Die Abenteuer von Eva Wilhelmine Walter-Geissler (1900–1991): Revolutionen, falsche Pässe und versteckter Cognac

Schulfreundin von Himmler. Politische Gefangene mit achtzehn. Lenins Stenografin. Frau des sowjetischen Luftwaffenchefs. Händchenhalten mit Ho-Tschi-Minh. Wahlgotte von Indira Gandhi. Besitzerin des India Store im Zürcher Niederdorf: Eva Wilhelmine Walter-Geissler diktiert wenige Monate vor ihrem Tod ihr Leben.

Wissen Sie, meine Geschichte klingt sehr unwahrscheinlich, aber sie ist wirklich wahr.

Einen ganz grossen Posten hatte ich in der kommunistischen Partei. Ich besass einen Passepartout für den Kreml, mit dem ich zu jedem gehen konnte. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt und die Frau des Luftwaffenchefs, den ich ein Jahr zuvor als Angestellte der russischen Handelsvertretung in Berlin kennen gelernt hatte. Kommunistin war ich schon immer. Ich gehörte dem Spartakusbund in München an, seit 1918, war also eines der ersten Mitglieder der Revolution und wurde, als alles zusammenbrach, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, fast vier Monate lang. Das war ziemlich schlimm, als 18-jähriges Mädchen im Knast zu sein. Auch meine ältere Schwester haben sie erwischt. Sie war frisch verheiratet, da kam ihr Mann in die Besuchsstunde – mit weisser Weste und Spazierstock – und verkündete, dass er sich scheiden lassen wolle. Er war Schweizer. Wir haben ihm das damals sehr übel genommen. Heute kann ich es verstehen: ein angesehener Mann und zwei Weiber im Gefängnis – kahl geschoren wegen der Läuse. Meine Schwester hat mir immer geholfen. Sie war viel attraktiver als ich, ein aussergewöhnlicher, leidenschaftlicher Mensch. Auch sie war in Moskau, auch sie hatte eine gute Stellung und natürlich einen Mann.

Ich arbeitete an den Sitzungen als Übersetzerin. Es waren Sitzungen der deutschen Delegation vom Zentralkomitee der Partei und von der kommunistischen Internationalen, also der Komintern. Russisch konnte ich, seit ich im Ersten Weltkrieg russische Kriegsgefangene betreuen musste. Bei jeder Sitzung war ich dabei. Meine Schwester und ich sind nach Moskau gekommen mit einer eigenartigen Voreingenommenheit gegen Lenin. Wir dachten, dass ein Mensch, der wie ein Gott verehrt wird, unnahbar und kalt sei. Aber er war das Gegenteil: So einen schlichten und wunderbaren Menschen habe ich unter all den Politikern nicht gekannt. Lenin war wirklich ein ganz einfacher Mann, und wir waren hingerissen von ihm, vom ersten Moment an. An den Sitzungen war Lenin schon nicht mehr dabei. Er war schwer krank. Aber ich habe ihn noch vor der Krankheit gekannt, auch seine Frau, die Krupskaja, die hässlichste Frau, die ich je gesehen habe, mit hervorquellenden Augen. Doch sie war ein so wunderbarer Mensch wie er. Lenin hatte eine Geliebte, wie alle Männer. Mich hat das nicht gestört. Eine Kämpferin soll sie gewesen sein. Ich habe sie nie gesehen, doch sie kommt in jeder Biografie vor.

