Günter Grass (1927–2015): Der lustvolle Polemiker

Nr. 16 –

Mit der «Blechtrommel» schuf Günter Grass 1959 einen Jahrhundertroman, für den er vierzig Jahre später den Literaturnobelpreis erhielt. Bis zu seinem Tod mischte er sich ins öffentliche und ins politische Leben ein.

In den Nachrufen wurde er zum Jahrhundertschriftsteller hochgejubelt, zu Lebzeiten war er aber stets umstritten: Günter Grass, der Sprachgewaltige, der Berserker, der lustvolle Polemiker, der nun am 13. April im Alter von 87 Jahren in Lübeck verstorben ist. Keines seiner Werke erhielt die ungeteilte Zustimmung der Literaturkritik. Als 1959 sein erster Roman «Die Blechtrommel» erschien, waren die Konservativen über die Obszönität geschockt, ÄsthetInnen sahen zu viel stilistische Schaumschlägerei.

Aber für die Generation der damals Dreissigjährigen, die in ihrer Jugend noch am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, war die Geschichte vom kleinwüchsigen Oskar Matzerath, der mit seiner Trommel Menschenmassen dirigiert und mit seiner durchdringenden Stimme Glasscheiben zerspringen lässt, eine Befreiung. Hier schrieb jemand über Jugend in der Nazizeit, ohne dass Leid und Schuld im Vordergrund standen. Hier triumphiert der Spott über die konform marschierenden Kleinbürger, die ideologischen Lehrerinnen, die dumpfen Väter. Oskar rächt sich – stellvertretend für den Autor und sein Publikum?

Rache an den AchtundsechzigerInnen

Geschrieben hatte Günter Grass, bis dahin als Dichter, Bildhauer und Grafiker tätig, seinen fantasievoll-überbordenden Prosaerstling in einem Heizungskeller in Paris, wo er angeblich morgens erst mit einer Schaufel die Ratten vertreiben musste. 1958 las er bei einem Treffen der Gruppe 47 aus dem Manuskript vor. Die KollegInnen waren von seiner Sprache so begeistert, dass sie spontan Geld sammelten, um ihm einen ordentlichen Preis zu stiften. Der Gruppe 47 widmete Grass später seine Erzählung «Das Treffen in Telgte», in der er die Kollegen als Barockdichter verkleidet porträtierte.

«Die Blechtrommel» wurde in fünfzig Sprachen übersetzt und 1979 von Volker Schlöndorff verfilmt. Diesen sensationellen Anfangserfolg konnte Grass später nicht mehr wiederholen. Die Generation der AchtundsechzigerInnen stand ihm skeptisch gegenüber. Im Roman «Örtlich betäubt» (1969) rächte er sich an ihr, indem er schildert, wie die Studentenbewegung in eine Sackgasse läuft – allerdings blieb das Buch ohne grosse Wirkung. Seine Theaterstücke waren keine Bühnenhits, am meisten zu reden gab «Die Plebejer proben den Aufstand», wo Grass die Haltung der Intellektuellen in der DDR beim Arbeiteraufstand 1953 kritisierte. Wer wollte, konnte im «Chef» Bertolt Brecht erkennen (vgl. «Die Macht war ihm nicht unvertraut» im Anschluss an diesen Text).

Während Günter Grass in der deutschen Öffentlichkeit durch sein Engagement für die SozialdemokratInnen immer präsenter wurde, begann sein literarischer Stern zu sinken. Seine Romane wurden ausladend und weitschweifig, zugleich griff Grass zur weltumspannenden Geste. In «Der Butt» handelte er 1977 nicht nur das Mann-Frau-Verhältnis, sondern auch die Menschheitsgeschichte ab. Die Zeitschrift «Emma» erklärte den Autor damals zum «Pascha des Monats», aber einen Preis erhielt der Roman 2007 für den schönsten ersten Satz: «Ilsebill salzte nach.» «Die Rättin» (1986) entfaltete ein apokalyptisches Panorama, «Ein weites Feld» (1995) blickt auf die deutsche Geschichte seit 1848 zurück.

Übersteigerte Grössenfantasie

Seinen grössten literarischen Triumph erlebte Grass 1999: Er erhielt den Literaturnobelpreis, weil er «in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat», wie es in der Begründung hiess. In seiner Dankesrede in Stockholm sagte er: «Ich komme, wie Sie lesend erfahren haben, aus der maurisch-spanischen Schule des pikaresken Romans. In ihr ist der Kampf gegen Windmühlenflügel ein durch die Jahrhunderte hindurch übertragbares Modell geblieben. Also lebt der Pikaro von der Komik des Scheiterns. Sein Witz pinkelt an die Säulen der Macht, sägt an deren Gestühl, weiss aber zugleich, dass er weder den Tempel zum Einsturz noch den Thron zum Kippen bringen wird.»

