Korbball: Der grosse Wurf

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Sie kamen, spielten und gewannen. Wie eine eingeschworene Gemeinschaft den Schweizer Korbball revolutionierte.

Die Korbballmannschaft des Turnvereins Lorraine-Breitenrain (TVLB) ist auf dem Weg zum Triple: Nach den Siegen im Schweizer Cup und am Eidgenössischen Turnfest bietet sich die Chance, als erstes Team überhaupt mit dem Gewinn der Meisterschaft alle drei möglichen Titel in einem Jahr zu erreichen. Der TVLB führt zur Saisonhälfte mit fünf Punkten Vorsprung. Jetzt, Mitte August, beginnt der zweite Teil der Saison, die im September zu Ende geht. Die Chancen auf den Titel stehen bei 21 von 22 möglichen Punkten sehr gut. Doch der Weg dahin war lang. Er führte den TVLB an die Grenzen des schweizerischen Sportverständnisses. Und dar-über hinaus.

Erfolg - ohne Trainer

«Eigentlich wollten wir Fussball spielen», sagt Yves Jacob im Gespräch. Im Berner Breitenrainquartier aufgewachsen, traten die drei Brüder Jacob - Yves, Alain und Philippe - sowie ihre Freunde Ronny Baumgartner und Christian Bertschi als Jugendliche dem örtlichen Turnverein bei, um gegen den Ball zu treten. Als sie ihn aber zu werfen begannen, wurde aus ihnen eine Mannschaft, die den nationalen Wettbewerb beherrschen sollte. Die erwähnten Spieler bilden noch heute das Skelett des TVLB. «Wir haben uns alles selber erarbeitet. Wir hatten nie einen Trainer, der sagt, wo es lang geht. Das ist unser gemeinsames Projekt. Wir hängen alle extrem daran», sagt Jacob.

Der Turnverein wünschte sich damals eine Korbballmannschaft, denn es gab eine Tradition in Berns Norden, wenn auch keine glanzvolle. Nun, Mitte der neunziger Jahre, war man knapp dem Abstieg in die 2. Liga entronnen. Aber mit der Integration der Junioren in die erste Mannschaft begann sich das Blatt zu wenden. «Wir waren auf der Höhe», sagt Jacob. 1997 stieg die junge Mannschaft in die Nationalliga B auf. Kurz zuvor hatte auch der TV Madiswil das Kunststück fertig gebracht, die Spielklasse direkt zu durchqueren. Schon 1998 spielte der TV Lorraine-Breitenrain erstmals in der NLA. Doch damit war der Ritt noch nicht beendet, im Gegenteil.

Nach dem Aufstieg 1998 setzte sich der TVLB einen Mittelfeldplatz in der NLA zum Ziel. Nach fünf Siegen in den ersten fünf Spielen aber war klar, wohin die Reise führen würde: Von der 1. Liga ohne Umschweife zum Schweizer-Meister-Titel. Und genau so kam es. Lorraine-Breitenrain hatte die Schweizer Korbballszene durch die grosse Tür betreten. Das Spiel war nicht mehr dasselbe. Bis anhin sah die Spielgestaltung im Korbball vor, den Ball, ähnlich wie im Handball, auf Distanz umsichtig um den Korb wandern zu lassen. Damit wurde die Abwehr in Unordnung gebracht. Das ermöglichte irgendwann einen freien Wurf oder den Vorstoss zum Korb. Die Spieler des TVLB gingen anders vor. Sie prellten den Ball oft, dribbelten, spielten schnell. Sie suchten den Zweikampf um Ball und Position und strebten immer auf direktem Weg zum Korb. War er versperrt, wurde der Ball nach aussen gespielt, und die bemerkenswert sicheren Distanzwerfer wurden eingesetzt. Korbball begann, wie Basket auszusehen. Die Überlegenheit von Lorraine-Breitenrain gründete in technischer Qualität, taktischer Innovation und physischer Präsenz.

Böses Blut

Das war die eine Seite der Medaille. Die andere sorgte für böses Blut. Der TVLB spielte nicht nur gut, sondern auch aggressiv. Die Mannschaft konnte ein Gesicht zeigen, das viele als hässliche Fratze sahen. Unsportliche Härte, Hinterhältigkeit und Impertinenz wurden der Mannschaft nachgesagt. Was die Berner als Emotionalität bezeichneten, galt anderen als Unfairness. Pure Aggressivität als Mittel zum Sieg, das war dem Korbball fremd. Das Verhältnis zu anderen Mannschaften war gespannt, das zum Verband gar zerrüttet. Vor allem die Schiedsrichter fühlten sich angegriffen. Der Widerstand des Verbandes wiederum reizte die Berner. 2001 gewann Lorraine-Breitenrain mit Cup und Meisterschaft erstmals das Double. Doch danach schien es, als sei aller Tage Abend. Drei Jahre lang kam man weder beim Cup noch in der Meis-terschaft über zweite und dritte Ränge hinaus. In Anbetracht von Qualität und Ehrgeiz der Mannschaft waren das Niederlagen. Der Grund für dieses Scheitern auf hohem Niveau lag vor allem in der Anpassungsfähigkeit der Gegner. Sie hatten ihr Spiel auf die Berner eingestellt. Wissend, dass Letztere die Nähe zum Korb suchen würden, zogen sie sich zurück, versperrten den Weg und hielten härter auf den Mann. Man nahm den Kampf an, den die Berner ins Spiel trugen. Die Partien gegen den TV Hindelbank galten beim Verband als «Schlägereien». Die Teams sind sich bis heute nicht grün und betonen die Rivalität. Schuld an der Eskalation trage der jeweils andere, da sind sich die beiden Klubs einig. Zwar gewann der TVLB in den folgenden Jahren nach wie vor viele Spiele, aber nicht mehr alle. Und die Spieler verloren die Freude daran, denn sie hatten ihren Stil verloren.

