Nicole Ziegler über die Nützlichkeit von Ungehorsam: Schüler, Dachs und Waldmeister

Nr. 20 –

Ich stand im Turnzeug vor dem Schulhaus und schaute auf die Uhr. Zehn nach vier, die Schule war aus und alle meine Schüler weg. Bis auf einen. Der war zwar auch weg, aber er war nicht, wie es sich gehörte, nach der Schule nach Hause, sondern während des Orientierungslaufs in der letzten Lektion verloren gegangen.

Um zwanzig nach vier joggte ich los und machte mich auf die Suche. Ab und zu rief ich den Namen des verlorenen Schülers in die zugewachsenen Seitenwege und manchmal auch ins Dickicht hinein, obwohl ich vor der OL-Stunde allen eingeschärft hatte, auf keinen Fall von den Wegen abzugehen, weil im Frühjahr die Jungtiere aufgeschreckt werden könnten und das gar nicht gut sei und so weiter und so fort, und die Schüler machten Faxen und fanden mich mal wieder ziemlich überspannt, und ja klar, sie hätten es begriffen. Als ich in den Weg einbog, auf dem ich den letzten Posten platziert hatte, sah ich vor mir den verlorenen Schüler in leicht gebückter Haltung langsam vorwärtsgehen.

«He», rief ich scharf. Der Schüler fuhr herum. In der Hand hielt er einen dicken Knüppel. Seine Arme waren voller Kratzer, und auch sonst machte er einen etwas derangierten Eindruck. «Schiess los und sag bitte grad von Anfang an die Wahrheit, wir wollen ja beide rasch heim.» Er sei einem Dachs begegnet, erzählte er mir, der habe sich vor ihm aufgebaut und gefaucht und ganz gefährlich ausgesehen, und als er sich rückwärts aus der Affäre ziehen wollte, habe der Dachs sich auf ihn zubewegt, und zum Schutz habe er diesen Stock da genommen, den Dachs aber nicht gehauen, ganz sicher, nur ein bisschen mit dem Stock in der Luft geschwungen, sodass der Dachs ihn wenigstens habe laufen lassen, aber er höre es die ganze Zeit noch im Gebüsch rascheln, und drum sei er ganz langsam und mit dem Stock in der Hand den Weg entlanggegangen, um nicht plötzlich in die Falle des Dachses zu tappen.

«Was machte denn der Dachs mitten auf dem Weg, als du ihm begegnet bist, hä?» Er sei, er habe … Es war klar: Der Schüler hatte sich natürlich nicht an meine Anweisungen gehalten – soll die Ziegler doch schwatzen – und sich eine Abkürzung durch das Unterholz gesucht, wo er direkt vor einen Dachsbau mit Jungtieren getrampelt war, was der Dachsmama gar nicht gefallen hatte. «Gib mal den Stock her», sagte ich. An der Stockspitze hingen ein paar abgerissene Blumen, die der verlorene Schüler bei seinem Gefuchtel eingefangen haben musste. Ich roch an ihnen: Waldmeister. «Zeig mir, wo genau du warst, und dann hopphopp heim mit dir.» Als der Schüler um den nächsten Baum verschwunden war, drückte ich mich vorsichtig an der Stelle, die er mir gezeigt hatte, ins Gebüsch, ging ein paar Meter, pflückte ein Sträusschen Waldmeister und ging freudestrahlend zurück zum Schulhaus in den wohlverdienten Feierabend: «Morgen gibt es Waldmeisterparfait!»


Nicole Ziegler unterrichtet Orientierungslauf und andere spannende Sachen in Bern und Umgebung.

Rezept Waldmeisterparfait


6 Stängel Waldmeister: Blätter und Blüten (vor der Zubereitung kurz ins Tiefkühlfach legen, sie entfalten dann mehr Geschmack)





  • 100 g brauner Zucker

  • 5 Eigelb

  • 80 g Butter

  • 1/2 Zitrone unbehandelt

  • 3 dl Rahm

  • 1 dl Apfelsaft



  • Den kurz tiefgefrorenen Waldmeister mit dem Saft der halben Zitrone, dem Apfelsaft und 1/2 dl Wasser aufkochen, gut um die Hälfte einkochen lassen, pürieren und erkalten lassen. Zucker und Eigelb im Wasserbad (80 Grad) dickflüssig aufschlagen, weiche Butter flöckchenweise zugeben, weiter schlagen und aus dem Wasserbad nehmen. Den Waldmeister und die abgeriebene Zitronenschale zugeben. Nun die geschlagene Sahne unterheben, in eine Kastenform füllen (Parfait) und für gut zwanzig Stunden ins Tiefkühlfach stellen.