Wissenschaftsstandorte (12): Wie eine kleine Uno

Nr. 49 –

Al-Ashar ist nicht nur eine religiöse Autorität, sondern auch eine Universität – für Ägypten und die islamische Welt.

Nicht weit entfernt vom hektischen Zentrum der Millionenmetropole Kairo ist die Stadt der Buhuth al-islamija (islamische Studien) eine regelrechte Idylle. Angeordnet wie in einer Schweizer Vorstadtsiedlung stehen mehrere Dutzend vierstöckiger Wohnblöcke in einer umzäunten Umgebung, dazwischen Grünflächen, Spazierwege, Terrassen. Kein aufgeregt hupender Verkehr, sondern Flanierstimmung – bis auf die Baustellen, wo offenbar Erweiterungsbauten erstellt oder Renovationsarbeiten vorgenommen werden.

Hier leben etwa 3000 Studenten der Universität al-Ashar («Die Blühende»), und sie kommen aus über neunzig Ländern. Tatsächlich sieht die Gemeinschaft junger Männer, die sich hier gemütlich oder zielstrebig bewegen oder in Gruppen einen herbstlichen Sonnenstrahl geniessen, aus wie eine kleine Uno: Viele kommen aus dem Fernen Osten (Thailand, Indonesien, Malaysia) oder vom Subkontinent (Indien, Pakistan, Afghanistan), aber auch Schwarzafrika ist stark vertreten. Manche unter ihnen tragen die traditionelle Kleidung ihres Landes, sodass wirklich der Eindruck einer kleinen Weltgemeinschaft entsteht. Gleich auf der andern Strassenseite liegt die Siedlung für rund 300 Studentinnen, wo es ähnlich ausschauen dürfte. Nur wenige Weisse sind zu sehen, und die stammen seltener aus dem Westen als aus den neuen Republiken der früheren Sowjetunion, in denen die Bevölkerung sich ihrer islamischen Tradition wieder bewusst wird.

Fortsetzung einer Tradition

Die seit rund fünfzig Jahren bestehende Stadt der islamischen Studien ist nur ein kleiner Teil der grossen Institution al-Ashar, der eine uralte Tradition auf moderne Art weiterführt. Schon bald nach dem Bau der Ashar-Moschee im Jahr 969 wurde ihr eine Universität angegliedert – tatsächlich haben in der arabischen Sprache beide Wörter, Moschee und Universität, die gleiche Wortwurzel im Bedeutungsfeld von Sammeln und Zusammenbringen. Die Ashar-Universität blieb jahrhundertelang die einzige des Landes und ist die älteste noch bestehende Lehranstalt der Welt. Die vielen Touristen, die die Al-Ashar-Moschee mitten in der islamischen Altstadt Kairos besuchen, sehen heute dort noch Unterrichtsräume mit den Namen der Herkunftsländer der Studenten: Schon vor hunderten von Jahren strahlte die Moschee und ihre Universität in die gesamte islamische Welt aus und zog Schüler an.

Dass dies auch weiter so bleibt, darum kümmert sich inzwischen der ägyptische Staat. Mahmud Kamel, Direktor der Studentenstadt, sieht denn auch nicht aus wie ein Scheich, trägt weder Kaftan noch Turban, sondern Anzug und Krawatte. «Die Studenten leben hier gänzlich auf unsere Kosten», führt er aus. Schulgeld gibt es an der Ashar eh keines zu bezahlen, und das Wohnen mit drei Mahlzeiten täglich, die medizinische Behandlung wie auch das Schulmaterial inklusive Internetanschluss sind gratis – hinzu kommt ein Taschengeld von hundert Pfund pro Monat (das sind 25 Franken – damit können StudentInnen in Kairo durchaus leben).

Ausgewählte MuslimInnen

Die in der Stadt der islamischen Studien lebenden StudentInnen haben sich in ihren Ländern um die Stipendien beworben. Die Auswahl trifft die ägyptische Botschaft in Zusammenarbeit mit Regierung, Erziehungsministerien oder religiösen Institutionen vor Ort, und die Anzahl Plätze pro Land wird aufgrund des Anteils der muslimischen Bevölkerung festgelegt. Die Studienplätze sind ausschliesslich für MuslimInnen reserviert, und weit über neunzig Prozent von ihnen studieren in Kairo Islamwissenschaften. Das Bildungsniveau ist bei der Auswahl weniger von Belang, wird doch das Studienprogramm der Neulinge erst nach Ankunft in Kairo festgelegt und kann für einige durchaus auf voruniversitärer Stufe und für etliche mit dem Erlernen der arabischen Sprache beginnen. Laut Mahmud Kamel bleiben die Studenten daher im Durchschnitt sieben bis acht Jahre unter den Fittichen der Buhuth al-islamija, bevor sie in ihre Länder zurückkehren.