Als Mitglied der deutschen Delegation hatte ich drei Büroräume zur Verfügung. Ich ärgerte mich schrecklich, dass Katjana von der japanischen Partei und Iwan, ein Vertreter aus Indochina, zwei Zimmer teilen sollten, so hab ich denen einen Raum abgegeben. Alle hatten Übernamen, und man wusste nicht, wie die Leute wirklich hiessen. Aber auch wenn ich Iwans richtigen Namen gekannt hätte, hätte ich nicht wissen können, dass er sich später einmal Ho-Tschi-Minh nennen würde. Ich darf sagen, dass er mich verehrt hat. Er war zehn Jahre älter als ich. Einmal sind wir zusammen in die Oper gegangen – Madame Butterfly – und sind Hände haltend dagesessen. Zwischen Iwan und mir, das war eine Romanze, nicht mehr, obwohl alle mich hochgenommen haben und gesagt haben, er sei mein Bräutigam. Trotzdem, wenn ich heute Madame Butterfly höre, denke ich an diese Zeit zurück. Er wurde wirklich später der berühmte Ho-Tschi-Minh. Erfahren hab ich es irgendwann von einem Journalisten aus Amerika. Ich machte auch noch andere Arbeiten für die Partei. Gewöhnliche Büroarbeit, Referate abtippen und Ähnliches. Im Winter war 35 Grad Kälte draussen, wir hatten keine Heizung. Als Lenin krank war und man Wissenschaftler aus der ganzen Welt kommen liess, waren meine Schwester und ich auch Protokollführerinnen. Ich stenografierte also, was diese Mediziner von sich gaben. Habe ich geschwitzt! All diese Fremdwörter. Ich hatte keine Ahnung. Wenn ich etwas nicht verstand, schrieb ich einfach: der Nerv Putschiputschi. Dann hat man hernach gesagt, die Eva hat es geschafft, Kompliziertes auf einen einfachen Nenner zu bringen. Trotz der ernsten Situation haben wir oft gelacht.

Nach Lenins Tod waren die Leute in Russland gedrückt. Die GPU, die Geheimpolizei, war sehr stark. Wir haben mal ein Fest gefeiert, und da hab ich einem Typen so ein mit Crème gefülltes Ding an den Kopf schmeissen wollen und dabei ein Lenin-Bild getroffen. Das war etwas Ungeheuerliches. Man hat mich vor Gericht gebracht. Das muss im Herbst/Winter 1924 gewesen sein. Diese GPU-Leute und diese Überkommunisten waren eine ekelhafte Bande. Eines Tages sind sie gekommen und haben gesagt, mein Mann habe Bestechungsgelder von Dornier angenommen. Eine Anschuldigung, die man gegen jeden vorbringen kann. Aber das war der Grund, weshalb mein Mann verschickt wurde. Ich war damals an einer Tagung, da hat er mich angerufen und gesagt: «Beunruhige dich nicht, es ist eine Anklage gegen mich.» Gut, ich beunruhigte mich nicht – mein Mann hatte den Lenin-Orden und die höchsten Auszeichnungen –, doch als ich nach Hause kam, haben sie mir gesagt, man hätte meinen Mann abgeholt. Ein halbes Jahr lang habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dann kriegte ich einen Anruf: «Genossin, wenn Sie Ihren Mann noch sehen wollen – er wird heute abtransportiert nach Solovki». Solovki ist eine Insel im Weissen Meer, während acht Monaten im Jahr durch Eis und Treibeis vom Festland abgeschnitten. Nun hatte ich ein Dienstmädchen, ein rührendes Geschöpf. Sie sagte zu mir: «Jetzt nehmen wir drei Flaschen Wodka mit, und wir werden sehen.» Auf dem Bahnhof standen schon die grossen Transportzüge bereit. Ich kam gerade an einem Fenster vorbei, wo mein Mann hinter der Scheibe stand. Er konnte mir nur noch mitteilen: zehn Jahre. Ich versuchte nun alles, etwas gegen dieses Urteil zu unternehmen. Ich hatte ja meinen Ausweis, mit dem ich überall hinkonnte. Da habe ich gemerkt, wozu Leute fähig sind, um Karriere zu machen. Der Stellvertreter meines Mannes, der mit uns eng befreundet war, hatte plötzlich nur noch ein Interesse: dass mein Mann in Gefangenschaft bleibt und er seinen Posten bekommt. Ich sagte zu ihm: «Du bist die grösste Drecksau, die es gibt.» Genau mit diesen Worten.

Ich sagte meinem Mann: «Ich kann dir nicht mehr helfen.» «Ich weiss», war seine Antwort.

