Asylpolitik: Immer um 6.22 Uhr fährt die Hoffnung los

Nr. 6 –

Täglich gibt es eine Zugverbindung vom weissrussischen Brest in die polnische Zwillingsstadt Terespol. An Bord: Familien, die aus Tschetschenien geflohen sind. Doch der Versuch, einen Asylantrag in der EU zu stellen, bleibt für die meisten erfolglos.

  • Tag für Tag dasselbe Ritual in der Wartehalle des Bahnhofs im weissrussischen Brest: Schon am Schalter werden die Flüchtlinge von den TouristInnen getrennt – und die uniformierte Frau am Schalter wird wieder unfreundlich sein.
  • «Refugee Transport»: So nennen sie in Brest den Wagen drei des Zuges nach Terespol.
  • «Kadyrows Männer sind überall»: Adlan K., einer der TschetschenInnen, die sich auch in Brest verstecken müssen.
  • Achtzehn Minuten hin – und wieder zurück: Die Eisenbahnbrücke über den Fluss Bug zwischen Brest und Terespol an der polnischen Grenze.
  • Was die polnischen Grenzbeamten heute wohl sagen? Fatima A., zum x-ten Mal im Zug nach Terespol.
  • Ein neuer Tag in Brest: Und wieder werden Dutzende Frauen, Kinder und Männer ihr Glück versuchen.

Wenn es in Brest zu dämmern beginnt, die Strassenlaternen noch leuchten und sich der Himmel pink verfärbt, schwirren Dutzende senfgelbe Taxis zum 130 Jahre alten Zentralbahnhof. Aus den Autos steigen Kinder, Frauen, Männer mit bunten Rucksäcken, Sporttaschen oder klappernden Rollköfferchen. Fast alle kommen sie aus Tschetschenien, alle haben sie ein Ziel: den Zug um 6.22 Uhr, der sie hinüberträgt über den Fluss Bug und die weissrussisch-polnische Grenze, zehn Kilometer nach Terespol, in die Europäische Union. Dort wollen sie einen Asylantrag stellen.

Nacheinander schieben sich die Familien durch die hohen, hölzernen Schwingtüren der Bahnhofswartehalle in Brest. Wie SpielerInnen vor einem Pferderennen drängen sich die Erwachsenen um die gläsernen Kartenhäuschen, aus denen müde junge Frauen in olivfarbenen Uniformen Bahntickets verkaufen, als wären es Wettcoupons. Vier Euro kostet die Hinfahrt, vier Euro das Ticket zurück, das man als TschetschenIn dazukaufen muss. Etwa eins zu achtzig stünden die Gewinnchancen zurzeit, in Polen einen Asylantrag stellen zu dürfen, sagt Fatima A.* Die Vierzigjährige trägt ein marineblaues Kopftuch und eine schwarz gerahmte Brille, in ihren ernsten Blick hat sich die Sorge um ihre fünf Kinder eingeschrieben. Neun Jahre ist Kerim, ihr Ältester, die Jüngste, Maria, ist gerade zwei geworden.

Während sich die Erwachsenen drängen, kauern die Kinder zwischen den kunstvoll geschnitzten Wartebänken, den hohen Marmorsäulen, unter stuckverzierter Decke. Kerim jagt Soldaten über den Bildschirm des Smartphones der Mutter, die zwei jüngeren Mädchen schlafen; die achtjährige Leyla bröselt Stücke von ihrem Käsesandwich auf ihr pinkes T-Shirt, auf dem «#Anyways» geschrieben steht. Abdullah, der Sechsjährige, steht neben Fatima A. am Schalter und fragt: «Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?»

Neunzig Tage Zeit

Es ist der zwölfte Morgen, an dem die Familie versucht, nach Terespol zu fahren, um dort einen Asylantrag stellen zu können; der zwölfte schon, an dem Abdullah fragt und die Frau am Schalter im gläsernen Kasten unfreundlich sagt: «Einmal sechs Personen, 48 Euro, Wagen drei; los, los, beeilen Sie sich, der Zug fährt gleich ab!»