Welche Berufsaussichten haben die RückkehrerInnen? Einige befragte Studenten geben an, bei ihrer Heimkehr auf die Komoren, nach Malaysia, Thailand oder nach Tadschikistan eine religiöse oder universitäre Laufbahn im Auge zu haben. Doch bald wird klar, dass einige auch hochfliegende Ambitionen haben: Eigentlich schwebt ihnen schon ein hoher Regierungs- oder Diplomatenposten vor. Laut Mahmud Kamel arbeiten tatsächlich viele StudentInnen nach ihrer Rückkehr in Regierungsstellen. Angesichts des Auswahlverfahrens verwundert dies kaum – die Behörden haben da ja schon ihr Wort mitgeredet und nach Kairo geschickt, was die kommende Elite werden soll. So stehen den AbgängerInnen Stellen im Erziehungswesen, bei den Justizbehörden oder in religiösen Institutionen offen – je nachdem, mit welcher Spezialisierung sie ihr Studium der Islamwissenschaften abschliessen: Ussul id-din (Theologie), Scharia (islamisches Recht, wobei auch andere Rechtssysteme zum Vergleich herangezogen werden) oder arabische Sprache und Geschichte.

Neben den rund 3300 StipendiatInnen auf dem Campus – jedes Jahr kommen rund 800 neue dazu – betreut die Abteilung Buhuth al-islamija noch weitere 5000 StudentInnen: «Sie leben ausserhalb des Campus in eigenen Wohnungen. Auch sie bezahlen kein Schulgeld, doch der Lebensunterhalt geht auf ihre Kosten, dafür erhalten sie ein etwas höheres Taschengeld», führt Mahmud Kamel aus. Im Übrigen läuft das Aufnahmeverfahren für sie gleich ab wie für die StudentInnen auf dem Campus. Alles in allem lässt sich der ägyptische Staat die Unterstützung dieser ausländischen StudentInnen der Islamwissenschaften jährlich 35 Millionen Pfund (über 8 Millionen Franken) kosten.

Staatsnähe birgt Gefahr

Die Nähe zum ägyptischen Staat und dessen Regierung gibt zunehmend Anlass zu Skepsis gegenüber der Autorität von Ashar und ihren Lehrmethoden. Nabil Abdel Fatah vom Zentrum für politische und strategische Studien des bedeutenden ägyptischen Al-Ahram-Verlags zweifelt am heutigen Ashar-Unterricht. Die dortigen Gelehrten würden nur noch alte Bücher wiederholen, meint er und erklärt den Zerfall des akademischen Standards an der Ashar mit dem allgemeinen Freiheitsdefizit in der ägyptischen Gesellschaft, das wissenschaftliche Forschung und Kreativität auch in vielen andern Bereichen behindere. Er sieht die glorreiche Zeit von al-Ashar im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Ashar-Gelehrten ihre höhere Ausbildung in England und Frankreich erhielten. Sie brachen mit starren Traditionen und debattierten hitzig über Islam und Modernität. Scheich Gamal Kutb, ein früherer Vorsitzender des Ashar-Komitees (siehe unten), glaubt, die Verstaatlichung in den sechziger Jahren habe zu einem Klima der Selbstzensur und zu einem Niveauzerfall geführt. Der Schriftsteller Gamal al-Ghitani bedauert gar, dass viele Ashar-Gelehrte die hocharabische Sprache kaum beherrschten und den Koran nicht mehr auswendig könnten. Ihre gemässigte Rhetorik komme gegen die heutige Gefahr des Extremismus nicht an: «Wer mag schon einer offiziellen, seichten und regierungsfreundlichen Rede zuhören?», fragt er und stellt eine bedenkliche Lücke fest, die von irgendwem gefüllt werden könnte – möglicherweise auch von selbst ernannten falschen Autoritäten.

Grosse Nachfrage

Abdel Deim Nussier ist Leiter der Abteilung für öffentliche Beziehungen der Universität und verweist darauf, dass die Nachfrage nach Studienplätzen für Islamstudien immer noch deutlich grösser ist als die Kapazität der Universität. Er zählt an der ganzen Universität rund 14 000 ausländische StudentInnen, kommen doch zu den StipendiatInnen noch mehrere tausend StudentInnen aus aller Welt aus eigenem Antrieb oder aufgrund von zwischenstaatlichen Verträgen nach Kairo. Im Gegensatz zu den Schützlingen von Buhuth al-islamija müssen die andern Studenten die nötige Qualifikation fürs Universitätsstudium mitbringen. Auch sie belegen in ihrer überwiegenden Mehrheit Islamwissenschaften, eventuell kombiniert mit einem andern Fach. Für technische Studien würden nur ein paar hundert, meist arabische oder afrikanische StudentInnen von ihren Regierungen nach Kairo geschickt. Für Nussier ist der Auftrag von al-Ashar klar: «Es ist unsere historische Mission, die Ausbildung im wahren und gemässigten Islam für jedermann zu ermöglichen.»