Das Einzige, was ich erreichen konnte, war die Erlaubnis, meinen Mann zu besuchen. Ich kam nach Kem, dann nach Solovki. Doch nun ging es darum, eine Besuchsbewilligung vom Gouverneur von Solovki zu bekommen. Denn selbst wenn man von Moskau die Bewilligung hatte, konnte sie der Gouverneur von Solovki verweigern. Da sagte mir ein Matrose, es gebe zwei Gouverneure – einen guten und einen, der nie die Erlaubnis gebe. Er fand für mich heraus, wann der gute Dienst hatte. Ich ging also zum vermeintlich guten, der jedoch der schlechte war. Als ich den Matrosen auf der Strasse wieder antraf, sagte er mir voller Schrecken, man hätte mir den Falschen angegeben. Doch ich habe in meinem Leben nie einen väterlicheren Menschen angetroffen als diesen so genannten schlechten Gouverneur. Ich bin ihm mit einem solchen Glauben entgegengetreten, dass ich ihn völlig entwaffnet habe. Ich habe ihm gesagt, ich sei hierhergekommen, um mit meinem Mann zu reden. Wenn er etwas angestellt hätte, wäre er so anständig und würde es sagen, und ich sei der Meinung, dass er nichts gemacht habe. Wenn doch, würde ich mich von ihm trennen. Der Gouverneur gab mir die Erlaubnis, mit meinem Mann zu sprechen. Wir durften sogar bei ihm wohnen. Mein Mann sagte: «Es war eine Intrige von der GPU gegen mich, weil ich dich geheiratet habe, das verzeihen sie mir nie.» Hier muss ich anmerken: In Berlin verkehrte ich zuerst in den Kreisen um George Grosz und Franz Jung und habe einen Posten bei der Gewerkschaft gehabt. Eines Tages hat mich die GPU nach Wien kommen lassen, um für sie zu arbeiten. Eingefädelt hatte es meine Schwester, die mit einem Agenten liiert war. Zuerst machte ich mit, bin dann aber wieder abgehauen, weil ich merkte, dass es eine brenzlige Sache war und weil ich mich über den ungeheuren Geldaufwand der GPU aufgeregt habe. Mein Mann konnte mir genaue Daten nennen, die die Intrige beweisen konnten, und ich kehrte voller Hoffnung nach Moskau zurück. Doch leider bin ich dort auf ziemlich taube Ohren gestossen, weil der Nachfolger schon Günstlinge hatte. Etwa zwei Jahre später bekam ich nochmals die Erlaubnis, nach Solovki zu fahren. Aber die deutschen Genossen hatten mich gewarnt. Ich hatte auch ein paar Freunde bei der GPU, die gesagt haben: «Eva, du gehst ein zu grosses Risiko ein, wir können die schützende Hand nicht mehr allzu lange über dich halten. Die GPU ist gefrässig nach dir.» – Beim zweiten Mal in Solovki habe ich meinem Mann gesagt: «Ich kann dir nicht mehr helfen.» Er hat gesagt: «Ich weiss.» Und fügte hinzu: «Wenn du jetzt nach Moskau zurückkehrst, dann schau, dass du so schnell wie möglich wegkommst. Ausserhalb von Russland kannst du mehr tun.»

Ja, und als ich nach Moskau zurückkam, war es schon so weit. Da hat mir der Genosse P. einen falschen Pass gegeben – man findet ja immer jemanden, der einem hilft –, und so konnte ich nach Deutschland zurück.

Ohne Pass und ohne Geld sind Sie ein ganz armer Teufel.

Das war 1928. Ich ging wieder nach Berlin. Meine Schwester war zu jener Zeit in China, mit einem führenden Mitglied der Partei. Sie hatte immer nur «Führer». Sie war ein goldiger Mensch, aber ein Mann musste Führer sein. In München, während der Räteregierung, war es Max Levien, und in Moskau hat sie Treu kennen gelernt. Nach dem China-Aufenthalt ging Treu in die Opposition. Und die übliche Methode in Russland war, so jemanden in ein Krankenhaus zu schicken und ihn dort sterben zu lassen. So hab ich dann bewerkstelligen müssen, dass meine Schwester und ihr kranker Mann mit der deutsch-russischen Luftfahrtgesellschaft nach Berlin kommen konnten. Wir waren also zu dritt und absolut mittellos. Da hat uns ein Inder aufgenommen, der ein grosser Freund von Nehru war und eine Vereinigung namens Antiimperialistische Liga leitete. Diese Antiimperialistische Liga hielt gerade eine Konferenz in Brüssel ab, an der ich teilnahm. Dort lernte ich den jungen Nehru persönlich kennen. Er hat mir dann geholfen, ein Büro einzurichten: das indische Informationsbüro an der Mauerstrasse in Berlin, das nach dem Reichstagsbrand geräumt wurde.