«Das ist eine Tradition», sagt Fatima A. «Alle Tschetschenen bekommen Wagen drei.» «Refugee Transport» nennen sie den Waggon in Brest. Schon am Schalter werden die Flüchtlinge von den TouristInnen getrennt. Die wegen ihres Aussehens als muslimisch Taxierten von allen anderen. Die mit dunkler Hautfarbe von denen mit weisser. Die ohne Visum von denen mit. So haben es die GrenzschützerInnen in Polen später leichter zu entscheiden, wen sie ins Land und somit in die Europäische Union lassen und wen nicht. Bis zum Mittag werden die allermeisten Familien wieder zurück in Brest sein. Vermutlich wird auch an diesem Mittag eine Familie fehlen. GewinnerInnen, Auserwählte, Überlebende: In Brest gibt es viele Namen für jene, die von den polnischen GrenzschützerInnen ausgewählt werden, einen Asylantrag stellen zu dürfen.

An der Grenze zur EU Karte: WOZ

Wahrscheinlich ist das harte Vorgehen der polnischen Behörden einer der Gründe, warum in Westeuropa kaum jemand je von der tschetschenischen Flüchtlingskrise gehört hat, die sich seit fast vier Jahren an der Schwelle zu Polen abspielt. Die Krise wird einfach aus der EU ausgesperrt: Rund fünfzig geflüchtete Familien harren derzeit in Brest aus, schätzt die weissrussische Menschenrechtsorganisation Human Constanta, über das Jahr sind es mehrere Hundert. Die wenigsten schaffen es hinüber.

Neunzig Tage haben die TschetschenInnen Zeit, um Weissrussland in Richtung EU zu verlassen. So lange dürfen sich russische PassinhaberInnen ohne Visum in Weissrussland aufhalten – danach werden sie abgeschoben. Zurück nach Tschetschenien.

Zwischen den Welten

Am Stadtrand von Brest steht ein unscheinbares Haus, kein Rohbau mehr, aber aussen noch nicht verputzt. Drinnen riecht es nach Kartoffeln und Zwiebeln, nach Menschenschweiss und Urin, der zentimeterhoch auf dem Toilettenfussboden steht. Sechs Familien leben hier, 29  Menschen in sieben Zimmern.

Da ist Patima G., zwanzig Jahre alt, aus der tschetschenischen Provinz Dagestan, schwanger im fünften Monat, mit ihrem ebenso jungen Ehemann Michael, der schon frühmorgens eine Wodkafahne hat. Chalid D., der einmal LKWs gesteuert hat und heute aus einer Mischung aus Frust und Traurigkeit heraus die eigenen Kinder und die der MitbewohnerInnen schlägt. Adlan K., der 48  Jahre alt ist, aber wie Ende sechzig aussieht und es kaum schafft, sich vom Sofa zum Kettenrauchen auf den Innenhof zu schleppen, über den nachmittags die Kinder toben.

Und da ist Fatima A., die Mutter der tobenden Kinder, die immer wieder sagt, dass sie sich gar nicht vorstellen könne, dass das alles gerade wirklich passiert.

2013 sei sie schon einmal in Brest gewesen, erzählt sie, auf der Flucht nach Deutschland. Damals, ihre zwei jüngsten Kinder waren noch nicht geboren, hatte sie noch einen Mann, erzählt sie. Warum sie Tschetschenien damals verlassen hatte, will sie im Detail nicht erzählen – aus Angst, Menschen aus ihrer Heimatstadt würden sie in diesem Artikel wiedererkennen. Nur so viel: Sie und ihr Mann seien politisch aktiv gewesen. Und zwar nicht aufseiten des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow.

Fast fünf Jahre lebt Fatima A. ab 2013 mit ihrer Familie in einer kleinen Ortschaft in Baden-Württemberg in der Nähe des Städtchens Wehr, gleich hinter der Schweizer Grenze. Die zwei älteren Kinder gehen zur Schule, die jüngeren in den Kindergarten. Auch wenn ihr Deutsch noch brüchig ist, fühlt sich Fatima A. wohl. Über die Zeit damals sagt sie: «Man sagt ja: ‹Nirgends ist es besser als zu Hause.› Deutschland aber war besser.» Ihr Mann lebt da schon nicht mehr bei der Familie, ist abgehauen, nach Frankreich, glaubt Fatima A., sicher ist sie sich nicht. Sicher ist nur, dass sie allein ist – und eines Nachts im März 2018 um zwei Uhr früh eine Gruppe uniformierter Polizisten in ihrem Wohnzimmer steht. «Die Kinder weinten vor Angst, und ich dachte, es liegt ein Missverständnis vor und sie haben sich in der Adresse geirrt», erzählt Fatima A. «Wenn eine Person das Recht bricht, dann sollte man sie abschieben, aber wir hatten ja nichts getan.»