«Wir sind alle sehr ehrgeizig, uns braucht keiner zu motivieren», sagt Yves Jacob. Er betont den Glauben an die Leistung, den Glauben an die eigene Stärke, vieles sei Kopfsache - die klassische Sprache des Sports.

«Die sind halt robust»

Dazu gehört auch der Durchhaltewillen: Die Berner begannen, Spielzüge aus dem Basketball zu sammeln und prüften sie auf ihre Korbballtauglichkeit. Der TVLB setzte Spielformen, die nicht aus dem Korbball kamen, planerisch ein. Das hatte er schon immer getan und damit das Spiel verändert. Aber nun tat er es systematisch. Das stellte einen weiteren Modernisierungsschub im Dienste des Erfolgs dar. Und der Erfolg kehrte zurück: Die Mannschaft steht vor dem Triple. «Wenn alles normal läuft, gewinnen wir immer», sagt Jacob. Die Stärke, die andern Mühe macht, klingt an. Guido Wick, Trainer des TV Altnau, Finalgegner des TVLB am Turnfest, nimmt es sportlich: «Die sind halt robust», sagt er über die Berner. Er hält sie für eine «geniale Mannschaft», und das wolle etwas heissen, er sei «zwanzig Jahre im Geschäft». Auch beim Verband ist man sich der Qualität des TVLB bewusst. Umso mehr wird alles andere bedauert, die Mannschaft habe das eigentlich gar nicht nötig, glaubt man. Aber damit ist das Problem nicht hinreichend beschrieben.

Auch wenn Korbball in den Elitekategorien leistungsmässig betrieben wird, bleibt das Spiel doch ein Breitensport. Der Schweizer Sport ist traditionell stark auf den Breitensport ausgerichtet. Gemeinschaftsbildung, Gesundheit und Tüchtigkeit, auch im Sinne der militärischen Ausbildung, bestimmten lange das nationale Sportverständnis. Spitzenleistungen waren zweitrangig, man orientierte sich am Mittelmass. Gerade in der Schweizer Turnerbewegung wurde diesen funktionalen Aspekten des Sports Rechnung getragen. Erfolg als einziger Zweck sportlichen Tuns war lange verpönt, die Übung wichtiger als der Kampf. Zum Eidgenössischen Turnfest 1955 liess der Verband verlauten, man sei «nicht gegen Wettkämpfe, aber gegen die Veröffentlichung von Resultaten». Nur langsam wich diese Skepsis gegenüber den Paradoxien des modernen Sports. In vielem ist sie noch heute präsent. Das bekam der TV Lorraine-Breitenrain mit seinem bedingungslos erfolgsorientierten Spiel zu spüren. Sich nicht mit dem Mittelmass zufrieden zu geben, hiess, es mit dem nationalen Sportverständnis aufzunehmen. Was kommt nach dem Triple? «Vielleicht hören sie auf», sagt der Verband. Yves Yacob sagt mehrdeutig wenig: «Nichts.»



Basketball mit Nockenschuhen

Korbball wird auf einem 40 mal 25 Meter grossen Rasenfeld gespielt. In der Mitte der beiden Grundlinien befindet sich in drei Metern Höhe je ein Korb. Er hat einen knappen halben Meter Durchmesser. Ziel des Spiels ist es, den Ball, der einem Fussball gleicht, aber etwas schwerer ist, durch den Korb zu befördern. Jedes Team hat dafür sechs FeldspielerInnen zur Verfügung. Die Mittel sind jenen im Basketball ähnlich: Das Spielgerät darf weder blockiert noch lange getragen und der Gegenspieler nur in Massen angegangen werden. Trotz dieser Verwandtschaft mit dem Basketball gleicht das Korbballspiel in seiner taktischen Ausführung traditionell dem Handball. Das Erscheinungsbild der SpielerInnen wiederum ist mit Nockenschuhen und Kurzarm-Jerseys dem von FussballerInnen entlehnt.

Der Sport ist seit 1973 in einer Nationalliga organisiert. Er gehört zu den Turnspielen und ist mit der Turnerbewegung entstanden. Entsprechend sind die Korbballmannschaften als Aktivriegen in Turnvereine, diese wiederum in den Schweizerischen Turnverband STV eingegliedert. Internationale Vergleiche sind keine möglich, die Korbballregeln unterscheiden sich von Land zu Land. Das Spiel steht zwar jenseits der kommerzialisierten Sportwelt und ihrer Öffentlichkeit, ist aber fester Bestandteil der Schweizer Sport- und Turntradition. Es wird weitgehend von den Landvereinen getragen. Der TVLB stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, andere starke Mannschaften der letzten Jahre kamen aus Madiswil, Erschwil, Kreuzlingen oder Hindelbank. Korbball galt anfänglich als für Mädchen besonders geeignetes Spiel, heute betreiben es Frauen, Männer und Kinder, insgesamt etwa 5000, die allerdings alle aus der Deutschschweiz kommen. Die Nationalliga A Herren besteht aus zwölf Mannschaften. Im Winter wird in der Halle der Cup ausgespielt. Bloss unregelmässig, im Abstand von einigen Jahren, findet das prestigeträchtige Turnier am Eidgenössischen Turnfest statt.