Geschichtsdebatte in Afghanistan: Die Mär von der nationalen Einheit

Nr. 17 –

Um das Land zu einen, verbannt die afghanische Regierung die jüngste Geschichte aus den Schulbüchern. Geschichtsklitterung im Sinne der Machthaber hat im asiatischen Staat eine lange Tradition.

Für sie endet die Geschichte Afghanistans neuerdings im Jahr 1973: Buben in einem Schulhaus in der Provinz Kunduz.

«Unsere jüngste Geschichte zerreisst uns. Wir haben deshalb einen Lehrplan geschaffen, der auf der älteren Geschichte beruht, die uns zusammenbringt, mit Personen, die universell als ‹gross› anerkannt werden.» So begründete Bildungsminister Faruk Wardak die Einführung neuer Geschichtsbücher an Afghanistans Gymnasien auf den Beginn des neuen Schuljahrs in diesem Frühling.

Wardak gab deshalb Lehrbücher in Auftrag, in denen die Geschichte des Landes 1973 endet. Nach vierzig Jahren innenpolitischer Stabilität putschte in jenem Jahr Prinz Muhammad Daud gegen den damaligen König Zaher Schah. Was darauf folgte, ist bekannt, auch den meisten AfghanInnen: Linksputsch 1978, Widerstand der von Pakistan und den USA unterstützten Mudschaheddin, sowjetischer Einmarsch 1979, Eskalation des Bürgerkriegs, Machtübernahme der Taliban 1996, nach dem 11. September 2001 erneute Intervention, diesmal durch den Westen. Über all dies verliert Wardaks Geschichtsschreibung für die Schule kein einziges Wort.

Die neuen Bücher werden aus einem speziellen US-Entwicklungshilfeprogramm finanziert. Washington hatte sich schon einmal um das afghanische Schulwesen verdient gemacht, als es in den achtziger Jahren Lehrbücher für SchulanfängerInnen in afghanischen Flüchtlingslagern druckte. «A für Allah, J für Jihad und K für Kalaschnikow» wurde darin buchstabiert, und eine Rechenaufgabe lautete: «Wenn Mudschaheddin einen Trupp von zwanzig ungläubigen Sowjets angreifen und vierzehn von ihnen töten, wie viele bleiben dann übrig?» Die Taliban hatten diese Bücher unverändert weiter verwendet.

Aus Krisen lernen

Doch Faruk Wardaks Schulbuchreform stösst auf Widerstand: «Nicht zum ersten Mal haben wir es mit gefälschter Geschichtsschreibung zu tun», hielt die Kabuler Zeitung «Mandegar» dagegen. «Wenn man die Weltgeschichte studiert, dann erfährt man, dass es in jedem Land Bürgerkriege gab, aber niemand hat das verborgen, um die nationale Einheit dieser Länder zu schützen.» Im Gegenteil: «Wenn sie über vier Dekaden Krise lesen, werden die Schüler lernen, wie unglücklich ein Land ist, das seine nationale Einheit verliert.» Und ein afghanischer Historiker kommentierte trocken, man solle Geschichte nicht nach dem «Cut and Paste»-Prinzip schreiben.

Wiederholt sind Lehrbücher in Afghanistan von gebildeten Leuten – Minister Wardak ist Ingenieur – nach mittelalterlichen Massstäben verhunzt worden. Schon seit zwei Jahren gibt es ein neues Lehrbuch für den Dari-Unterricht – Dari ist die afghanische Variante des Persischen. Eine afghanische Rezensentin besprach das Buch in der englischen Zeitung «The Guardian». Sie fand darin eine durch die männlichen Eliten definierte «pathetische Welt moralischer Überlegenheit» und eine «Geringschätzung von Realität, Geschmack und Struktur». Das Lehrbuch zeuge vom «literarischen Geschmack eines Dorfmullahs».

Allerdings ist auch die Zeitung «Mandegar» in ihrer Erwiderung auf Wardaks Geschichtszensur einseitig. Der Autor des Beitrags verklärt den antisowjetischen Widerstand als «goldene Periode», ohne zu erwähnen, dass die Widerständler das Land anschliessend in einen neuen Bürgerkrieg versinken liessen und damit die Machtübernahme durch die Taliban erst möglich machten.

Verhinderte Aufarbeitung

An solch eine jüngere historische Periode erinnerte im Februar eine kleine Schar DemonstrantInnen im zentralafghanischen Bamian, am neunzehnten Jahrestag des Massakers von Afschar: Im Jahr 1993 griffen vereinte Paschtunen- und Tadschiken-Milizen gegnerische Stellungen in einem von der Hazara-Minderheit bewohnten Kabuler Stadtteil an. 70 Menschen starben, 700 bis 750 sind bis heute verschwunden. Einer der politischen Verantwortlichen, der damalige Verteidigungsminister Ahmad Schah Massud, ist heute Nationalheld des Landes; sein Verbündeter, der frühere Theologieprofessor Abdul Rabb Sayyaf, ist einer der engsten Berater von Präsident Hamid Karzai; und Massuds damaliger Stellvertreter Qasem Fahim ist Karzais Erster Vizepräsident.

Karzais Regierung blockiert seit vielen Monaten die Veröffentlichung eines bereits vorliegenden Berichts der unabhängigen Menschenrechtskommission des Landes zu Vorfällen wie dem in Afschar. Sie wolle ihn zuerst «redigieren».

Manchmal geht die Kabuler Regierung allerdings ironisch mit der Geschichte um: An verdienstvolle AusländerInnen vergibt Karzai einen Orden, der nach Ghazi Mir Masdschedi Khan benannt ist – der Mann ist dafür bekannt, dass er in einem Krieg im 19. Jahrhundert viele Engländer getötet hat. Das Wort für «Engländer» in Afghanistans Hauptsprachen lautet «Angrez», umgangssprachlich ein Synonym für «Ausländer».

Der Autor ist Träger des Masdschedi-Ordens.