Auf allen Kanälen: Intervention in die umkämpfte Zone

Nr. 15 –

Über die Onlineplattform «Geschichte der Gegenwart» mischen sich GeisteswissenschaftlerInnen in politische Debatten ein. Nach zweieinhalb Monaten steht fest: Das stösst auf Interesse.

Erst gerade im Januar 2016 aufgeschaltet, hat die Plattform «Geschichte der Gegenwart» bereits einen Coup gelandet: Ein vom Romanisten Jens Andermann verfasster Aufruf gegen die Menschenrechtsverletzungen der Regierung Mauricio Macri in Argentinien sorgte im Land selber für Aufsehen: Der Beitrag wurde in der Presse diskutiert und gar vom Präsidenten höchstpersönlich sowie von Expräsidentin Kirchner auf Twitter geteilt. Über 35 000 Mal wurde dieser Text bereits aufgerufen. Geschichtsprofessorin Svenja Goltermann, die zusammen mit dem Historiker Philipp Sarasin den Anstoss zur Gründung der Plattform gegeben hat, gibt sich im Gespräch überzeugt: «Was wir zu sagen haben, interessiert.» Insgesamt 170 000 Klicks verzeichnete die Seite bisher. Bei den Schweizer Themen liefen Sarasins Artikel zu Blochers Elitebegriff und zu Roger Köppels Göring-Editorial in der «Weltwoche» besonders gut.

Immer mehr ProfessorInnen von Schweizer Unis drängen in die Welt der BloggerInnen. Die Ergebnisse ihrer Forschung, die sonst meist in Fachpublikationen versickern, sollen in verständlicher Sprache an die Öffentlichkeit gelangen. Die fünf HerausgeberInnen von «Geschichte der Gegenwart», allesamt GeisteswissenschaftlerInnen der Uni Zürich, wollen darüber hinaus auch dezidiert politisch Stellung beziehen. Im Gegensatz zur von ÖkonomInnen betriebenen Seite «batz.ch» und dem PolitologInnen-Magazin «Defacto» ist «Geschichte der Gegenwart» institutionell unabhängig und durch Spenden finanziert.

Konfrontation mit der «Weltwoche»

Die Lancierung der Seite fiel mitten in den Abstimmungskampf zur Entrechtungsinitiative. Auch darum beschäftigen sich viele der bisher publizierten Texte mit dem Rechtspopulismus. Goltermann bezeichnet das Projekt auch als Reaktion auf rechtspopulistische Strategien, «nicht aber auf die 2014 von der ‹Weltwoche› losgetretene Rufmordkampagne». Das Blatt hatte Sarasin unlauteres Verhalten im Zusammenhang mit Goltermanns Berufung an die Uni Zürich vorgeworfen. Nachdem eine Kommission die Vorwürfe zurückgewiesen hatte, erhob die Staatsanwaltschaft gegen den involvierten «Weltwoche»-Redaktor Philipp Gut im Februar Anklage wegen übler Nachrede.

«Geschichte der Gegenwart» wählt den Weg der direkten Konfrontation mit der «Weltwoche». Goltermann zeichnete von Köppel etwa das Bild eines gefährlichen Schreibtischtäters, der mit seiner Sprache Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen verschiebt. Neben medienkritischen Beiträgen wollen die AutorInnen der Plattform, von denen einige aus dem akademischen Nachwuchs stammen, neue Perspektiven einbringen. Im aktuellsten Artikel auf der Seite wendet der Historiker Remo Grolimund Foucaults biopolitische Definition des Rassismus – die Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss – auf das gegenwärtige europäische Grenzregime an.

Kritische Begriffsanalysen

Der Blog ist einem Kolloquium für DoktorandInnen an der Uni Zürich entsprungen. Dort entwickelten Goltermann und Sarasin auch das namengebende Konzept. Der Ausdruck «Geschichte der Gegenwart» verweist darauf, dass Aktualität immer das Resultat offener Auseinandersetzung ist. Die AutorInnen wollen ihr historisches Wissen in diese Auseinandersetzung einbringen: indem sie Mythen kritisieren, an Vergessenes erinnern und Herkunft analysieren, wie es im Editorial der Seite heisst.

Im Gespräch nennt die Slawistin und Mitherausgeberin Sylvia Sasse die Sensibilität für die Verwendung von Sprache als einen Beitrag, den besonders GeisteswissenschaftlerInnen zur öffentlichen Debatte leisten könnten. Auf der Plattform kommt diese Sensibilität in Form von zahlreichen kritischen Begriffsanalysen zum Ausdruck. Die AutorInnen richten den Blick auf Reizwörter wie «Integration», «Diktatur» oder «Kulturkreis», die oft unreflektiert in der öffentlichen Debatte zirkulieren.

«Geschichte der Gegenwart» wird weiterwachsen. Laut Sasse sollen auf der Plattform in Zukunft vermehrt übersetzte Beiträge von GastautorInnen aus dem Ausland erscheinen. Ausserdem liebäugeln die HerausgeberInnen damit, Ende Jahr eine Printversion zu publizieren.

www.geschichtedergegenwart.ch