Antiglobalisierung: Wach auf, Norden!

Nr. 28 –

Vor zehn Jahren fanden aus Anlass des WTO-Treffens in Genf die ersten wirklich globalisierten Proteste statt. Die Geschichte einer vergessenen Premiere.


Die Schweiz im Frühling 1998: Die Fusion der Schweizerischen Bankgesellschaft mit dem Schweizerischen Bankverein steht kurz bevor. In Zürich öffnet das Kino Riffraff, das erste Kino, das die Bar ganz in den Mittelpunkt stellt. Die grosse, alte linke Buchhandlung Pinkus dagegen muss zumachen. Die Liberalisierung im Gastgewerbe lässt aus ehemaligen Punks KleinunternehmerInnen werden.

Die neoliberale Euphorie steckt auch viele an, die von ihr ganz und gar nicht profitieren werden. Die Arbeitslosigkeit ist für Schweizer Gewohnheiten hoch. Die Übrigen layouten und designen bis zum Zusammenbruch. Das Büro wird zum Fluchtort, denn die Freizeit ist noch anstrengender. Das Internet fasziniert, schafft neue Jobs und frisst viel Zeit. Politisches ist out, unterbrochen von heftigen Ausbrüchen, zum Beispiel am 1. Mai 1996. Die meisten sozialen Bewegungen haben das Jahrzehnt nicht überlebt; nur ein paar Autonome kämpfen ausdauernd gegen die Ausschaffung des chilenischen Flüchtlings Patricio Ortiz.

«Welt im kalten Rausch», diagnostiziert WOZ-Redaktor Lothar Baier im Winter 1997/98. Eine «Atmosphäre der Irrealität und Unwahrheit» breite sich aus. «Alle Mittel scheinen recht, wenn es darum geht, die Geister des Öffentlichen, Gesellschaftlichen und Kollektiven restlos auszutreiben (...) - und seien es auch die Mittel, deren sich die totalitären Systeme bedienten.» Den Soundtrack zur Zeit liefern zum Beispiel Radiohead aus England - wo der neoliberale Umbau am weitesten fortgeschritten ist - mit der Platte «OK Computer» (1997). Der Sänger verkörpert eine Figur, die zwischen euphorischem Grössenwahn und totaler Erschöpfung hin- und hertaumelt. «No alarms and no surprises please.» Auch die Goldenen Zitronen aus Hamburg bringen den Zeitgeist auf den Punkt: «Alles ist, wie es ist, weil es so ist!»

Wütende Bauern, wilde Tänze

Doch dann bricht im Mai 1998 in Genf das Chaos aus. Tausende besetzen die Plaine de Plainpalais mitten in der Stadt und stellen ein Zeltlager auf, tanzen stundenlang auf dem Bahnhofplatz, blockieren in der ganzen Stadt den Verkehr, kippen blutige Schlachtabfälle vor den Sitz der Waffenfirma Lockheed, verkleben Bankomaten, verbreiten kritische Infos über H&M und die Herkunft importierter Lebensmittel. Anlass des Aufruhrs ist das Ministertreffen der 1995 gegründeten Welthandelsorganisation WTO.

Die Medien berichten vor allem über die Sachbeschädigungen. Der umgekippte Mercedes mit Diplomatennummernschild gibt tatsächlich ein schönes Bild ab. Aber es lenkt eher ab vom Ausserordentlichen, das gerade passiert: Der Aufruhr ist global. Im indischen Hyderabad gehen Anfang Mai Hunderttausende auf die Strasse, wenig später protestieren in Manila 10000 philippinische FischerInnen, und in Brasilien beteiligen sich Zehntausende an einem Sternmarsch in die Hauptstadt. Die britischen AutogegnerInnen von Reclaim the Streets rufen zur weltweiten Strassenparty am 16. Mai auf, dem Tag der grossen Demonstration in Genf, und Menschen in mehr als dreissig Städten rund um die Welt machen mit. Im Süden sind die Forderungen sehr konkret: Die indischen AktivistInnen fordern den Austritt ihres Landes aus der WTO, denn immer mehr Bauern, verschuldet und dem Weltmarkt ausgeliefert, bringen sich um. Auch die DemonstrantInnen auf den Philippinen lehnen die WTO ab und verlangen eine Politik der Selbstversorgung statt Lebensmittelexporte.

