Der Lebensgefährte: Im Wurmloch der Geschichte

Nr. 7 –

Ein Besuch bei Daniel Defert in Paris: Der Lebensgefährte von Michel Foucault erinnert sich, wie dessen historische Forschungen aus den politischen Kämpfen ihrer Zeit entstanden.

«Plötzlich standen da vier oder fünf Kastenwagen, aus denen Polizisten mit Maschinenpistolen heraussprangen.» Es ist nicht das letzte Mal, dass man glaubt, man falle durch ein Zeitloch – an diesem Vormittag, an dem man bei Daniel Defert, dem langjährigen Lebensgefährten von Michel Foucault, zu Gast ist. Deferts Erzählung führt uns zurück ins Jahr 1977, als die Rote-Armee-Fraktion (RAF) Deutschland in Atem hielt. Und jeder verdächtig erschien, der verdächtig erscheinen konnte. Auch Foucault und Defert, die sich damals in Berlin beim Frühstück im Hotel mit dem Verlegerpaar Heidi Paris und Peter Gente über ein neues Buch über Ulrike Meinhof empörten, in dem ein befreundeter Sozialpsychologe als RAF-Sympathisant dargestellt wurde. Als sie das Hotel verliessen, sahen sie sich mit den bewaffneten Polizisten konfrontiert, die sie gegen die Mauer drückten. «Foucault war von Paris her gewohnt, Widerstand gegen die Polizei zu leisten. Peter Gente war geistesgegenwärtig und konnte Foucault gerade noch rechtzeitig warnen: ‹Wir sind hier nicht in Paris. Die Polizei wird schiessen, wenn du eine falsche Bewegung machst!›»

Der Berlintrip im Winter 1977 blieb für Foucault und Defert ohne Folgen. Nach einigen Stunden im Gefängnis von Moabit wurden sie wieder freigelassen. Wie sich herausstellte, hatte jemand Heidi Paris mit einer damals gesuchten RAF-Terroristin verwechselt, die ebenso blond war wie die Merve-Verlegerin. Daniel Defert ist heute 78 Jahre alt und noch immer sehr vital. Und er lebt noch immer in jenem Appartement in Paris, das er während vierzehn Jahren mit Michel Foucault bewohnte. So steht es seit kurzem auch auf einer Gedenktafel, die etwas hoch über den Köpfen von uns Sterblichen am Haus an der Rue Vaugirard 285 angebracht wurde: «Hier lebte von 1970 bis 1984 der Philosoph Michel Foucault.»

Zirkulation der Ideen

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es nun also her, seit Foucault starb. Das ist die Zeitspanne einer Generation. «Haben Sie die Bände der ‹Pléiade› schon gesehen?», fragt Defert und zeigt auf die beiden dicken Bücher, die vor uns auf dem Schreibtisch liegen, auf dem Foucault einst seine grossen Werke wie «Überwachen und Strafen» schrieb. Mit der Bibliothek im Rücken und dem freien Blick auf die Dächer von Paris. Ich nehme einen der beiden Bände in die Hand. Foucaults Werk gehört nun also zur «Bibliothèque de la Pléiade», die französische Bibliothek der Weltliteratur. Als Theoretiker und Autor, der von sich mal sagte, sein Denken entzünde sich an der Verbindung von «persönlicher Erfahrung und den Ereignissen, in die wir uns einschreiben».

Foucault wird immer noch gelesen, doch die Ereignisse sind andere – in einer Welt, in der Terroristen sich nicht mehr an linker Theorie orientieren wie die RAF, sondern im Namen einer Religion kämpfen. Ist der Historiker Foucault also Geschichte? Ja, aber nicht im negativen Sinn. Um das zu verstehen, muss man etwas ausholen. Und man muss Defert zuhören, der in der Leseecke seines Appartements erzählt, wie er während seines Studiums im Kampf um Algeriens Unabhängigkeit politisiert wurde – und wie er Anfang der siebziger Jahre zusammen mit Michel Foucault die Groupe d’information sur les prisons (GIP) gründete, eine politische Vereinigung, die sich für die Rechte der Häftlinge starkmachte. Und dies zu einer Zeit, als es in Frankreich zahlreiche politische Gefangene gab. Insbesondere nach der Wahl von Georges Pompidou, der die Gauche prolétarienne, die proletarische Linke, verbot. «Ich war empört und trat dieser – nunmehr klandestinen – Bewegung bei», sagt Defert.

Zeitgleich mit dem Engagement für die GIP schrieb Foucault «Überwachen und Strafen», eine Studie zur Entwicklung der modernen Strafsysteme, die die GIP mit politischen Mitteln zu ändern versuchte. War Defert auch daran beteiligt? «Foucault hat sehr gerne über seine Arbeiten diskutiert, wenn sie fertig waren, nicht vorher. Ich weiss nicht, ob er ohne sein Engagement für die GIP ‹Überwachen und Strafen› geschrieben hätte. Aber er war ja jemand, der mit seinem Konzept der historischen Genealogie die Konstruktion unserer Gegenwart erfassen wollte.»

