Antisemitismus in Deutschland: Der «Incel» aus Sachsen-Anhalt und sein antikes Vorbild

Nr. 42 –

Die Terrorattacke von Halle zeigt, in welche Schieflage die deutsche Debatte über Judenhass geraten ist.

Nicht der erste antisemitische Anschlag mit tödlichen Folgen in der Bundesrepublik. Blumen und Kerzen vor der Synagoge in Halle. Foto: Jens Schlüter, Getty

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, wie auch auf einen türkischen Imbiss ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik – obwohl dies keineswegs der erste antisemitische Anschlag in Deutschland mit tödlichen Folgen war. Schon in der frühen Bundesrepublik waren Hakenkreuzschmierereien nicht selten; am 9. November 1969 deponierten Mitglieder der linksradikalen Tupamaros eine Bombe im jüdischen Gemeindezentrum Westberlins, am 13. Februar 1970 starben sieben Mitglieder der jüdischen Gemeinde in München – es handelte sich um Holocaustüberlebende – bei einem Brandanschlag, und schliesslich wurden am 19. Dezember 1980 in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frida Poeschke aus antisemitischen Motiven kaltblütig erschossen.

Der Anschlag auf die hallesche Synagoge, der zwei Menschen das Leben kostete, markiert gleichwohl einen Wendepunkt, weil er symbolisch – der höchste jüdische Feiertag, eine Synagoge – geradezu übercodiert war: Bei einem solchen Ziel konnte es keinen Zweifel daran geben, dass es in erster Linie um JüdInnen und um das Judentum ging, unbeschadet des Umstands, dass der Täter auch homophob, islamophob und nicht zuletzt zutiefst frauenfeindlich eingestellt ist. In seinem Fall kommt zusammen, was meist immer zusammengehört: Hass auf selbstbewusste Frauen, auf Homosexuelle, Migrantinnen und Muslime sowie vernichtender Hass auf jüdische Menschen, die jüdische Religion und die jüdische Kultur. All das getrieben von der paranoiden Wahnidee, JüdInnen wollten die «weisse Rasse» durch Unterstützung von Homosexualität und Frauenrechten zum Aussterben bringen und durch Förderung von Immigration «umvolken».

Von Ephesos bis Christchurch

Kriminologisch und kriminalistisch liegen hier keine Rätsel vor: Nimmt man die Echokammern des Netzes hinzu – das haben inzwischen auch die deutschen Sicherheitsbehörden bis in die Bundesregierung hinein verstanden –, ist bekannt und geklärt, woher diese Mordlust kommt. In Halle, in Christchurch, in Oslo und Utoya sowie in Pittsburgh waren die Täter vereinsamte, weisse Männer in ihren Zwanzigern, die ihren Lebens- und Partnerschaftsmisserfolg als «involuntary celibataries», als «Incels», in eine Mordtat umwandeln wollten, um sich selbst zu spüren und von anderen überhaupt bemerkt zu werden. Es dürfte mehr als ein Zufall sein, dass in diesen Tagen in den Kinos der Film «Joker» mit Joaquin Phoenix, der von genau diesem Tätertyp handelt, angelaufen ist.

Täter dieser Art sind in der Geschichte der westlichen Kultur seit langem bekannt: In der Antike war dafür das Bild der «Herostratentat» geläufig. Dieser Ausdruck bezieht sich auf einen Mann namens Herostratos, der im 4. vorchristlichen Jahrhundert lebte; Herostratos setzte, um unsterblichen Ruhm zu erlangen, den damals 200 Jahre alten Tempel der Artemis in Ephesos in Brand und zerstörte ihn so. Der Schriftsteller Georg Heym (1887–1912) legte dem Griechen folgende Worte in den Mund: «Der Zeit gleich ewig ward ich, Herostrat. Noch gestern abend nur ein armer Mann, ein grosser Gott, da diese Nacht begann.» Und an anderer Stelle heisst es in dem Text:

«Nun würd ich sein / Ich würd erheben mich vom Staub der Zeit. / Ich, Herostrat von Ephesus genannt, / Ein armer Goldschmied, doch vom Ruhm gekrönt. / Und die Geschlechter, die der Schoss der Zeit / Zum Lichte häuft, sie werden meinen Namen / Mit Ehrfurcht nennen, wenn durch die Äonen / Er strahlt dem Sirius gleich.»