«Es war definitiv das erste grosse Ereignis der Bewegung», sagt der Genfer Aktivist Olivier de Marcellus. «Die erste wirklich globale Sache, mit etwa siebzig Aktionen auf der ganzen Welt. Nicht nur riesige Demos: Ich erinnere mich, dass fünfzehn Leute in den Bergen Kaliforniens die Abholzung einer grossen Waldfläche blockierten und das mit der WTO in Verbindung brachten - ein absurdes Unternehmen für sich allein, aber als Teil des globalen Aktionstages ergab es Sinn.» Doch den meisten Medien entgeht völlig, wie global das Ganze ist. De Marcellus: «Unsere Medienstrategie funktionierte überhaupt nicht. Dafür war der Aktionstag ein durchschlagender Erfolg für die Vernetzung: In Städten wie Seattle, Prag, Montreal oder Sydney wurde der Grundstein für die späteren Grossproteste gelegt. Damals im Mai 1998 lernten sich die Leute kennen.»

Chiapas sei Dank

Quasi im Geheimen hat etwas begonnen, das erst eineinhalb Jahre später in Seattle von der Welt wirklich wahrgenommen werden wird. Aber natürlich kommt das nicht aus dem Nichts. Die postmoderne Entpolitisierung, die die Städte des Nordens in den neunziger Jahren erfasst hat, können sich die Bewegungen im globalen Süden gar nicht leisten. Am 1. Januar 1994 hat in Chiapas, Südmexiko, eine bunte Truppe in Skimützen einen Aufstand angefangen. Ihre Sprache unterscheidet sich deutlich von der holzigen Rhetorik vieler früherer linker Befreiungsbewegungen. Und auch die Mittel: Schnell machen die ZapatistInnen klar, dass sie nicht auf militärische Auseinandersetzungen aus sind, sondern auf eine basisdemokratische Organisierung - auch wenn sie sich, wenn nötig, durchaus verteidigen. Der zapatistische Aufstand hilft vielen Bewegungslinken im Norden über die schlimmste Durststrecke hinweg.

«Chiapas war wichtig, dieser neue Internationalismus», sagt der langjährige Berner Reitschulaktivist David Böhner. «Anfang der neunziger Jahre, als es die Solidaritätsbewegungen der Achtziger nicht mehr gab. Die Reitschule war zu dieser Zeit recht isoliert, wir hatten wenig Kontakt nach aussen.»

Die Aktivitäten im Zusammenhang mit Chiapas werden zur Basis für die neue Bewegung im Norden. Im Sommer 1997 findet in Spanien ein von den ZapatistInnen inspiriertes «intergalaktisches Treffen» statt. «Dort begannen sich die Gruppen europaweit zu koordinieren», sagt Olivier de Marcellus. «Wir hörten zum Beispiel zum ersten Mal von Reclaim the Streets. Vorher war alles so national.» Yvonne Zimmermann aus Bern erzählt, wie ein spanischer Aktivist die SchweizerInnen aufforderte, sich gegen die Welthandelsorganisation (WTO) zu engagieren, die ihren Sitz in Genf hat. «Und es war völlig klar und einleuchtend: Genau, das müssen wir tun.»

Reformieren? Abschaffen!

Der nächste Schritt ist die globale Vernetzung von Organisationen. Im Februar 1998 reisen über 300 AktivistInnen nach Genf - indische Staudammgegnerinnen, brasilianische Landbesetzer, Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, Maorifrauen, kanadische Pöstler, englische Hausbesetzer. Sie debattieren, demonstrieren und gründen Peoples Global Action (PGA). Ihr oberstes Prinzip: «PGA ist ein Koordinationsinstrument, keine Organisation.» Das PGA-Grundsatzpapier ruft zu direkter Aktion auf und lehnt Lobbyarbeit ab. Olivier de Marcellus war dabei: «Es war unglaublich ... Eine gegenseitige Befruchtung, die Kontakte vervielfachten sich, neue Ideen und Aktionsformen wurden diskutiert. Ein Reclaim-the-Streets-Aktivist hatte die Theorie, dass das Internet als globales Hirn funktionieren könnte, mithilfe dessen die Bewegung global aktiv werden könne. Und so funktionierte es wirklich.»

