clanfehden zu versinken, die vom Bürgerkrieg im benachbarten Afghanistan ständig neu genährt werden und die ganze Region destabilisieren könnten.
Auch im Kaukasus schwebt den GUS-Ländern Georgien und Aserbaidschan ein eigener Wirtschaftsraum vor, mit Anschluss an die Ukraine und Moldawien. Tendenziell sollten ihm auch die südrussischen Krisenregionen Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, vielleicht sogar der nördlich angrenzende Verwaltungsbezirk Stawropol (die politische Heimat Michail Gorbatschows) angehören; und Anziehungskraft könnte er dann sogar für die islamischen Republiken an der Wolga entwickeln.
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen reichen für die Entstehung eines kaukasischen Wirtschaftsraums; Erdöl- und Ergasvorkommen bilden eine starke Basis. Politisch aber ist die Region im höchsten Masse gefährdet: Soeben platzen die Wunden des nicht behandelten tschetschenischen Krieges wieder auf. Tschetschenien, mit einer Arbeitslosigkeit von achtzig Prozent, lebt wesentlich von Pump, Kriminalität und Lösegelderpressungen. Formal gehört es immer noch zu Russland, ist also der russischen Verfassung unterworfen; und doch hat Präsident Aslan Maschadow die Scharia, das islamische Gesetz, eingeführt, um, wie er sagt, ein Minimum an Ordnung aufrechtzuerhalten.
Von Tschetschenien strahlt die Instabilität auf das benachbarte Dagestan im Osten aus; in Inguschetien, Ossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschajewo-Tscherkessien, also den Gebieten, die sich im Westen Tschetscheniens entlang der Grenze zu Georgien aneinander reihen, wird seit Anfang der neunziger Jahre um georgische oder russische Dominanz gestritten. Moskau hat die Bombardierung tschetschenischer Rebellen wieder aufgenommen. Offenbar unter deren Führung streben Islamisten aus Dagestan einen heiligen islamischen Bund der Kaukasusprovinzen an.

Gegen die euro-atlantische Hegemonie

Innerasien, Zentralasien, Kaukasus, Balkan – dies alles beschreibt nicht einzelne Krisen, sondern den Grundkonflikt beim Übergang von der Stagnation der bipolaren Nachkriegsordnung zur Dynamik der Globalisierung. Die Unterwerfung unter die Verwertungszwänge des internationalen Kapitals ruft Forderungen nach lokaler und regionaler Selbstbestimmung, damit eine neue Phase der Entkolonisierung hervor, die sich zuerst in den Grenzgebieten zwischen den früheren Blöcken bemerkbar macht. Im ehemaligen Jugoslawien prallen die beiden Seiten, der Integrationsanspruch der EU und der Nationalismus der Zu-kurz-Kommenden, bisher am härtesten aufeinander. Weitere schwere Konfrontationen entlang des gesamten eurasischen Gürtels sind absehbar, wenn die Westmächte und ihre russischen Parteigänger den Aufruhr in diesem Gürtel nicht als Aufbruch zu einer entkolonialisierten, multipolaren Welt akzeptieren, sondern die bipolare Ordnung des Kalten Kriegs nun durch eine unipolare, nämlich die euroatlantische, Hegemonie ersetzen wollen.