Unsoziale Sozialpolitik: Die Lebenslügen der «Reformer»

Nr. 7 –

Die 6. Revision der Invalidenversicherung verkaufen Bund, bürgerliche Parteien und die Wirtschaft als Reform. Tatsächlich schieben sie die Probleme bloss an die Kantone, Gemeinden und RentnerInnen weiter. Über die bröckelnde Solidarität und die Lebenslügen der «ReformerInnen».


Lange schauten alle weg und entsorgten im Laufe der letzten Jahrzehnte jene Menschen in die Invalidenversicherung IV, die dem zunehmenden Druck in der Arbeitswelt psychisch nicht mehr standhielten. Die Wirtschaft entledigte sich so ihrer Verantwortung, Bund und Parteien machten bereitwillig mit. Eine Analyse im Auftrag des Bundesamtes für Versicherung aus dem Jahr 2009 zeigt, dass diese Verantwortungslosigkeit System hatte: Zwischen 1993 und 2006 verzehnfachte sich die Zahl jener IV-RentnerInnen, die zur Gruppe der Menschen mit sogenannten «psychogenen oder milieu- reaktiven Störungen» zählen (IV-Code 646), von etwa 5000 auf mittlerweile rund 50 000. Von ihnen ist heute hauptsächlich die Rede, wenn es um die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt geht.

30 von 1200

Niklas Baer, Leiter der Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation der Kantonalen psychiatrischen Dienste Basel-Landschaft, untersuchte mit einem Team 1200 Dossiers aus dieser Gruppe. Ein interessanter Befund dieser von den Medien kaum zur Kenntnis genommenen Studie: Zwar wurden die Betroffenen medizinisch umfassend abgeklärt, aber die IV setzte die von den GutachterInnen empfohlenen Massnahmen zur beruflichen Eingliederung kaum um, nämlich bloss in dreizehn Prozent der Fälle statt in rund vierzig Prozent. Und auch der Eingliederungserfolg war klein, nur ein Fünftel der Leute fand dauerhaft eine Stelle – das wären dann 30 von 1200.

All diese RentnerInnen gehörten schon vor ihrer Erkrankung zu den gesellschaftlichen VerlierInnen: Nur ein kleiner Teil verfügt über eine längere Schulbildung, vierzig Prozent haben keine Berufsausbildung, und der jährliche Durchschnittslohn vor der Rente betrug rund 20 000 Franken. Vierzig Prozent sind in einer psychiatrisch vorbelas-teten Familie aufgewachsen, etwa die Hälfte litt schon als Kind oder im Jugendalter unter psychischen Störungen.

Niklas Baer sagt, die 5. IV-Revision mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente» sei richtig und überfällig gewesen. Doch bei der Umsetzung sei Skepsis angebracht. Das liege nicht in erster Linie am schlechten Willen von ArbeitgeberInnen und RentnerInnen. Die RentnerInnen möchten zwar in der Regel wieder einsteigen, trauen es sich aber oft nicht mehr zu. ArbeitgeberInnen seien mit der Eingliederung psychisch kranker Menschen meist überfordert. Ein Elektroingenieur im Rollstuhl findet wohl viel leichter eine Stelle. «Wir haben festgestellt, dass Arbeitgeber bereit sind, körperlich Behinderte zu behalten oder ihnen eine neue Chance zu geben. Bei psychischen Leiden sinkt diese Bereitschaft drastisch.» Daher müsse man psychisch Behinderten einen kompetenten Coach zur Seite stellen, der vor allem auch die Arbeitgeber berät, die einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen wollen. Ohne diese Investitionen und ohne verbindliche Zusagen von Firmen funktioniere die Wiedereingliederung kaum.