Viele, auch viele Linke, kritisieren die Forderung nach der Abschaffung der WTO. Es brauche doch ein Instrument, um den Welthandel zu regeln, lieber ein schlechtes als gar keines, argumentieren sie. Ja, wir brauchen ein Instrument, aber zuerst muss das bestehende weg, sagt hingegen die PGA. Und hat in diesem Moment vollkommen Recht: Eine neue Bewegung beginnt man nicht mit einem Reformvorschlag. Fünf Jahre und viele Proteste später steht es im deutschen Theoriebuch «radikal global»: «Entscheidend ist, dass die Forderung ‹Abschaffen› weniger leicht integrierbar ist als die Forderung ‹Reformieren›. Sie besitzt jenen utopischen Überschuss und jenes Irritationspotenzial, das nötig ist, um Alternativen überhaupt erst wieder denkbar zu machen.»

In der Schweiz beschränkt sich die Bewegung zu dieser Zeit grösstenteils auf autonome Kreise. Doch diese sind äusserst aktiv. Die Anti-WTO-Gruppen in den verschiedenen Städten, die für die Vorbereitung von Genf entstanden sind, bleiben in Kontakt. Anna Cadonau (Name geändert), damals bei der Anti-WTO-Gruppe Zürich: «Zum ersten Mal seit Längerem wurden Wirtschaftsthemen intensiv diskutiert. Ich merkte, dass man nicht Ökonomie studiert haben muss, um sich damit zu beschäftigen. Und dass es noch andere Kritiken gibt als die klassisch marxistische. Feministische Ökonomiekritik war sehr wichtig, Texte von Mascha Madörin und anderen. Wir haben uns das Thema angeeignet.»

Sandra Ryf von der Anti-WTO-Gruppe Bern erlebte es ähnlich: «Inhaltlich hat sich etwas geöffnet. Der internationalistische Blick war vielen ein Bedürfnis, die lokal nicht mehr so recht wussten, um was sie sich eigentlich drehen. Es war klar: Die WTO betrifft uns, weil viele Konzerne hier ihren Sitz haben. Und in Genf lernten wir Leute kennen aus der halben Welt, die sich dagegen wehren.»

Indien weckt Europa

Sehr umtriebig in diesen Jahren sind die indischen BäuerInnen. Die meisten gehören zur KRRS, der gut organisierten BäuerInnenbewegung des Bundesstaates Karnataka. Von Genf nach Hause zurückgekehrt, starten sie eine grosse Kampagne gegen den Agromulti Monsanto und zünden Felder mit Gentech-Baumwolle an. Dann kommen sie wieder nach Europa - diesmal für längere Zeit. Im Mai und Juni 1999 reisen 450 indische und ein paar Dutzend lateinamerikanische AktivistInnen als «Interkontinentale Karawane für Solidarität und Widerstand» durch Europa. Sie besuchen die britische Niederlassung des US-Agromultis Cargill, um auszurichten, dass Indien keine Gentechnik brauche. In Südfrankreich zerstören sie zusammen mit dem Bauernaktivisten José Bové ein Gentech-Gewächshaus. Und sie kommen auch nach Bern. An einem Sternmarsch auf den Bundesplatz werden schweizerische und globale Themen verknüpft: Sozialabbau, Mutterschaftsversicherung, Landwirtschaft, Schuldenstreichung, Bekleidungsindustrie ... Die InderInnen wohnen in diesen Tagen bei Schweizer BiobäuerInnen.

Sandra Ryf erinnert sich: «Es entstand eine sehr breite Vernetzung. Zu Bauern, aber auch zu Hilfswerken und vielen anderen Gruppen. Hier lernten wir die Leute kennen, mit denen wir später in der Anti-Wef-Mobilisierung zusammenarbeiteten. Anfangs waren die anderen Beteiligten noch misstrauisch gegenüber diesen Autonomen aus der Reitschule. Aber durch die gemeinsame praktische Arbeit entstand eine Vertrauensbasis. Sie merkten, dass es uns wirklich um etwas geht.»

Noch stehen der Massenbewegung im Süden relativ kleine Gruppen im Norden gegenüber. «Die Bevölkerung von Europa befindet sich noch im Tiefschlaf», meint Professor M. D. Nanjundaswamy, der Präsident der KRRS, vor der Interkontinentalen Karawane. «Wir werden sie aufwecken.»

Wenig später gelingt das auch.

In der nächsten WOZ (Nr. 29/2008 ).: Zehn Jahre später: Was ist gewonnen? Was verloren? Wie geht es weiter?

Buko (Hrsg.): «Radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke». Assoziation A. Berlin 2003 (vergriffen).