Lange Zeit führte ich Korrespondenz mit Nehru. Einmal hat er mir mitgeteilt, dass seine Frau krank sei. Sie hatte Lungenkrebs, und er wollte, dass sie in Deutschland bei Professor Sauerbruch operiert würde. So habe ich Frau Nehru und die kleine Indira kennen gelernt. Frau Nehru wurde aber schliesslich nicht von Sauerbruch operiert, sondern flog nach Amerika, wo man sie bestrahlte. Als der Professor in Amerika feststellte, dass seine Bestrahlung missglückt war, hat er sie in ein Sanatorium im Schwarzwald abgeschoben. Dort habe ich sie besucht. Auch später in Lausanne, wo sie dann gestorben ist. Jessas, was haben wir für schöne Zeiten gehabt! Indira war damals ein Mädchen, und mit ihr verbindet mich eine tiefe Freundschaft. In Paris, wo ihr Vater sie nicht aus den Augen liess – Nehru war ein despotischer Vater –, bin ich mit ihr abgehauen. Meine Schwester hatte ihn abgelenkt, und so konnte Indira das Pariser Leben kennen lernen.

Ich sage immer: Man darf keine Angst haben.

Als der Reichstag brannte, kam also die SA ins Informationsbüro. Auch in meine Wohnung kamen sie. Glücklicherweise war ich nicht zu Hause. Alles haben sie mitgenommen. Nur meine Vogelkäfige haben sie mir gelassen und meine Affen. Ich war immer noch in der Kommunistischen Partei. Ich hatte eine Kammer. Wenn man ihre Tür aufmachte, wurde eine Nische geschlossen. Dahinter war unser Vervielfältigungsapparat, mit dem wir die Flugblätter gegen den Faschismus druckten. Wenn sie den gefunden hätten! Und wenn die meine Vogelkäfige ausgeräumt hätten, wären wir alle verloren gewesen – ich hatte unter dem Sand die Listen der Widerstandskämpfer versteckt. Dann hab ich den Apparat auseinander genommen und in die Spree geworfen, schweren Herzens.

Drei Wochen hab ich nachher auf Zeitungspapier geschlafen. Der Metzger, der Bäcker – alle haben mich rührend versorgt. Ich musste mich für einen Kollegen des Informationsbüros einsetzen. Dieser war bei der Haussuchung leider daheim gewesen. Sie haben ihn verhaftet. Er war Inder englischer Staatsangehörigkeit. Ich wusste, dass er einen Abgeordneten in England kannte, dem wollte ich schreiben. Da ich keine eigene Schreibmaschine mehr hatte – die haben ja alles mitgenommen –, ging ich zum Postamt und schrieb diesem Abgeordneten mit der öffentlichen Schreibmaschine. Plötzlich steht ein Mann hinter mir: «Um Gottes Willen, Fräulein, Sie spielen ja mit Ihrem Leben!» Sag ich: «Warum?» – «Ja, wie können Sie, wenn das ein SA-Mann sieht!» – Sag ich: «Ich muss es riskieren, ihr seid alle feige.» Der Inder ist freigekommen, das heisst, sie haben ihn ausgewiesen.