Die Polizisten irren sich nicht: Bereits zwei oder drei Wochen zuvor habe ihr die Ausländerbehörde einen Abschiebebescheid zugestellt, dem sie damals aber keine grosse Bedeutung zugemessen habe, sagt Fatima A. heute. Noch in derselben Nacht bringen die Polizisten die sechsköpfige Familie zum Flugzeug, das am Mittag des nächsten Tages in Moskau landet.

Fatima A.s Geschichte ist eine von Dutzend Fluchtgeschichten, die uns TschetschenInnen in Brest erzählen. Fast zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs lässt der tschetschenische Präsident Kadyrow Oppositionelle, Homosexuelle, radikale IslamistInnen und solche, die er dafür hält, verfolgen, einsperren und foltern. Andere flüchten davor, als Soldat in den Krieg in Syrien eingezogen zu werden – und viele Frauen aus einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft, in der Zwangs- und Kinderehen sowie Blutrache zum Alltag gehören.

Es sind Fluchtgeschichten, deren Ausgang auch dann noch völlig offen ist, wenn die Menschen die weissrussisch-polnische Grenzstadt Brest erreicht haben. Die BewohnerInnen des Hauses am Stadtrand, in dem Fatima A. lebt, versuchen, so selten, wie es nur geht, nach draussen zu gehen. Und wenn doch: hektische Blicke nach links, rechts, über die Schulter. Wann immer wir mit TschetschenInnen sprechen, wird zur Bedingung gemacht, dass wir keine echten Namen und keine Herkunftsorte nennen. Allgegenwärtig eine Angst, die grösser ist als die vor dem Urteil der GrenzschützerInnen in Polen: Angst vor den Kadyrowzy, den Mitgliedern der Sicherheitstruppe des tschetschenischen Präsidenten, die von RegierungsgegnerInnen für zahlreiche Fälle von Mord und Folter verantwortlich gemacht werden.

«Sie können jetzt sagen: ‹Der alte Mann ist paranoid› – oder Sie glauben mir», sagt Adlan K. Der 48-Jährige, der wie Ende sechzig aussieht, pafft eine Winston-Zigarette durch die Lücke im Gebiss, in der früher mal Schneidezähne steckten, bevor sie ihm von den Kadyrowzy im tschetschenischen Knast gezogen worden seien, wie er erzählt. Sie hätten ihn im Juli 2018 verhaftet, mit der Begründung, dass er Mitte der 2000er Jahre, als er als Flüchtling in Spanien lebte, einem ehemaligen Separatistenführer Obdach gewährt habe. Er konnte fliehen und sagt heute: «Kadyrows Männer sind überall. Auf der Strasse, in den Supermärkten, am Bahnhof, wenn wir abfahren und wenn wir wiederkommen. Es sind schon Menschen in Brest entführt und nach Tschetschenien verschleppt worden.»

Amnesty International hat im vergangenen Jahr die Fälle von zwei tschetschenischen Männern dokumentiert. Im Fall von Artur Aydamirow hat die NGO im Juli 2018 eine «Urgent Action»-Petition gestartet. Der 34-jährige ehemalige Polizist war mit seiner Ehefrau und den drei Kindern nach Brest geflohen, nachdem er erfahren hatte, dass er ins Militär eingezogen würde, um im Syrienkrieg für Russland zu kämpfen. Er verschwand am 8.  Juni 2018. AugenzeugInnen berichten, dass sie gesehen hätten, wie ihn vier Männer am Bahnhofschalter in Brest abgefangen, ihm Handschellen angelegt, ihn anschliessend in einen Van verfrachtet hätten und davongefahren seien. Seitdem fehlt von Artur Aydamirow jede Spur.