Ablenkung von der realen Gefahr

So ist die Tat von Halle mitsamt ihren tödlichen Folgen auch psychoanalytisch leicht zu erklären. Zugleich steht sie in eigentümlicher Weise quer zu dem in den vergangenen Jahren geführten Antisemitismusdiskurs in Deutschland. Vor dem Hintergrund derartiger Anschläge möchte ich daher die These zur Diskussion stellen, dass der in Deutschland unverhältnismässig intensiv geführte, bis in den Bundestag reichende Diskurs über den «israelbezogenen Antisemitismus», der sich in der Debatte um die «Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)»-Bewegung verdichtete, nicht nur an der Sache des Judenhasses vorbeigeht, sondern auch von der realen antisemitischen Gefahr systematisch ablenkt.

BDS polarisiert seit Jahren nicht nur, aber vor allem in Deutschland; die Kampagne will mit einem umfassenden Boykott Israels sowie einer möglichst weitgehenden internationalen Isolierung des Landes ein Ende der Besatzung palästinensischer Gebiete erzwingen. So werden beispielsweise auch prominente MusikerInnen dazu aufgefordert, nicht mehr in Israel aufzutreten. Die BDS-KritikerInnen halten dieses Vorgehen für antisemitisch, auch weil es an die «Kauft nicht bei Juden!»-Kampagne der Nazis erinnert.

Mit meiner These, dass diese Kritik von der realen antisemitischen Gefahr ablenkt, geht es mir nicht um die Annahme, dass sich irgendwer derlei ausgedacht hätte, um von anderem abzulenken, sondern um eine funktionalistische Hypothese: dass eine gut erklärbare Konjunktur – die Debatte um den «israelbezogenen Antisemitismus» – objektiv zur Ablenkung von der wirklich drohenden Gefahr geführt hat. Gewiss: Es gibt junge syrische Flüchtlinge, die Juden mit Kippa auf der Strasse attackieren; freilich mussten die Sicherheitsbehörden bis ins deutsche Bundesinnenministerium jetzt aber einräumen, dass die Anzahl rechtsextremistischer antisemitischer Gewalttaten deutlich höher war. Die Fokussierung in der Debatte auf den «importierten Antisemitismus» von muslimischer Seite, die von rechts forciert wurde, hat folglich ein verzerrtes Bild von der Realität hervorgerufen.

Die These, die «nach Halle» überdies zu diskutieren wäre, lautet: Die aufwendig geführte Debatte um BDS, die in Deutschland keine gesellschaftliche Relevanz aufweist, hat die objektive Funktion, vom realen, mörderischen Judenhass abzulenken. Keine gesellschaftliche Relevanz weist sie deswegen auf, weil sie die Wirkmächtigkeit einer lautstarken Splittergruppe überschätzt; darüber hinaus befeuert sie noch ein illiberales Klima – einen neuen «McCarthyismus».

Dies wurde durch den Bundestagsbeschluss vom 9. Mai verstärkt, in dem es hiess: «Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch. Die Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern zudem an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte».

Dieser Vorlage stimmten von insgesamt 709 Abgeordneten 495 Abgeordnete zu, während 62 mit Nein stimmten und sich der Rest (152) der Stimme enthielt. Diese nicht gerade überwältigende Mehrheit belegt, wie unwohl vielen ParlamentarierInnen bei dieser Abstimmung war.

Der Fall Walid Raad

Die Wirkmacht des neuen BDS-bezogenen «McCarthyismus» besteht darin, dass er sich wegen des darin enthaltenen Antisemitismusvorwurfs kaum ausweisen muss und er zudem eine kaum widerlegbare Strategie enthält: den Vorwurf der Kontaktschuld. So sollte jüngst einem libanesisch-US-amerikanischen Fotokünstler, Walid Raad, der Kulturpreis der Stadt Aachen nur deshalb aberkannt werden, weil er sich nicht von BDS distanziert habe. In einem kulturellen Milieu mit hoher Kommunikationsdichte ist so gut wie niemand vor diesem Vorwurf gefeit: Wer kennt nicht Leute, deren politische Ansichten er nicht teilt, mit denen er aber gleichwohl verkehrt?

Auf jeden Fall: Der Autor dieser Zeilen kann sich nicht daran erinnern, dass sich das deutsche Parlament jemals so ausführlich und explizit zum «normalen», jüdische Gräber schändenden, den Holocaust leugnenden, Jüdinnen und Juden mordenden Antisemitismus erklärt hat. Daher wäre jetzt – auch nur ein wenig Konsequenz vorausgesetzt – zu fordern, dass der Bundestag eine Debatte über den Antisemitismus im eigenen Land führt und danach eine mindestens so deutliche Resolution erlässt, wie das beim BDS-Beschluss vom 9. Mai der Fall war.

Micha Brumlik war bis 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung an der Universität Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 war er Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, eines Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte des Holocaust.