Durch den Monat mit Rosemarie und René Triponez (Teil 3): Ist Biel eine tolerante Stadt?

Nr. 38 –

Wie sich der gesellschaftliche Wandel im Bieler «Atomic» spiegelt. Was der Schriftsteller Jörg Steiner an der Bar vielleicht noch zu sagen hätte. Und warum das Lokal von René und Rosemarie Triponez für viele die letzte Wasserstation ist – und auch die erste.

Hervé Treu (rechts): «‹L’Atomic›, c’est en quelque sorte aussi un petit buffet de gare.» – Rosemarie Triponez: «Drum auch immer diese Bagage.» – René Triponez: «The last waterhole.»

Apéro im «Atomic». Hinter der Bar: René und Rosemarie Triponez, an diesem Nachmittag unterstützt von Uschi Wils. An einem Tischchen auf der Bank: die Stammgäste Hervé Treu, pensionierter Biologielehrer und seit diesem Jahr SP-Vertreter im Bieler Stadtparlament, und der Übersetzer Pierre Soltermann.

WOZ: Stimmt es, dass das Publikum im «Atomic» auch altersmässig sehr gemischt ist?
René Triponez: Wir sind keine Szenebeiz. Hervé zum Beispiel …

Hervé Treu: Oui, je sais, je suis le plus âgé de tes clients … Diese Bank par exemple – c’est une véritable invitation à une socialisation des clients.

Monsieur Soltermann, wie lange verkehren Sie schon im «Atomic»?
Pierre Soltermann: Von Anfang an. Was ich vor allem schätze: die Zeitungen, das Bier – und die Stimmung. Manchmal steigert sich das sogar in eine Bombenstimmung, une ambiance d’enfer. Zum Beispiel, wenn Federer spielt. Der Chef hat das besonders gern …

René: Was du nicht sagst, Pierre. Tant pis! Sollen sie doch Tennis schauen. Es gibt Schlimmeres.

Liest man Zeitung, könnte man meinen, in Biel herrsche eine miese Stimmung: landesweit der höchste Prozentsatz an Sozialhilfeempfängern, soeben hat der Stadtpräsident Sparpakete angekündigt …
Rosemarie Triponez: Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre ist auch im Atomic Café spürbar. Auch unter unseren Gästen gibt es vermehrt Leute, die trotz guter Ausbildungen ihre Stelle verloren haben – und Mühe haben, eine neue zu finden. Da nehmen zum Teil auch die Gespräche einen anderen Verlauf.

Hervé: Alle Probleme, die mit dem Sozialen zusammenhängen, haben sich verstärkt. Umso wichtiger ist es, die ausgesprochen soziale Tradition in der Stadt lebendig zu halten.

Ist die Solidarität gefährdet?
Hervé: Solidarität muss immer wieder neu verteidigt und praktiziert werden. Man darf aber ob der negativen Schlagzeilen nicht die positiven Aspekte vergessen …

Zum Beispiel?
Hervé: La multiculturalité! In Biel werden über hundert Sprachen gesprochen. Das hat sich in den letzten Jahren noch einmal weiter entwickelt. Ich kann mich noch erinnern, als vor ungefähr dreissig Jahren die ersten Schwarzen in die Stadt kamen. Meine Frau, sie war eine Italienerin, hatte anfänglich noch Mühe damit. Obwohl sie selbst – wie ich als ursprünglicher Österreicher – eine Immigrantin war.

Beim letzten Mal sagten Sie, Biel sei eine tolerante Stadt …
Hervé: Ich wage sogar zu behaupten: Biel ist die toleranteste Stadt der Schweiz – und eine der tolerantesten in Europa. Pierre: Und in den letzten Jahren ist die Stadt noch multicolorer geworden. René: Wobei es auch reaktionäre Leute gibt … Rosemarie: Der Grundton von Biel ist tolerant. Immer noch. Pierre: Auf jeden Fall sind die Leute im Allgemeinen recht leger. Man fällt hier nicht gross auf, wenn man nicht so geschniegelt herumläuft.

Rosemarie: Der Schriftsteller Jörg Steiner – auch ihn haben wir in unserer Ahnengalerie verewigt – sagte immer, Biel sei vom Charakter her eine amerikanische Stadt. Hervé: In Biel leben 8000 Muslime. Bei 54 000 Einwohnern! Oder nehmen Sie die Coupole, den Gaschessu – das älteste AJZ in der Schweiz. Mitten in der Stadt. Bis heute. Wo gibts das schon?

Pierre: Ich glaube, diese Toleranz kommt auch wegen der Zweisprachigkeit. Wir mussten immer mehr mit- als gegeneinander. Hervé: Eine erste Quelle dafür war ab etwa 1865 die Einwanderung der französischsprechenden Arbeiter aus dem Jura. René ist ein Beispiel dafür. Und auch Pierre kommt aus einer jurassischen Einwandererfamilie.

Pierre: Wir reden jetzt auch von Heimarbeit. Noch bis vor vierzig Jahren haben in Biel viele Leute zu Hause für die Uhrenindustrie gearbeitet, vor allem Frauen. Hervé: Auch mein Grossvater hatte noch so ein Atelier in der Wohnung. Am Tag arbeitete er in der Fabrik, abends zu Hause. Ja, die jurassischen Arbeiter waren eine erste ganz wichtige Quelle der Zweisprachigkeit. Und, nicht zu vergessen: Le Jura, c’était un centre de l’anarchisme de l’Europe!

Und mit den Einwanderungen aus dem Jura und später aus dem Süden wehte ein weltoffener Geist durch die Stadt …
Pierre: Das «Atomic» ist ein Beispiel dafür. Hier trifft sich die Welt im Kleinen. Und noch etwas: Es gibt viele Leute, für die das hier die letzte Station in der Stadt ist, bevor sie auf eine Reise gehen – und auch die erste, wenn sie wieder zurückkommen.

Rosemarie: Drum auch immer diese Bagage, die vielen Koffer im Eingang. Eine Frage, die bei uns oft gestellt wird, lautet: «Geisch oder chunnsch?» Hervé: «L’Atomic», c’est en quelque sorte aussi un petit buffet de gare. Pierre: Le dernier endroit et le premier …

René: The last waterhole. Das letzte Wasserloch.

René «Guitol» Triponez (71) und Rosemarie Triponez-Wachs (62) betreiben seit 1996 das «Atomic». Hervé Treu (83), ehemaliger Biologielehrer, kämpfte jahrelang erfolglos für den Erhalt des Bahnhofbuffets. Derzeit bereitet er im Stadtparlament eine Motion für die Erweiterung der Gassenküche zum generationenübergreifenden Treffpunkt vor. Pierre Soltermann (50) übersetzt für die Bundesverwaltung sowie deutschsprachige Filmuntertitel ins Französische.