Absolut unrealistische Ziele

Doch der Spardruck auf die Sozialversicherungen und auf die Sozialhilfe ist so gross, dass beide für langfristig angelegte Lösungen ohnehin kein Geld locker machen und sich neue Fälle gegenseitig zuschieben. So erlebt es SP-Nationalrätin Silvia Schenker auch in ihrer Praxis als Sozialarbeiterin an der Psychiatrischen Klinik in der Stadt Basel. «In diesem Zuständigkeitsgerangel verstreichen oft Wochen und Monate. Auf der Strecke bleiben die Betroffenen, deren gesundheitliche Situation sich in dieser Zeit verschlechtert, was die Integration zusätzlich erschwert», sagt sie. Die Wiedereingliederungsziele der 6. IV-Revision in den ersten Arbeitsmarkt hält die Politikerin für «absolut unrealistisch».

17 000 RentnerInnen sollen ihre «Restarbeitskraft» wieder in den ersten Arbeitsmarkt einbringen und so die IV entlasten. Eine Illusion, sagen VertreterInnen der Behindertenverbände. «Mir kommt vor, man hat zuerst geschaut, wie viel man sparen will, und dann hat man die Zahl der RentnerInnen bestimmt, die im ersten Arbeitsmarkt wieder Fuss fassen sollen», sagt Urs Dettling. Es sei schon sehr schwierig, behinderte Menschen im Arbeitsprozess zu halten. Der stellvertretende Direktor der Pro Infirmis stört sich vor allem daran, dass ab 2018 zwei Drittel des IV-Schuldenbergs von fünfzehn Milliarden durch zum Teil massive Rentenkürzungen allein auf dem Buckel der RentnerInnen abgetragen werden sollen. So würde etwa IV-BezügerInnen mit hohem Invaliditätsgrad und einer schweren Behinderung die Rente von heute rund 1500 Franken um mehr als ein Viertel auf rund 1100 Franken gekürzt. Weder das Bundesamt für Sozialversicherungen noch die IV-Stellen oder der Bundesrat hätten bisher aufgezeigt, wie Menschen mit einer schweren Behinderung ihre «Resterwerbsfähigkeit» verbessern können.

Markante Korrekturen gefordert

Pro Infirmis hatte im vergangenen Dezember 35 grosse Schweizer Firmen angefragt, ob sie bereit sind, Behinderte anzustellen. «Nur wenige sind dazu bereit», sagt Dettling. «Die massive Schuldenwirtschaft der Vergangenheit ist in erster Linie von Bundesrat und Parlament zu verantworten, nicht von den Menschen mit einer Behinderung.» Die Behindertenorganisationen plädieren dafür, dass ein Teil der Sanierung auch über Beitragserhöhungen bei den Lohnabzügen finanziert werden soll. So wie das auch bei der Sanierung der Arbeitslosenkasse der Fall sei. Behindertenorganisationen wie Procap fordern von Bundesrat und Parlament «markante Korrekturen». Andernfalls werde man das Referendum gegen die 6. IV-Revision ergreifen. Procap-Vertreter Martin Boltshauser geht davon aus, dass die grosse Mehrheit der Behindertenorganisationen und -verbände das Referendum mittragen würde. Auch Gewerkschaften, SP und Grüne wären wohl mit im Boot.

Referendum angedroht

Bundesrat Didier Burkhalter hat nach den Von-Wattenwyl-Gesprächen erklärt, er wolle an den Sparzielen festhalten, nachdem vorher eine Meldung aus dem Bundesamt für Sozialversicherungen für Verwirrung gesorgt hatte. Aufgrund der Referendumsdrohung war dort geprüft worden, ob mit einer anderen Ausgestaltung des stufenlosen Rentensystems jährlich bloss 200 statt 400 Millionen Franken gespart werden könnten. Die Referendumsfrage wird wohl erst Anfang 2012 geklärt, wenn der zweite Teil der IV-Revision (6b) ins Parlament kommt.

