Zürcher Theaterdebatte: Vorauseilender Gehorsam, sofortige Bedürfnisbefriedigung

Nr. 47 –

In der Stadt Zürich hat der Angriff auf öffentliche Dienstleistungen eine neue Stufe erreicht: Nun will die FDP mit ihrer Sparpolitik auch bei der Kultur ansetzen. Dabei hat sie vor allem eine Institution im Visier: das Theater Neumarkt.

Die Wellen schlugen hoch, als im März 2012 der kurz zuvor als Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia zurückgetretene Pius Knüsel mit drei deutschen Koautoren das Buch «Der Kulturinfarkt» veröffentlichte. Die nochmalige Lektüre bestätigt den damaligen Verdacht: Das Pamphlet mit dem Untertitel «Von allem zu viel und überall das Gleiche» ist eine vorzügliche Gebrauchsanleitung dafür, wie der kulturelle Service public marktwirtschaftlichen Gesetzen ausgesetzt werden kann. Exemplarisch zeigt sich das dieser Tage, wenige Tage vor der grossen Budgetdebatte, in der Stadt Zürich.

«Einsparungen von mehreren Hundert Millionen Franken»: Das ist das Ziel der städtischen FDP auf dem Hintergrund eines Defizits von rund 150 Millionen Franken im stadträtlichen Budgetentwurf für das Jahr 2015. Speziell auch im Theaterbereich sieht die FDP Optimierungspotenzial: Insbesondere die Zahlen, die das Theater Neumarkt nach der ersten Spielzeit 2013/14 unter der Leitung von Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler unlängst vorlegte, sind für die Freisinnigen ein gefundenes Fressen – gegenüber dem Vorjahr (dem letzten Jahr unter Barbara Weber und Rafael Sanchez) sind die Publikumszahlen um fast die Hälfte zurückgegangen.

Der Besucherrückgang im ersten Jahr unter einer neuen Direktion ist ein bekanntes Phänomen – wie sehr sich ein neues Team bewährt, ist frühestens in der zweiten Spielzeit abzuschätzen. Nichtsdestotrotz betätigt die FDP schon jetzt den Notalarm. Ihr Vorschlag: eine Kürzung der jährlichen Subvention von knapp fünf Millionen Franken – um zehn Prozent bei einem einmaligen Defizit sowie um zwanzig Prozent bei Defiziten in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren.

Relevanz und Marktwirtschaft

Vom sozialliberalen Aufbruch, mit dem fortschrittliche Bürgerliche und Linke der Stadt Zürich zu kulturellen Blüten verhalfen, scheint nicht viel übrig geblieben zu sein. Anders kann man sich den Alarmismus nicht erklären, mit dem die FDP den städtischen Finanzhaushalt bereinigen möchte. Egal ob es sich um ein Spital, ein Theater oder ein Elektrizitätswerk handelt: Branchenspezifische Eigenheiten finden keine Berücksichtigung in den freisinnigen Milchbuchrechnungen.

Dieses «Kulturverständnis», in dem der Begriff der «gesellschaftlichen Relevanz» primär marktwirtschaftlich interpretiert wird, scheint inzwischen auch KulturjournalistInnen erfasst zu haben. Ginge es nach Guido Kalberer vom «Tages-Anzeiger», «sind minime Eigenfinanzierungsquoten von zehn Prozent», wie das beim Neumarkt der Fall ist, «eigentlich nicht mehr zu verantworten». Kalberers Vorschlag, nur noch ein städtisch subventioniertes Theater mit festem Ensemble spielen zu lassen – das Schauspielhaus – und dafür umso mehr freie Gruppen um Subventionen buhlen zu lassen, ist grosso modo eine Kopie von Knüsels Rezeptur. Was zunächst fast wie eine Umverteilungsforderung der Achtzigerbewegung klingt, entlarvt sich alsbald als neoliberal angehauchte Kulturpolitik: Eine solche Umverteilung heizt vor allem den Wettbewerb unter den freien Gruppen an – und führt damit zu einer noch marktförmigeren Szene. Hinzu kommt: Schon heute müssen freie Gruppen eine Unzahl von nichtkünstlerischen Kriterien erfüllen (wie etwa das Vorweisen eines Koveranstalters in einer anderen Stadt), um überhaupt eine Chance auf eine Unterstützung zu haben.

