Kultour

Nr. 36 –

Ausstellungen

Bieler Fototage

Die diesjährigen Bieler Fototage kreisen um das Wort «Wendepunkte». Dabei haben die OrganisatorInnen politische, soziale, kulturelle und persönliche Wendepunkte im Fokus, und bei ihrer Auswahl haben sie besonders an Momente des Wandels in Krisenzeiten gedacht.
Der griechische Fotograf Dimitris Michalakis etwa hat für seinen Zyklus den mehrdeutigen Titel «Burnout» gewählt. Seit 2010 beschäftigt er sich intensiv mit der Krise in Griechenland, sieht das ganze Land in einem Zustand «totaler wirtschaftlicher und emotionaler Erschöpfung», der zunehmend auch die Mittelschicht unter Druck setzt. Seine Langzeitstudie zeigt Bilder eines gesellschaftlichen Zersetzungsprozesses, die wie beiläufig aufgenommen wirken. Dabei subsumiert er auch brennende Autoreifen und Barrikaden in den Strassen von Athen unter «Burnout».
17. Bieler Fototage in: Biel Photoforum PasquArt und andere Orte, Fr, 6. September 2013, 18 Uhr, Eröffnung. www.jouph.ch

Fredi Bosshard

Urbanes Denken

In Winterthur finden sich diesen Herbst unter dem Motto «Kunst & Wissenschaft» alle wichtigen Museen mit neuen Präsentationen vereint. So zeigt das Fotomuseum eine Retrospektive mit Fotografien von Emil Schulthess. Im Kunstmuseum sind bildnerische Arbeiten von Henri Michaux zu sehen, und im Gewerbemuseum dreht sich alles um Tattoos.
An der Zürcher ETH beschäftigt sich das wissenschaftlich-künstlerische Kollektiv U-TT (Urban Think Tank) mit der informellen Selbstorganisation von Gemeinschaften. Es fragt nach den Kräften, die eine Stadt formen, und präsentiert seine Antworten mithilfe von Fotografie und Video in den Ausstellungsräumen der Winterthurer Coalmine. Im Zentrum steht ein ikonenhaftes Bild des «Torre David» in Caracas (Venezuela). 750 Familien besetzten 2007 den 45-geschossigen Turm und schufen ihre eigenen Organisationsformen. Dabei ist ein einzigartiger Mikrokosmos entstanden: «Gran Horizonte». Das Beispiel des «Torre David» wird mit Materialien aus dem visuellen Archiv der Coalmine erweitert.
«Gran Horizonte» by U-TT in: Winterthur Coalmine Fotografie, Fr, 6. September 2013, 21.30 Uhr, Vernissage. Mo–Fr, 8–19 Uhr; Sa, 11–16 Uhr. 
Bis 16. November 2013. Die Vernissagen im Rahmen von «Kunst & Wissenschaft» beginnen um 17 Uhr. 
www.coalmine.ch, www.kulturherbst.ch

Fredi Bosshard

Heimgesucht

Ja, natürlich, neben den überragenden Weissen hat er noch andere, beinahe so hochstehende Rassen anerkannt, etwa die «stolzen Indianer». Aber mit den «unterwürfigen, kriecherischen, nachahmerischen Negern», nein, mit denen konnte er es gar nicht. Der bedeutende Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873) ist längst als Rassist entlarvt worden, und der Autor Hans Fässler hat ausführlich dessen Einfluss auf spätere eugenische Ansichten belegt. «Mein Rassismus ist ein Humanismus»: Unter diesem Titel skizziert eine Vorlesungsperformance in Frauenfeld das inhumane Menschenbild von Agassiz, mit einem Text von Hans Barth, vorgetragen von Thomas Götz.
Anlass der Aufführung ist die Ausstellung «Louis Agassiz (1807–2013) – eine Heimsuchung» im Neuen Shed im Eisenwerk Frauenfeld. Während des Sommers hat es als Residenz für die haitianisch-schweizerische Künstlerin Sasha Huber gedient. Huber hat sich seit etlichen Jahren vielfältig mit Agassiz auseinandergesetzt. Jetzt präsentiert sie Fotografien, auf Holz befestigte Bilder und eine raumgreifende, begehbare Installation. Trotz aller Aufklärung und der Versuche zu einer Umbenennung aber thront das Agassizhorn noch immer in den Berner Alpen.
«Louis Agassiz (1807–2013) – eine Heimsuchung» in: Frauenfeld, Neuer Shed. Vernissage 
Sa, 7. September 2013, 18 Uhr, Performance 19 Uhr. Ausstellung jeweils Mi, 16–18 Uhr, Fr, 18–21 Uhr, Sa, 16–19 Uhr. Shed-Gespräch Do, 19. September 2013, 20 Uhr. Hans Fässler spricht mit Sasha Huber. 
www.neuershed.ch