Es wurde stiller um Günter Grass – bis zum Eklat, als er in seiner Autobiografie «Beim Häuten der Zwiebel» (2006) seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS kundtat. Bis dahin war lediglich bekannt gewesen, dass der 1927 in Danzig geborene Autor sich mit fünfzehn Jahren zum Kriegsdienst gemeldet hatte und dass er als Jugendlicher durchaus der Naziideologie erlegen war.

Dass das nicht alles war, las die Schriftstellerin Petra Morsbach erstaunlicherweise aus dem Roman «Die Blechtrommel» heraus. In ihrem Buch über die Wahrheit des Erzählens («Warum Fräulein Laura freundlich war», 2006) deutet sie Oskar als eine übersteigerte Grössenfantasie, deren Triumph zu billig erkauft ist, da die anderen Figuren Stereotype bleiben und das nationalsozialistische Umfeld verharmlost wird. Es fehle, so Morsbach, die wahre Macht des «Dritten Reichs», es fehle der Terror, der Angst verbreitet. Daraus schloss sie, dass der Autor der «Blechtrommel» in seiner Jugend selber «keineswegs überlegen und distanziert gewesen war und dass sein hypertropher virtueller Gegenschlag eher eine hypertrophe Scham kompensierte».

War es womöglich also eine übermässige Scham, die Günter Grass so lange schweigen liess? Sicher war es auch das Wissen, dass der absehbare Skandal den Blick auf sein Werk verstellen würde.

Grass und die Politik : Die Macht war ihm nicht unvertraut

94 Reden hielt Günter Grass im Wahlkampf 1969 für Willy Brandt, zwei bis vier pro Woche. Er beherrschte die Rhetorik nicht nur auf dem Papier, sondern konnte sie auch in persönlichen Auftritten umsetzen.

Zehn Jahre zuvor war dem literarischen Aufbruch konsequent das politische Engagement entsprungen. Wie hätte man Ende der fünfziger Jahre im lähmenden und gelähmten Deutschland unter Konrad Adenauer still bleiben können? Grass war freilich einer der wenigen Schriftsteller, die sich parteipolitisch engagierten; schon früh setzte er auf die sozialdemokratische Karte. 1961 redigierte er für den damaligen Oppositionsführer Willy Brandt erste Reden, 1965 schlug er in fünfzig deutschen Städten unter dem Titel «Dich singe ich, Demokratie» der SPD eine progressivere Politik vor.

Grass konnte radikal und unversöhnlich kritisieren, aber er erkannte gleichzeitig die Chancen pragmatischer Politik. Er hatte durchaus einen Sinn für die Macht, zuweilen gar ein Verlangen danach. 1966 protestierte er scharf gegen den neuen Kanzler Kurt Georg Kiesinger als «Mitläufer» während der Nazizeit. Gleichzeitig zeichnete er im Stück «Die Plebejer proben den Aufstand» ein eher schnödes Bild von Bertolt Brecht als einem in die Irre gegangenen Propagandisten des DDR-Regimes. Das trug ihm einige Feindschaft der studentischen Linken ein. Aber Grass unterwarf sich nicht der bipolaren Logik; früh unterstützte er den Prager Frühling und die osteuropäische Dissidenz, etwa Pavel Kohout.

Als Willy Brandt 1969 als Kanzler «mehr Demokratie wagen» und eine neue Ostpolitik betreiben konnte, schien ein Etappenziel erreicht; doch bald zeigte sich Grass vom Freund enttäuscht, wohl auch, weil er sich mehr Einfluss erhofft hatte. Erst 1982 trat er im Übrigen in die SPD ein, aber zehn Jahre später wieder aus, weil die Partei seines Erachtens in der Asyldebatte ihre Prinzipien verraten hatte. 1990 wandte er sich gegen die vorschnelle Wiedervereinigung und schlug eine Konföderation der beiden deutschen Staaten vor: Dass er sich gegen den Zeitgeist stellte, wurde ihm in der nationalen Euphorie verübelt, doch erkannte er scharfsichtig künftige Konfliktlinien.

Auch jenseits der SPD setzte er sich weiterhin gegen die Atomkraft und für eine sozialere Umverteilung ein. Seinen letzten grossen politischen Auftritt hatte er 2012, als er im Gedicht «Was gesagt werden muss» die israelischen Atomwaffen als Gefährdung für den Weltfrieden verurteilte – kein besonders gutes Gedicht, aber muss es das sein, wenn es sagt, was gesagt werden muss?

Grass, der sich immer mit der eigenen und der deutschen Geschichte, der Herkunft aus der umstrittenen Grenzstadt Danzig/Gdansk beschäftigt hatte, sparte sich einen blinden Fleck bis zuletzt auf: seine einstige Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Dem damals Siebzehnjährigen konnte die Tatsache kaum angelastet werden, aber indem der erwachsene Grass sie lange öffentlich verschwieg, hatte er für einmal nicht erkannt, dass das Persönliche politisch ist.

Bleiben wird neben der Literatur auch eine weniger bekannte Leistung: die von ihm grosszügig alimentierte August-Bebel-Stiftung zur Förderung demokratischen Engagements und die Otto-Pankok-Stiftung gegen die Diskriminierung der Roma.

Stefan Howald