Ich etablierte mich wieder, hatte eine Wohnung, eine Stelle als Sekretärin, und ich wollte meine Schwester besuchen, die inzwischen in Zürich lebte. Nun öffnete sich aber an meinem Schreibtisch eine Schublade nicht. Es war ein altes Pult, das mir eine Jüdin, die fliehen musste, geschenkt hatte. Und wie ich von meiner Reise aus der Schweiz zurückkomme, konnte ich plötzlich diese Schublade öffnen. Da muss eine Haussuchung gewesen sein. Der Hausmeister sagte: «Ach ja, da sind mal zwei so komische Gestalten gekommen.» Da bin ich zu meinem Chef gegangen. Er war ein Nazi, aber er mochte mich, und er hat mir gesagt: Hindu – so nannte er mich wegen meiner Beziehung zu Indien –, geh sofort zum Hauptquartier der SS und frage, warum man bei dir eine Haussuchung gemacht hat. In diesem Hauptquartier ist mir das erste Mal im Leben das Herz in die Hose gerutscht. Es wimmelte von SS-Leuten, und ich hatte Angst, obwohl mein Chef mir gesagt hatte, er hole mich da wieder raus. Das Arschloch, das mich verhörte, hiess Geissler wie ich. Das ärgert mich heute noch. «Wir sind hoffentlich nicht verwandt», sagte ich ihm, so eine Wut hatte ich. Mein Chef hat mir gesagt, ich soll aggressiv sein, und ich frage also, wie man dazu komme, eine Haussuchung zu machen. – «Ja ... wir haben Ihre Adresse bekommen.» – «Von wem?» – «Von einem, den wir verhaftet haben.» – «Wen?» – «L.» – «Das glaub ich nicht, dass es L. war.» – «Wir haben schon Methoden, Adressen zu bekommen.» – Da sag ich: «Sie werden sich irren, bei mir kriegen Sie keine.» – In diesem Moment hat das Telefon geklingelt. Mein Chef. – «Hier ist SS-Obersturmführer Dr. Kremer, ist meine Sekretärin noch bei Ihnen? Ja? Wenn sie nicht sofort in einem Dienstwagen in mein Büro gebracht wird, werde ich Reichsführer SS Himmler anrufen. Er ist ein Schulkamerad von Fräulein Geissler und kennt sie sehr gut.» – Der Typ hat nur noch gestammelt: «Sie können gehen.» Das war ein schöner Augenblick. Mein Chef war grossartig.

Hier muss ich anmerken: Das mit Himmler stimmt. Wir sind in München im selben Schulhaus zur Schule gegangen. Und ich weiss noch gut, dass ich in den Pausen Rollschuh mit ihm gelaufen bin. In meiner Berliner Wohnung an der Agricolastrasse hatte ich vierundzwanzig Vögel und meinen Hund, eine Dogge – mein Alles. Und eines Tages, als ich nach Hause kam, sah ich drei schwarze SS-Wagen. Da wusste ich, dass sie oben sind. Jemand anders wäre in dieser Lage vielleicht nicht mehr hochgegangen. Ich schon. Oben sagt einer der SS-Leute zu mir: – «Haben Sie unsere Autos unten stehen sehen?» – «Ja.» – «Und warum kommen Sie rauf?» – «Weil ich meine Tiere nicht im Stich lasse.» – Da hat er mir meinen Pass gegeben, den er schon beschlagnahmt hatte. Den Hund habe ich mitgenommen, die Vögel in eine Vogelhandlung gebracht, und dann habe ich Deutschland verlassen. Im Jahr 1936 war das.

Ich ging via Prag in die Schweiz, hatte dort aber nur eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung: Deshalb musste ich alle drei Monate nach Österreich ausreisen. Es ist eine furchtbare Sache gewesen. Da hab ich mir gedacht: Jetzt musst du dir einen Schweizer suchen. Das war nicht so einfach. Ich hatte kein Geld, schön war ich auch nicht. Aber ich hab einen ganz lieben, feinen Mann bekommen. Das kam so: Ich hatte einen Freund in Berlin, der Jude war und dem meine Schwester ein Visum nach Amerika verschaffen konnte. Als der Bürgerkrieg in Spanien ausbrach, kam er zurück, um gegen Franco zu kämpfen. In Spanien hat er einen Schweizer kennen gelernt, einen Zimmermann, der ebenfalls gegen Franco kämpfte, und da er von meinen Schwierigkeiten als Emigrantin wusste, hat er diesen gefragt, ob er mich heiraten würde. Die Antwort war Ja – ohne mich im Geringsten zu kennen. Da haben wir in Paris geheiratet. In der Schweiz wäre es, weil ich ja keine Papiere hatte, nicht gegangen. Und mein Mann, der Herr Walter, war so scheu, dass er monatelang kein Wort mit mir sprach. Kaum waren wir in Zürich, bekam Herr Walter den Stellungsbefehl. Er ging hin, und sie haben ihn gleich behalten und ihm einen Prozess gemacht. Acht Monate hat er bekommen, die er unverzüglich absitzen musste. Und drei Jahre Ehrverlust. Alle Spanienkämpfer, die gegen Franco waren, mussten sitzen. Aber die, die für ihn gekämpft haben, nicht. Doch was mich gestört hat, war der Ehrverlust. Da hab ich mich hingesetzt und dem General Guisan einen Brief geschrieben. Ich habe ihm geschrieben: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Daraufhin ist der Ehrverlust gestrichen worden. Immerhin.