Ist die Universität al-Ashar also eine Einrichtung für islamische Entwicklungshilfe oder vielmehr Mission in der ganzen Welt? Nussier wehrt ab: Der in Kairo gelehrte Islam sei deutlich moderater als irgendwo sonst auf der Welt. «Wir unterrichten hier einen Islam, zu dem Toleranz und Offenheit gehören», insistiert er – die Grundlagen, mit deren Hilfe überall auf der Welt nach Lösungen und Antworten auf aktuelle Fragen gesucht werden könne. So würden an al-Ashar alle vier traditionellen Schulen des sunnitischen Islam und ihre Interpretationsweisen gleichwertig gelehrt, ja sogar auf die schiitischen Glaubenssätze werde eingegangen. Bei der Frage, ob auch die in den vergangenen Jahren als besonders konservativ in die internationalen Schlagzeilen geratene saudi-arabische Variante des Islams, der Wahhabismus, gelehrt werde, hört die Toleranz jedoch auf: Dessen Prinzipien stünden im Gegensatz zu Offenheit und Nachsicht und basierten zu sehr auf dem Ausschluss von andern Interpretationen - dafür gebe es an der Ashar keinen Platz.

Was an al-Ashar alles blüht

Mit dem Namen al-Ashar werden verschiedene Institutionen bezeichnet. Im Jahr 969 wurde die Moschee dieses Namens von den Gründern der Stadt Kairo gebaut. Wie viele andere Moscheen auch diente sie zu Unterrichtszwecken, und 972 wurde ihr eine Universität angegliedert, die zu einem Weltzentrum nicht nur für islamische Gelehrsamkeit, sondern für alle Wissensgebiete der damaligen Zeit geworden ist. Erst unter osmanischer Herrschaft ab 1517 wurde al-Ashar wieder auf den Islam reduziert und zur wichtigsten Autorität für dessen sunnitische Glaubensrichtung.

Die grössten Veränderungen fanden jedoch im Verlauf des 20. Jahrhunderts statt. Gleich zur Jahrhundertwende wurden die religiösen Stiftungen – die wichtigste Finanzquelle der Institution – einem Regierungsministerium unterstellt, und die Regierung ernannte ihren eigenen Mufti (religiöser Rechtsexperte) – beides schwächte die Position des Grossen Scheichs von al-Ashar als höchste religiöse Autorität deutlich.

Seit der nationalistischen Revolution von Gamal Abdel Nasser im Jahr 1952 ist es mit der Unabhängigkeit von al-Ashar endgültig vorbei: Sie wurde zur Regierungsinstitution, und ihre Gelehrten wurden zu Beamten, sogar ihr Grosser Scheich wird seither von der Regierung ernannt. Seit einer grundlegenden Reform im Jahr 1961 bietet sie neben den Islamstudien die gleichen Lehrgänge an wie alle staatlichen Universitäten.

Heute gibt es vier Ashar-Einrichtungen, alle von der Regierung finanziert:

• Die Ashar-Universität mit Fakultäten im ganzen Land, an denen im Jahr 2004 über 300 000 StudentInnen von rund 2800 Lehrkräften unterrichtet wurden. Fast die Hälfte der Studierenden sind Frauen – bei strikter Geschlechtertrennung.

• Die Ashar-Institute für voruniversitäre Ausbildung in ganz Ägypten, zu denen rund 6300 Primar- und Sekundarschulen mit 1,5 Millionen SchülerInnen gehören - auch dort erfolgt der Unterricht geschlechtergetrennt.

• Die Ashar-Akademie für islamische Forschung ist zuständig für die «Verbreitung der islamischen Kultur in Ägypten und der ganzen Welt». Dazu gehört das berühmte Komitee von islamischen Gelehrten unter Führung des Grossen Scheichs von al-Ashar, Mohammed Sajed Tantaui, das als höchste Autorität im sunnitischen Islam Entscheide («fatwas») in Streitfragen fällen kann. Auch die im neben stehenden Artikel erwähnte Buhuth al-islamija gehört zu dieser Akademie.

• Der Hohe Rat von al-Ashar, zuständig für Finanzen und Verwaltung aller Ashar-Institutionen. Er setzt sich aus Vertretern der Ashar-Institutionen sowie fünf Delegierten der Regierung zusammen.

Serie Wissenschaftsstandorte

Welche Rolle spielt der Standort im Zeitalter von Internet und E-Learning für die Wissenschaft? Wie funktioniert Wissenschaft anderswo? Bisher erschienen: Basel (WOZ Nr. 3/04); Sarajevo (Nr. 9/04); Berlin (Nr. 16/04); Moskau (Nr. 20/04); Wissenschaft im Cyberspace (Nr. 28/04); Das ETH-Projekt Science City (Nr. 34/04); Princeton (Nr. 47/04); Lesotho (Nr. 50/04); Bangladesch (Nr. 5/05); Oxford (Nr. 22/05); Berkeley (Nr. 45/05).

Recherchierfonds

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