Aleksandra Fertlinska von Amnesty International in Polen sagt zu dem Fall: «Artur hat mit seiner Familie neunmal versucht, nach Polen zu kommen, neunmal wurde er abgewiesen, dann wurde er entführt. Meiner Einschätzung nach verstossen die polnischen Autoritäten klar gegen das Nichtzurückweisungsprinzip und bringen Flüchtlinge damit bewusst in Lebensgefahr.»

Aussage gegen Aussage

Jeden Morgen um 7.40 Uhr, eine Stunde Zeitverschiebung plus achtzehn Minuten nachdem sie in Brest in Wagen drei gestiegen sind, kommt der Zug mit den tschetschenischen Flüchtlingen in Polen an. Genauer: am Bahnhof in Terespol. Denn geht es nach den polnischen GrenzschützerInnen, beginnt Polen erst hinter der Grenzkontrolle.

Tag für Tag vollzieht sich hier ein über Jahre einstudiertes Ritual. Zuerst dürfen die Menschen aus Waggon eins und zwei den Zug verlassen – erst wenn all diese Passagiere abgefertigt sind, nach dreissig Minuten etwa, öffnen sich die Türen von Wagen drei, dem «Refugee Wagon». Dann drängen sich die Menschen durch den schlauchartigen Gang vor die Passkontrollhäuschen am Eingang der Wartehalle. Manche Male werden sie hier von den GrenzschützerInnen nach den Gründen befragt, warum sie nach Polen gekommen seien. In den meisten Fällen werden sie dazu aufgefordert, sich in der Ankunftshalle niederzulassen, um auf den Mittagszug zurück nach Weissrussland zu warten. Jeden Tag würde eine Familie, selten zwei, ausgewählt, der erlaubt wird, einen Asylantrag zu stellen.

«Das Vorgehen der polnischen Grenzpolizisten, das wir beobachten, ist illegal», sagt Viktoria Radchuk. Die 33-jährige Rechtsanwältin hat über ein Jahr für Human Constanta in Brest gearbeitet. «Es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention, die bestimmt, dass eine Person, die gewillt ist, Asyl zu beantragen, nicht an der Grenze abgewiesen werden darf.» In der Vergangenheit versuchte sie regelmässig, mit Beschwerdeschreiben an die polnischen Behörden den Flüchtlingen zu ihrem Recht zu verhelfen – zuletzt aber kaum noch mit Erfolg.

Seit kurz vor Weihnachten 2015 die rechtskonservative PiS die polnische Regierung übernahm, hat sich die Situation an der Grenze weiter verschlimmert. Aleksandra Chrzanowska arbeitet in der Association for Legal Intervention in Warschau, dem polnischen Pendant zu Human Constanta. Seit 2015 verfolgen sie das Vorgehen der polnischen GrenzschützerInnen in Terespol. «Seit dem Sommer 2016 haben wir nicht mehr erfolgreich interveniert», sagt Chrzanowska. «Das war der Zeitpunkt, als die PiS-Regierung ihre Arbeit richtig aufgenommen hat. Im Wahlkampf hatten sie gegen Flüchtlinge gehetzt – jetzt mussten sie zeigen, dass sie auch keine mehr ins Land lassen.»

Im August 2016 sagte der neue polnische Innenminister Mariusz Blaszczak in einem Interview, es gebe in Tschetschenien keinen Krieg mehr, daher sei der Weg über Weissrussland nach Polen lediglich eine neue Migrationsroute für MuslimInnen nach Westeuropa: «Solange ich Innenminister bin und Polen von Recht und Justiz regiert wird, werden wir Polen keiner terroristischen Bedrohung aussetzen.»

Die polnische Grenzpolizei weist alle Vorwürfe, illegal gegen Asylsuchende an der Grenze vorzugehen, zurück. Auf Anfrage schreibt der Sprecher des Kommandanten der Grenzschutzabteilung in Terespol: «Bei der Grenzkontrolle sind Ausländer verpflichtet, den Zweck der Einreise anzugeben. Wenn aus den vom Ausländer übermittelten Informationen ersichtlich wird, dass er internationalen Schutz sucht, darf er Polen betreten und einen Antrag auf Asyl stellen. Wenn die Erklärung des Ausländers jedoch zeigt, dass das Ziel der Einreise anders ist, etwa der Wunsch, in westeuropäische Länder zu reisen, Arbeitssuche oder andere wirtschaftliche Ziele, wird die Einreise verweigert.»