Und genau dieser vorauseilende Gehorsam gegenüber einem vorgeschriebenen Projektmanagement soll nun auch die festen Häuser erfassen? Die Konsequenz davon wäre absehbar: Produziert würde vor allem, was möglichst vielen Leuten möglichst augenblicklich gefällt. Ganz so, als läge der Sinn von Subventionen nicht auch darin, gesellschaftlich notwendige Dienste zu gewährleisten, die nicht auf eine sofortige Bedürfnisbefriedigung angelegt sind.

Ensemblegeist und Verortung

«Die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes ist flexibler geworden, wieso sollte ausgerechnet das Theater, das diese doch abbilden soll, eine Ausnahme darstellen?» Die Antwort auf Guido Kalberers rhetorisch gemeinte Frage lautet: Weil das Theater, genau um diese Flexibilisierung der Gesellschaft nicht nur oberflächlich abbilden, sondern auch substanziell hinterfragen zu können, einen stabilen Boden und einen Rahmen braucht, auf dem eine kontinuierliche Auseinandersetzung möglich ist. Und zwar nicht als gemütliche Selbstverwirklichungsnische, wie Kalberer zwischen den Zeilen suggeriert, sondern als kreative Pièce de Résistance.

Dafür aber braucht es nicht nur eine räumliche Verortung, sondern auch ein langfristig gesichertes Ensemble. Nun aber lässt sich ein «Ensemblegeist» nicht am Schreibtisch heraufbeschwören, sondern kann nur unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen gedeihen. Nur so ist es möglich, dass ein Theater nicht nur im Zeitgeist mitplanscht, sondern diesen auch sinnfällig reflektieren kann. Das betrifft auch die heutzutage so viel beschworenen «Diskursformate»: Dafür, dass aus vereinzelten Veranstaltungen eine langfristige Beziehung zwischen AkteurInnen und ZuschauerInnen und daraus vielleicht eine gesellschaftliche Diskussion erwachsen kann, braucht es Kontinuität. Genau in dieser Hinsicht ist das «Neumarkt» in der ganzen Deutschschweiz einzigartig – es gibt in keiner anderen Stadt neben einem grösseren Stadttheater ein zweites kleineres, städtisch subventioniertes Haus mit festem Ensemble. Wohl auch gerade dank dieser Besonderheit hat es sich im ganzen deutschsprachigen Raum einen derart guten Ruf als experimentier- und diskursfreudiges Sprechtheater erworben.

Unterwegs zu den blinden Flecken

Gewiss: Die einst starren Grenzen zwischen Stadttheatern und freier Szene sind durchlässiger geworden. Was zunächst eine gegenseitige Befruchtung war, erwies sich je länger desto mehr auch als Nivellierung – und führte damit zu einer grösseren Konkurrenz im Ringen um das Publikum. Für einen kleineren Betrieb wie das «Neumarkt» heisst das, dass es seine Rolle in der städtischen Kultur wie überhaupt in der städtischen Gesellschaft immer wieder neu finden muss. Darin liegt das Potenzial dieser Bühne, die wendiger ist als der grosse Dampfer Schauspielhaus mit seinem 50-Millionen-Budget: sich auf die Suche zu begeben in die Stadt, ihre Hinterhöfe, Keller, Verliese, auf ihre Dachböden, zu ihren blinden Flecken – und spontan auf gesellschaftliche Vorgänge reagieren zu können.

Von allem zu viel und überall das Gleiche, sodass ein Theater wie das «Neumarkt» – wie Guido Kalberer es uns weismachen will – keine Alternative mehr zum Schauspielhaus sein kann? Eben nicht! Und auch Kalberers Diagnose, wonach das Theater allgemein «viel von seiner Leitungs- und Orientierungsfunktion für unsere Gesellschaft verloren» habe, geht von einer falschen Prämisse aus: Theater als ein Leitmedium – das war schon immer ein bürgerliches Missverständnis. Was umso mehr von einem Theater wie dem Neumarkt gefragt wäre: das künstlerische Hinterfragen dessen, was gesellschaftlich abgeht. Wozu selbstverständlich auch eine gewisse Irritation gehört.