Die Genealogie der Gegenwart: Man lernt an diesem Vormittag viel über dieses Prinzip der Erbschaft und wie Ideen entstehen, zirkulieren, sich wandeln. Etwa, wenn Defert erklärt, wie der solitäre Denker Foucault in Deutschland ein Autor der Linksalternativen werden konnte, obwohl man in Frankreich das Phänomen der Theoriegemeinschaften gar nicht kannte, die sich in empathischer Lektüre um einen Text versammelten. «Das ist das Verdienst des Merve-Verlegers Peter Gente. Aus Foucaults Texten, für die ‹Libération› und andere Zeitungen, hat Gente kleine Bücher gemacht, also etwas Dauerhaftes, was es so in Frankreich gar nicht gab. Und diese Bücher wurden dann von den Linken in Deutschland als Werkzeuge für ihren politischen Alltag benutzt.»

Hilfe für Aidskranke

Das Prinzip der Genealogie spielte auch bei der Gründung von Aides eine Rolle. 1984 war Michel Foucault an Aids gestorben. Defert gründete darauf die französische Aidshilfe mit dem Namen Aides. Er wollte die Krankheit zu etwas Solidarischem machen, wie es der Name Aides zum Ausdruck bringt – er meint sowohl die Hilfe wie die Krankheit. «Als Foucault 1984 starb, wollte ich weiterkämpfen, ihm nah sein», sagt Defert. Und dabei spielten auch die Erfahrungen mit der GIP eine Rolle. «Die ersten Aidskranken waren genauso stigmatisiert wie die Gefangenen, von denen viele aus Scham nicht über ihre Erfahrungen in der Haft sprechen wollten, insbesondere wenn sie nicht aus politischen Gründen inhaftiert waren.» Man musste das Schweigen brechen.

So war das auch bei Aids: Man musste gegen das Stigma der Krankheit ankämpfen und über die Risiken sprechen können. «Ich war sehr schockiert, dass man beim Tod von Foucault den Mantel des Schweigens ausbreiten wollte. Kein einziger Arzt hatte mir gegenüber von seiner Krankheit gesprochen. Davon erfuhr ich erst nach Foucaults Tod. Der Arzt, der ihn begleitet hatte, teilte mir umgehend mit, dass ich mir keine Sorgen machen solle, man werde die Diagnose auf dem Totenschein löschen.» Aber damit waren das Problem und die Krankheit nicht aus der Welt. Man musste dagegen kämpfen. «Deshalb habe ich Aides gegründet», sagt Defert.

Das Konzept der historischen Genealogie der Gegenwart hat also nichts an Erklärungswert eingebüsst. Damit Foucaults Ideen weiter zirkulieren können, hat Defert alles getan: Er hat Foucaults Interviews und Schriften in vier grossen Bänden ediert. Er hat ermöglicht, dass die Vorlesungen am Collège de France und der vierte Band von «Sexualität und Wahrheit» ediert werden können, obwohl Foucault sich gegen posthume Publikationen ausgesprochen hatte. Und nicht zuletzt gab Defert in einem Interviewbuch sein Leben zu Protokoll, in dem an seinem Beispiel das Prinzip der Genealogie anschaulich wird. Den Vorsitz von Aides hat Defert vor einigen Jahren abgegeben. «Damit die Organisation weiterexistieren kann, müssen neue Kräfte ran.» Daniel Defert hat seinen Beitrag geleistet.

«Ein politisches Leben»

Selten kommt man über ein Buch einem Menschen so nah wie beim Lesen von Daniel Deferts Autobiografie: In einem grossen Interview hat der 1937 geborene Soziologe sein Leben erzählt. Von der Kindheit während der Nazikommandantur über die ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern – bis hin zum Mai 1968, während dessen Defert «die befreiende Wirkung der Massenbewegung» für sich entdeckte. «Seit diesem Tag war die Gesellschaftsanalyse für mich nicht mehr eine Angelegenheit des Soziologen, sondern der Massenbewegung.» Im Zentrum der Autobiografie steht die Beziehung mit Michel Foucault – und der Aufbau der französischen Aidshilfe Aides, die Defert nach dem Tod seines Lebensgefährten gründete. Nicht zuletzt, weil die Ärzte den Aidstod von Foucault unter den Teppich wischen wollten. «Das entsprach nicht dem politischen Leben, das wir gemeinsam geführt hatten», kommentiert Defert.

Daniel Defert: «Ein politisches Leben». Merve Verlag. Berlin 2015. 240 Seiten. 30 Franken