Diese Untermenschen-Einstellung macht mich verrückt.

1948 eröffnete ich den India Store in Zürich. Damals gab es keine Kleider- oder Schmuckboutiquen, nichts in dieser Art. Ich hatte nebst Kleidern und Schmuck auch Kunstgegenstände, Antiquitäten, Thankas, Gebetsmühlen, Räucherstäbchen. Indira Gandhi war bei der Eröffnung dabei. Ich hatte immer Kontakt mit ihr gehabt. Ich wusste immer, wann sie in Zürich war, auch inoffiziell. Einmal besuchte ich sie im Hotel Baur au Lac. Es war Winter. Ich trug einen billigen Mantel und ging barfuss in Sandalen. Ich begrüsste den Portier und verlangte die Ministerpräsidentin Indira Gandhi zu sprechen. Der Portier stutzte. Da sagte ich ihm: «Frau Gandhi ist meine Freundin, melden Sie mich bitte an.» Ich sah ihm an, dass er mich für eine Verrückte hielt. Da erschien Indira oben auf der Treppe, wir gingen voller Freude aufeinander zu und umarmten uns. Für mich ist jeder Mensch gleich. Ob er schwarz ist oder Jude. Welche Religion er hat, ist mir wurscht. Niemand kann etwas dafür, wo er geboren wurde.

Ich selber bin ja in München geboren und aufgewachsen. Ich hatte eine wunderbare Mutter. Sie war ihrer Zeit weit voraus, und ihre Kinder waren ihr Alles. Sie hatte sieben uneheliche Kinder, als sie heiratete, und dann hat sie noch neun bekommen. Ich war die Jüngste, meine Schwester Luise die Zweitjüngste. Wir mussten die abgetragenen Kleider anziehen, die schlecht rochen, vor allem die Schuhe. Ich habe es vorgezogen, keine Schuhe zu tragen, bis ich dreizehn war. Mein Vater war ein Beamter im Aussenministerium und ein Tyrann. Zuerst Berufsmilitär, dann Staatsdienst. Dann kam der Umsturz, und ein Sozialdemokrat ist Minister geworden. Das war ein schrecklicher Schlag für meinen Vater. Kurz darauf hat er sich pensionieren lassen.

Zu Ende des Ersten Weltkriegs habe ich in einer chemischen Fabrik gearbeitet. Die hatten Mohnpflanzungen, für die man russische Kriegsgefangene zur Verfügung gestellt hat. Tagsüber haben sie auf den Feldern gearbeitet, abends sind sie kaserniert worden. Himmeldonnerwetter, wenn ich daran denke. Die hatten nichts zu fressen. Meine Mutter hat mir heimlich Kartoffelsalat in Kübeln hingestellt, dass ich denen das geben konnte. Sie war eine wunderbare Frau. Unser Arzt sagte einmal: «Das sind ja Untermenschen, die fressen Würmer!» Da hab ich ihm geantwortet: «Ja, warum fressen die Würmer? Weil sie Hunger haben, nicht aus Vergnügen!» Als dann die Räteregierung zusammenbrach, hat man die Kriegsgefangenen im Münchner Schlachthaus niedergemacht. Darüber spricht kein Mensch. Aber die Roten hatten zehn Geiseln genommen, und weil die hingerichtet wurden, hat die ganze Welt aufgeschrien, einschliesslich Papst!

Die Freunde sagen: Eva, du bist eine Oase in der Wüste.

Vierzig Jahre lang hatte ich den India Store, von 1948 bis 1988. Zuerst am Limmatquai, dann an der Schoffelgasse. In den letzten Jahren habe ich keinen Profit mehr gemacht, aber ich kam mit vielen Leuten in Kontakt. Hätte ich alleine in der Wohnung hocken und resignieren sollen? Meine grossen Freundinnen waren die Huren in der Strasse. Oberklasse. Sehr nette Mädchen. Sie sind die Verachteten, und der Mann, der zu ihnen geht, ist der feine Herr. Für mich wäre das nie ein Beruf gewesen. Und doch habe ich mit 82 Jahren das erste Geld auf der Strasse verdient. Da hat mir ein Freier gesagt: Die Mädchen da sagen, dass Sie so lieb seien, und er hat mir hundert Franken geschenkt.