Tatsächlich berichten tschetschenische Asylsuchende in Brest immer wieder, dass die polnischen GrenzpolizistInnen sie (da für offizielle Asylinterviews nicht bevollmächtigt) informell gefragt hätten, ob sie Verwandte in Europa hätten oder beabsichtigten, irgendwann in der EU zu arbeiten. Für die NGOs in Polen und Weissrussland ist es derweil schwer, an entsprechendes Beweismaterial zu kommen, da unbeteiligte Beobachterinnen und selbst Anwälte bei den Kontrollen nicht dabei sein dürfen – aus «Datenschutzgründen», wie der Sprecher der Grenzpolizei schreibt.

Es steht Aussage gegen Aussage: Asylsuchende, die sagen, dass ihre Bitten um internationalen Schutz von den GrenzpolizistInnen ignoriert und abgewiesen würden – und GrenzpolizistInnen, die behaupten, es gebe diese Bitten gar nicht.

Zehn Mal Warten in der Halle

Zwei Tage später stehen wir selbst kurz vor 6 Uhr in der Bahnhofshalle und warten auf den Zug nach Brest. Fatima A. ist an diesem Morgen angespannt, die Sorgenfalten in ihrem Gesicht scheinen noch tiefer, die Augenringe noch dunkler als sonst. Am Vortag hat sie einen Brief der weissrussischen Ausländerbehörde bekommen, der sie auffordert, das Land innerhalb der nächsten zehn Tage zu verlassen. Zurück nach Tschetschenien. Sie will von nun an jeden Morgen den Zug nach Terespol nehmen.

Zehn Tage immer um 5 Uhr aufstehen, Tickets kaufen, und die uniformierte Frau am Schalter wird Mal für Mal unfreundlich sein. Zehn Mal Warten in der Halle mit den riesigen Marmorsäulen. Die Töchter werden wieder schlafen, Kerim wird virtuelle Soldaten über den Smartphonebildschirm jagen, zehn Mal wird Abdullah fragen: «Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?» Dann piepst es, die hohe, hölzerne Schwingtür zum Bahnsteig öffnet sich, die Schaffnerin von Wagen drei wünscht auf Russisch «Gute Fahrt und bis später!» – «Nix später, heute Mittag kommen wir nicht mehr zurück», schimpft Fatima A. auf Deutsch.

Achtzehn Minuten sitzt Fatima A. mit ihren Kindern auf den Pritschen der Bahn, die noch aus Sowjetzeiten stammt. Hinter den weissen Spitzengardinen verschwindet die burgähnliche Fassade des Zentralbahnhofs von Brest. Angespannt schweigen die Erwachsenen, gleichgültig quasseln die Kinder. Dreissig Minuten warten am Bahnhof in Terespol, bis sich die Türen von Wagen drei öffnen. Fatima A. sagt dem polnischen Grenzbeamten bei der Passkontrolle mehrmals auf Russisch, sie wolle in Polen Asyl beantragen. Die Beamten ignorieren das. Fatima A. wird noch mit dem Mittagszug zurückgeschickt. Nur eine in Ohnmacht gefallene schwangere Frau und ihren Mann haben sie dabehalten.

Inzwischen ist Fatima A. nach Tschetschenien zurückgekehrt. Ihr Neunzig-Tage-Aufenthalt für Weissrussland ist abgelaufen. Sie verstecke sich in einer Wohnung von Verwandten; die Kinder gingen nicht zur Schule – zu riskant, teilt sie über einen Messenger-Dienst mit. Über einen Bekannten habe sie erfahren, dass es Schlepper gebe, die einen für 4000 Euro pro Person von Weissrussland nach Deutschland brächten. 24 000 Euro für die ganze Familie, das könne sie sich nicht leisten. Deshalb werde sie bald zum dritten Mal mit ihren fünf Kindern nach Brest reisen, zum 30. Mal in den Zug nach Terespol steigen – und hoffen, dass die GrenzpolizistInnen ihr richtig zuhören. Nur ein einziges Mal.

* Alle Namen der tschetschenischen Geflüchteten geändert.