Medientagebuch: Nicht normal!

Nr. 38 –

Stefan Keller über einen gescheiterten Gesamtarbeitsvertrag.

Der Kongress der Zeitungsverleger hat am 
12. September in Interlaken einen Kollektivvertrag für JournalistInnen abgelehnt. Die Geschäftsstellen des Verlegerverbands Schweizer Medien (VSM) und des Berufsverbands Impressum hatten ihn gemeinsam formuliert. Dem Vertragsentwurf gingen geheime Gespräche zwischen Verbandsfunktionären ohne Einbezug der Mitglieder voraus. Syndicom als grösste Mediengewerkschaft der Schweiz – aber als minoritärer Partner unter den JournalistInnenverbänden – blieb von diesen Gesprächen ausgeschlossen. Kurz vor dem Debakel legte Impressum seiner Schwesterorganisation Syndicom den fertigen Vertragstext vor und drohte, ihn notfalls im Alleingang zu unterzeichnen.

Nun haben die Verleger die «Branchenvereinbarung über Mindestbedingungen von Medienschaffenden für die Deutschschweiz und das Tessin» gerade so behandelt, wie sie zustande gekommen ist: als Hinterzimmervertrag. Sie haben den Inhalt nicht einmal gelesen, bevor sie ihn verwarfen. Den Verlegern war es egal, dass der Text weitgehend dem Status quo und den Empfehlungen ihres Verbands entspricht und dass er keinerlei Lohnvereinbarungen enthält. Der Geschäftsführer des VSM, der mit Impressum verhandelt hatte, wurde in einer bizarren Sitzung, wie die NZZ schrieb, öffentlich desavouiert. Sein freudig angereister Verhandlungspartner von Impressum soll dann den Saal türeschlagend verlassen haben.

Wir GewerkschafterInnen von Syndicom hatten grosse Mühe mit der vorgelegten «Branchenvereinbarung», und es ist unwahrscheinlich, dass unsere Mitglieder einen Kollektivvertrag ohne Mindestlöhne akzeptieren würden. Positiv an dem nun zur Groteske gewordenen Vorgang erschien uns allerdings, dass nach Jahren der Blockade überhaupt wieder einmal verhandelt wurde. Denn es ist ja nicht normal, dass die JournalistInnen der deutschen und italienischen Schweiz seit 2004 keinen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mehr haben, dass die Reallöhne der Festangestellten seither sinken und die Honorare für Freischaffende ins Bodenlose fallen. In den meisten Schweizer Wirtschaftsbranchen erlebt der GAV derzeit eine Renaissance – auf Unternehmerseite dient er als Argument gegen gesetzlich verordnete Mindestlöhne. Auch in der Deutschschweizer Presse gab es von 1918 an fast neunzig Jahre lang einen funktionierenden Kollektivvertrag, der alle paar Jahre verbessert wurde. Jene Verleger, die in Interlaken auf die Sozialpartnerschaft spuckten, sind dank der Sozialpartnerschaft reich geworden.

Der einst stolze Zeitungsverlegerverband der Deutschschweiz ist heute eine schrumpfende Gruppe misstrauischer Konkurrenten. Seine Mitglieder missgönnen einander die Butter auf dem Brot, die Kleinen hassen die Grossen, die Grossen schlucken die Kleinen oder treiben sie in den Ruin. Alle denken nur an den eigenen Vorteil, niemand wünscht einen gemeinsamen Fortschritt. Was den Verband noch zusammenhält, sind sein autokratischer Präsident, ein jährlicher Luxuskongress mit bundesrätlicher Rede und ab und zu ein äusserer «Feind», gegen den man symbolisch mit den Waffen rasselt – sei es nun Google oder die SRG. Der Berufsverband Impressum hat versucht, bei den Verlegern braver zu erscheinen als die Gewerkschaft Syndicom. Das ist gescheitert, und nun hoffen wir, dass sich Impressum in den bevorstehenden Verhandlungen um den – letztes Jahr gekündigten – JournalistInnen-GAV in der französischen Schweiz etwas klüger verhält.

WOZ-Redaktor Stefan Keller ist Präsident der Journalistinnen und Journalisten bei Syndicom.