Im Laden an der Schoffelgasse sind im ersten Stock Tauben und Spatzen frei herumgeflogen und haben alles verschissen, aber das war mir wurscht. Ein paar Tauben waren in Käfigen. Eine Dohle hatte ich und einen Hund. Regelmässig ging ich zur Limmat hinunter, um Tauben zu füttern. Tauben, die krank waren, nahm ich mit nach Hause und pflegte sie gesund. Einmal hatte ich wegen den Tauben einen Prozess. Morgens um acht kam die Kriminalpolizei. Ich würde Tauben pflegen, das sei verboten, ich solle sie ihnen rausgeben. Ich gab sie nicht. Dann musste ich zum Friedensrichter, aber mein Tierarzt kam mit mir und sagte: «Ich kenne die Frau Walter, seit sie in die Schweiz emigriert ist, und wenn ich ein krankes Tier habe und Frau Walter nimmt es, dann bin ich überglücklich.» Und weiter hat er gesagt, ich müsse vor Gericht gehen, denn nirgends stehe geschrieben, dass das Pflegen von kranken Vögeln verboten sei. Der Bezirksrichter sagte zu mir, ehe ich überhaupt meinen Mund aufgemacht hatte: «Das muss ich Ihnen gleich sagen: Wir sind hier nicht im Dritten Reich, wo man ein freches Maul haben kann!» So hat der mich empfangen. Da hab ich dem Protokollführer gesagt: «Seien Sie so gut und schreiben Sie auf, was der Herr Bezirksrichter zu mir gesagt hat.» Und zu ihm selber: «Meine Mutter hat mir einen guten Rat gegeben: Sag nie, was du denkst, sondern sag immer: 'Sie sind aber ein feiner Herr und hier am richtigen Platz.'» Dann bin ich wutentbrannt raus. Mein Anwalt sagte mir: «Frau Walter, Sie sind eine Querulantin, lassen Sie das doch sein!» Der kannte mich schlecht, ich ging wieder zum Bezirksgericht. Einfach so. Und da stand: 'Bezirksgerichtspräsident'. Geh zum Präsidenten, dachte ich. Im Vorzimmer wurde ich gefragt, ob ich angemeldet sei. Nein, aber Sie brauchen nicht gleich vom Stuhl zu fallen, dass ich unangemeldet komme. Ich hab mir gesagt: Wenn er den Z. mag, dann bin ich verloren, aber wenn er ihn nicht mag ... Ich hab mich dann hingestellt und gesagt wie ein Schulmädchen: «Herr Präsident, ich habe eine pfundige Anklage gegen Herrn Bezirksrichter Z.» Da hat er mich vorgelassen. Zuerst sagte er bloss, er werde Z. eine Rüge erteilen, worauf ich aber keinen Wert legte. - Gut, er wolle sich den Fall ansehen. Schliesslich habe ich ein Urteil bekommen, dass es begrüssenswert sei, kranke Vögel zu pflegen. Sie müssen nur an die richtige Stelle kommen!

Als 1980 die Jungen randalierten – die meisten Proteste fanden ja im Niederdorf statt –, war ich froh, dass ich achtzig war. So komme ich nicht in Versuchung. Ich mag Gewalttätigkeiten nicht, doch als wir in Berlin gegen Hitler kämpften, haben wir uns auch vor die Strassenbahnen geworfen ...

Kurze Zeit war ich in einem Altersheim, anthroposophisch, wo ich mich bevormundet fühlte. Dann brachte man mich hierher ins Krankenheim Entlisberg. Das Personal ist lieb. Die Aussicht aus dem Fenster ist schön. Zu jeder Mahlzeit krieg ich ein Gläschen Cognac. Ärztlich verordnet, und hie und da bringt mir ein Besuch eine Flasche Cognac mit, die ich dann verstecke. Ich habe AHV und Kriegsrente von den Deutschen. Ich habe Verwandte, Freunde. Eigene Kinder hatte ich nie. Ich höre Radio, ich lese Zeitungen. Man sollte nicht so alt werden.

Eva Wilhelmine Walter-Geissler starb am 15. April 1991.

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