Stefan Howald

Film

Berliner Schule

«Das sich überschlagende Auto kommt mir weniger interessant vor als das Auto, das in der Wiese liegt. Der Tatort, wo bereits etwas passiert ist, das ist der Schauplatz, der mich interessiert. Das ist für mich ein Kino-Ort», sagte der Regisseur Christian Petzold vor einem Jahr im Gespräch mit der WOZ. Petzold gehört zu den renommiertesten deutschen Filmschaffenden und hat in den neunziger Jahren mit seinen Filmen die deutsche Filmlandschaft nachhaltig verändert und geprägt. Gerade weil er in seinen Filmen nicht auf das überschlagende Auto fokussiert, sondern auf den Zustand nach der Aktion. Es passiert nicht viel in Petzolds Filmen. Und trotzdem besitzen sie eine Spannung und eine Intensität, denen man sich nicht entziehen kann.
Im Rückblick wird die Kinoerneuerung, an der neben Petzold auch Angela Schanelec und Thomas Arslan beteiligt waren, «Berliner Schule» genannt, da sie alle drei AbsolventInnen der Berliner Filmhochschule DFFB sind. Zu ihnen gesellten sich im Lauf der Zeit jüngere RegisseurInnen wie Valeska Grisebach, Ulrich Köhler, Henner Winckler, Benjamin Heisenberg, Maren Ade und Christoph Hochhäusler. Gemeinsam ist ihren Werken die Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen und Unspektakulären, ihre Konzentration auf die Form und das Bild sowie ihre narrative Offenheit.
Das Kino Xenix widmet der Berliner Schule im September eine Filmreihe und zeigt neben «Yella» (2007), «Barbara» (2012) und «Gespenster» (2005) von Petzold auch «Alle anderen» (2009) von Maren Ade, «Madonnen» (2007) von Maria Speth oder «Der Räuber» (2010) von Benjamin Heisenberg. An einem Podiumsgespräch mit Xenix-Leiter Reto Bühler geben Angela Schanelec und Benjamin Heisenberg Auskunft über ihre Filme, ihre Arbeitsweise und den Austausch innerhalb der Berliner Schule.
Filme der Berliner Schule in: Zürich Kino 
Xenix, im September. Podiumsgespräch 
mit Angela Schanelec und Benjamin Heisenberg 
am Do, 12. September 2013, 19.15 Uhr. www.xenix.ch

Silvia Süess

Liveradio

Zehn Jahre Kunstradio

Seit geschlagenen zehn Jahren ist auf Radio LoRa in Zürich jeden Sonntag um 21 Uhr die Sendung «Kunstradio So21» zu hören. Eine ganze Reihe von Künstlerinnen, Literaten, Theaterleuten und MusikerInnen nutzen das Sendegefäss als Feld für die abenteuerlichsten akustischen Experimente. Nun gibt es die Gelegenheit, einige von ihnen live zu erleben. Sinnvollerweise präsentieren sie ihr Können in den Räumlichkeiten der Perla-Mode, diesem einzigartigen Kunstlabor an der Langstrasse, dessen Tage leider gezählt sind.
So bieten die Sängerin Anna Trauffer und der Gitarrist Philipp Schaufelberger «21 Etüden zu poetischen Windungen aus der Finanzwelt». Der Schlagzeuger Simon Berz (vgl. «Manchmal tritt sie als Baguette Bardot auf» ) kombiniert Feedbackdrums mit Do-it-yourself-Elektronik, und der Perkussionist Sebastian Hofmann erweitert mit seinen Cymbals den klanglichen Horizont. Der vergnügliche Abend ist natürlich auch auf Radio LoRa – ausnahmsweise ab 20 Uhr – live und bis in die Morgenstunden zu verfolgen.
«Kunstradio So21» in: Zürich Perla-Mode, 
So, 8. September 2013, 20 Uhr.

Fredi Bosshard

Theater

Kunstseiden

Irmgard Keuns «Kunstseidenes Mädchen» war 1932 ein Sensationserfolg. Mit diesem Buch und dem ein Jahr zuvor erschienenen Roman «Gilgi – eine von uns» reihte sich Keun (1905–1982) in die Bewegung der Neuen Sachlichkeit ein. Ihre Werke zeigten die jungen Frauen der Weimarer Republik zwischen Überforderung und Selbstbewusstsein. Was Siegfried Kracauer oder Walter Benjamin in ihren Texten zu den neuen Angestellten in der Dienstleistungsgesellschaft analytisch aufspürten, beschrieb Keun ganz nah an der Realität in ihren Romanen. Mit Berliner Witz und scharfer Beobachtungsgabe verdeutlichte sie auch, wie die Weltwirtschaftskrise die Frauen im Unterhaltungsgeschäft ins halbseidene Milieu abdrängte.
Die deutsche Schauspielerin Ursula Maria Schmitz hat den Roman auf die Bühne gebracht. In einem Rückblick aus den sechziger Jahren werden die dreissiger Jahre vergegenwärtigt, wobei sich Schmitz immer wieder auch als Chansonnière betätigt. Mit dem Einfrauenstück ist sie seit 2012 auf Tournee. Jetzt ist sie in Zürich angelangt, rechtzeitig zur 50. Aufführung. Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre und heute: Ähnlichkeiten und Unterschiede sind beabsichtigt.
«Das kunstseidene Mädchen» in: Zürich 
Theater Stok, Do–Sa, 12.–14. September 2013, 
20 Uhr, So, 15. September 2013, 18 Uhr. 
www.ursula-maria-schmitz.com

Stefan Howald