Zünglein an der Waage im Block der Bürgerlichen spielt derzeit die CVP. Sie kritisiert die Kürzung der Kinderrenten. Die sind abhängig von der Höhe der ordentlichen Rente. Der zweite grosse Kritikpunkt: Der Zugang zur IV-Anlehre soll erschwert, Anlehren bloss dann noch bezahlt werden, wenn die Aussicht auf eine spätere Integration im Arbeitsmarkt realistisch sei. Klar auf Sparkurs sind die SVP und die FDP. Die Freisinnigen brüsten sich gar damit, dass der FDP-Bundesratsfrischling Didier Burkhalter eine Trendwende eingeläutet habe, und schiessen gegen das «Störfeuer vor allem von links». Dabei existieren nicht einmal aussagekräftige Zahlen darüber, wie sich die 5. IV-Revision bislang ausgewirkt hat.

Schleichender Systemwechsel

Die vorgesehenen Rentenkürzungen werden neben den IV-RentnerInnen vor allem die Kantone und Gemeinden treffen. Sie werden mit Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe die Löcher stopfen müssen. Die Sozialhilfe wird zusätzlich unter Druck geraten, wenn ab dem 1. April wegen des revidierten Arbeitslosengesetzes auf einen Schlag rund 17 000 Arbeitslose ihren Anspruch auf Taggelder verlieren.

Die Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK), Kathrin Hilber, spricht von einem «schleichenden Systemwechsel» und einer bröckelnden Solidarität. Sie sagt: «Das Konzept der Sozialwerke beruht auf der Solidarität der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Sozialwerke sind über die Arbeit finanziert. Jetzt findet schleichend eine Verschiebung hin zum Staat, also zu den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern statt.» Dass sich die Wirtschaft zunehmend aus der Verantwortung nehme, sei stossend. Die SteuerzahlerInnen würden nun in den Gemeinden direkt zur Kasse gebeten. Das erhöhe den sozialen Druck auf die IV-RentnerInnen und die SozialhilfebezügerInnen und führe in der Tendenz zu mehr sozialen Spannungen. Die SODK kritisiert neben der Verschiebung der Kosten zulasten der Kantone und Gemeinden die mangelnde Koordination zwischen den Sozialversicherungen und der Sozialhilfe und fordert ein entsprechendes Rahmengesetz. Kathrin Hilber sieht hier ein «unbewirtschaftetes Potenzial».


Zurück in den Arbeitsmarkt : Schwyz als Vorreiter

Eingliederung vor Rente – dieser Grundsatz gilt seit Inkrafttreten der 5. IV-Revision im Jahr 2008. Doch bislang hat niemand nachgeprüft, ob diesem Grundsatz auch nachgelebt wird und, vor allem, ob er wirkt. Die Behindertenorganisation Procap kritisiert, dass die Mittel, die der IV für berufliche Wiedereingliederung zur Verfügung stehen, bei weitem nicht ausgeschöpft würden. Von Anfang an genau wissen wollte es Andreas Dummermuth, der Chef der IV-Stelle Schwyz. Seit 2008 erfasst die kantonale Stelle die Zahlen detailliert und publiziert diese seit 2008 in ihrem Eingliederungsbulletin. Mittlerweile ziehen andere IV-Stellen nach.

Schwyz ist ein kleiner Kanton mit 145 000 EinwohnerInnen. Entsprechend sind die Zahlen zu interpretieren. Vor allem die Zahlen zu den neu vermittelten Arbeitsplätzen für IV-RentnerInnen interessieren, also die eigentliche Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt. Im Jahr 2009 konnten sechzehn neue Arbeitsplätze mit befristetem Arbeitsvertrag vermittelt werden, dieses Jahr waren es fünfzehn. Neue Arbeitsplätze mit unbefristetem Arbeitsvertrag vermittelte die IV Schwyz in diesem Jahr 80, letztes Jahr betrug diese Zahl 52. Erfasst werden auch Zahlen zu Arbeitsplatzerhalt, Arbeitsvermittlung, Umschulung, erstmaliger beruflicher Ausbildung, Berufsberatung und anderen Beratungsgesprächen.