Filme aus Kuba: Im Weltall wie auf Erden

Nr. 11 –

Mit «Sergio & Serguéi», dem Publikumsliebling am Havanna-Filmfestival 2017, und dem Klassiker «Lucía» von 1968 sind am Filmfestival in Fribourg zwei Perlen des kubanischen Filmschaffens zu entdecken.

Sergio ist der von der Staatssicherheit bedrängte Protagonist in Ernesto Daranas’ «Sergio & Serguéi» – zum Glück hat seine gewitzte Tochter die Hosen an.

«Wird ein Frosch in kochendes Wasser geworfen, springt er heraus und überlebt – doch er stirbt, wenn er sich in Wasser befindet, das langsam erhitzt wird.» Mit dieser Metapher beschreibt der russische Kosmonaut Serguéi aus dem Raumschiff Sojus 38 im All seinem kubanischen Freund, dem Amateurfunker Sergio, die Situation ihrer beiden Länder.

Die Sowjetunion hatte sich Ende 1991 aufgelöst, der Film «Sergio & Serguéi» spielt nur wenige Wochen später. Anfang 1992 befand sich der Raumfahrer Sergei Krikaljow – im Mai 1991 als Sowjetbürger zur Weltraumforschungsstation Mir gestartet – tatsächlich als Mensch aus einem inexistenten Land im All: Niemand war mehr für ihn zuständig. So verblieb er 311 Tage im Kosmos, bis er am 25. März 1992 mit US-Hilfe und als russischer Bürger auf die Erde zurückgeholt wurde. Diese Groteske der Weltgeschichte bildet den Hintergrund des neuen Spielfilms von Ernesto Daranas («Conducta»).

Ätzender Spott für Stasiagent

In seinen vorherigen drei Spielfilmen setzte der 1961 geborene Regisseur ganz auf populäres kubanisches Kino, einen Mix aus Komödie und Sozialdrama. Mit «Sergio & Serguéi» schaut er nun weit über den Tellerrand kubanischer Befindlichkeiten der Gegenwart hinaus. Aus der Perspektive im All zeichnet er ein ätzend spöttisches und dennoch liebevolles Bild jenes Kubas, das nach der Implosion der Sowjetunion am Abgrund stand. In jener Zeit, vom Regime euphemistisch «Sonderperiode» genannt, gehörten für KubanerInnen tägliche Stromabschaltungen von bis zu sechzehn Stunden, Velos und Pferdekutschen als einzige Transportmittel und gähnende Leere in den Läden zur Alltagsrealität.

Aus diesem Panorama hat Daranas eine Burleske geschaffen, die letztlich zur Hymne auf Freundschaft zwischen den Völkern und – mehr noch – von Solidarität und Hilfsbereitschaft in Notzeiten wird. Es sind Werte, die einst auch die kubanische Revolution und die aus ihr resultierende Staatsmacht hochhielten. Doch Letztere kommt in «Sergio & Serguéi» schlecht weg. Sergio, verwitweter Vater einer kleinen Tochter, steht in seinem Job als Professor für Marxismus an einer Kunstschule kurz vor dem Aus. Seine Situation gleicht derjenigen des Frosches aus dem Eingangszitat – mit offenem Ausgang. Durch sein Hobby als Amateurfunker und seine Kontakte zu Serguéi gerät er ausserdem ins Visier der Staatssicherheit.

Der Agent der Staatssicherheit wird im Film immer wieder in slapstickartigen Szenen mit ätzendem Spott überschüttet. Dabei nimmt Ernesto Daranas auch Rückgriff auf den Weltraumklassiker schlechthin, Stanley Kubricks «2001. A Space Odyssey»: Als Stasiagent Ramiro in Sergios Haus herumschnüffelt und dabei ob all der hier offenbar stattfindenden Illegalitäten (Zigarren- und Rumproduktion, Bau von Booten, Antenne für den Empfang ausländischer Sender) buchstäblich in die Luft geht und in den Himmel entschwebt, erklingt «An der schönen blauen Donau» – eine Reminiszenz an jene Raumstation, die sich bei Kubrick zum Takt von Johann Strauss’ Walzer im All dreht. Ausserdem setzt Daranas dem Stasiagenten die toughe Offizierin Lia als Chefin vor die Nase, die ihn fortwährend drangsaliert und durchblicken lässt, dass sie ihn nicht für voll nimmt.

Frauen haben die Nase vorn

Auf die Frage, weshalb er die Figur des Agenten so der Lächerlichkeit preisgebe, antwortete der Regisseur anlässlich der Kubapremiere von «Sergio & Serguéi» am Havanna-Filmfestival im Dezember schlicht: «Es gibt Dinge und Personen, die man einfach nicht ernst nehmen darf.» Überhaupt sind es im Film mit den zwei Männernamen im Titel letztlich die Frauen, die die Hosen anhaben – sei es Sergios gewitzte kleine Tochter Mariana, seine tatkräftige Mutter Caridad oder seine Lieblingsstudentin Paula, die sich als Künstlerin durchzusetzen weiss.

Damit hat dieser neue Film aus Kubas männerdominierter Filmwelt durchaus Gemeinsamkeiten mit einem Klassiker, der ebenfalls am diesjährigen Filmfestival in Fribourg läuft: «Lucía» von Humberto Solás (1941–2008). Das monumentale, fast dreistündige Werk in Schwarzweiss entstand 1968, im gleichen Jahr wie das international weit bekanntere Opus magnum des klassischen kubanischen Kinos, «Memorias del subdesarrollo» von Tomás Gutiérrez Alea, muss den Vergleich mit diesem aber kaum scheuen.

«Lucía» bringt drei kubanische Frauenschicksale aus drei Epochen zusammen. Die Episoden funktionieren unabhängig voneinander und tragen die Jahreszahlen 1895, 1933 und «196.». Diese stehen für den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, den Kampf gegen die Diktatur Gerardo Machados und die Alphabetisierungskampagne nach dem Sieg der Revolution und markieren so den jeweiligen Hintergrund, vor dem sich die drei Geschichten um Frauen, die gegen Krieg, Gewalt und Machismo aufstehen, entwickeln.

Als der Film 1974 erstmals in den USA lief, schwärmte die Filmkritikerin der «New York Times», Nora Sayre: «Die letzte Episode ‹Lucía 196.› vermittelt die beste Diskussion über Gleichheit (und Ungleichheit) der Geschlechter, die ich je auf einer Leinwand gesehen habe – und das erst noch umwerfend komödiantisch.» Der zeitgenössische Filmkritiker des britischen «Independent» sah gar in «Lucía» nichts weniger als den «‹Citizen Kane› des lateinamerikanischen Kinos».

Festival International de Films de Fribourg: Freitag, 16., bis Samstag, 24. März 2018. www.fiff.ch